Ilse Aichinger: "Schnee" aus: Kleist, Moos, Fasane Ilse Aichinger
 
 

vergossen sagen sollte. Be, be, dieses eingesackte be, das mit dem Leiden eines Pudels schon kaum etwas zu tun hat, hat nicht viel weniger zu tun mit dem Fallen, mit dem Liegenbleiben des Schnees. Verschneit kann ein Dorf sein und auch ein Schulhaus, beschneit ist für mich nichts.
Ver, das nicht nur die zweite Silbe des Wortes Dover ist, geht auch auf got. fra zurück, so, wenn der Sinn eines Verschwindens oder Zugrundegehens vorliegt (Die Vorsilbe Ver und ihre Geschichte, Breslau 1907) - wie sollte es da nicht tausendmal mehr als alle anderen Vorsilben zum Schnee und seinem Schneien gehören? Wer Schnee in Etymologien sucht, findet ihn, je nach der Beschaffenheit seines Suchens, nach Bürgerschule und Heimsuchung, vor Vanille und Weitsicht, vor Wehr und Waffen, nach Meerschaum und Menschentum.
Solche Vergleichsmöglichkeiten haben wir. Mit Recht kann man sicher auch sagen, daß Regen in mehr als einer Beziehung vor Schnee kommt, aber ich verdächtige alles, was man mit Recht sagen kann, schon lange. Entweder kann man etwas sagen, oder man kann es nicht sagen. Wenn man etwas nicht sagen kann, setzt man geschwind voraus, daß man es mit Recht sagen kann. Und da man von allem, was gesagt wird, das meiste nicht sagen kann, nimmt diese Redensart zu. Reden kommt noch vor regnen in der äußerst merkwürdigen Reihenfolge, der wir uns ergeben haben. Es hat auch mehr damit zu tun als Regen mit Schnee. Und ich sage das nicht mit Recht. Reden und Regen gehen in der Regel zu weit und bewirken doch meistens nicht, worauf es ankommt. Wenn es zur Zeit der Sintflut geschneit und nicht geregnet hätte, hätte Noah seine selbstsüchtige Arche nichts geholfen. Und das ist nur ein Beispiel.

 
Ilse Aichinger
 
  Ilse Aichinger. Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt am Main: Fischer TBV, 1991, S.113 -114.  
 
 




Ilse Aichinger

Ilse Aichinger wurde 1921 mit ihrer Zwillingsschwester Helga als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines Lehrers geboren. Kindheit in Linz und Wien, dort war sie mit ihrer Mutter und den Verwandten mütterlicherseits der Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt. Ein Studium (Medizin) konnte sie aufgrund der Rassengesetze erst nach Kriegsende beginnen, brach es aber nach fünf Semester ab, um den Roman „Die größere Hoffnung“ zu Ende zu schreiben. 1953 Heirat mit dem Schriftsteller Günter Eich. 1954 Geburt des Sohnes Clemens, 1957 der Tochter Mirijam.