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] in welches man sich am Abend zuvor mit Sehnsucht, mit den weißen Krokussen (Knochen)
gelegt hat, denn die Nacht gleicht ja dem Ende des Lebens, werden wir sehnsuchtsvoll diesem Ende
entgegensehen, dieses Ende erwarten? Ich habe schon viele Menschen gekannt, die es nicht an sich
herankommen lassen wollten, die sich bis zur letzten
Minute dagegen gewehrt haben, mit allen Mitteln dagegen gesträubt haben,
und sich um keinen Preis hätten fallen lassen wollen, diese
Krokusgrabesstille erwartet mich jede Nacht und ich folge ihrem Rufen mit einer mir selbst
unverständlichen wohligen Willfährigkeit, Unterwerfung, es ruft und ich folge,
ich versinke in dieses gloriose Nichts des Träumens, Vergessens - also bin ich ein heruntergekommener
Mensch, in den Schlaf, in den Traum heruntergekommen: nur mit mir selbst beschäftigt, dem
täglichen Zapfenstreich zugewandt, und dergleichen.
Stummheit im Traume: eine gebräuchliche Darstellung des Todes,
ich war stumm geworden, das träumte mir, war es ein Fingerzeig?
MEIN BEDINGUNGSLOSER SURREALISMUS, sagt Dali, der Kastrationskomplex Dalis entspricht vermutlich
meiner Kastrationsangst, ich meine daß man mir Augen und Ohren, Nase und Mund, Haare und Nägel
beschneidet oder mir sonstwas abzapft, ich habe manchmal erschreckende Vorstellungen, ich leide ja
ständig daran oder ich leide es kaum mehr und lasse es nur noch in größeren
Zeitabständen und widerstrebend geschehen, daß mir Haare und Nägel geschnitten werden,
das heißt in dem Maße wie die Jahre vergehen.
Gestern fand ich alte Gesellschaft nämlich ein wunderbares Sagenbuch : Rosenaugen aus der Pfalz, aus Thüringen, Maria Schein,
Herren- und Meeresblut, Palmen .. in diese Glut, in diesen deinen mich so beglückenden Brief
hineinblasen!, vielleicht läßt sich da was Neues entfachen?, deine Neuigkeiten haben alles
belebt und ein Freudenfeuer der Phantasie veranstaltet .. da ist das Leben durch alle Ritzen des Hauses
gefahren .. auch verstehst du es vorzüglich, mich dazu anzuhalten, zwischen den Zeilen deiner Briefe
zu lesen, so bekomme ich immer ein Stück von deiner großen und kleinen Welt ab, du in
Amerika, ich in Wien. Es sind so Kettenreaktionen : nämlich die Männer, Neger, Verquickung der
Gefühle, Negresse in New York, usw.
Musikgewitter vor meinen Fenstern, Vienna.
Ich habe einem merkwürdigen Verlangen nachgegeben : ich habe dein Wohnhaus besucht, kleine
Windmühlen auf den Fliesen, ich habe dein Haus besucht, bin zu deiner Wohnungstür gegangen und habe
geklopft, obschon ich wußte du seiest weit weg - ich frage mich, ist das Streben nach
Verwirklichung einer allen zugänglichen Modernität etwas Utopisches?
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Friederike Mayröcker |
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Friederike Mayröcker |
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Füße komme, widersprüchlicher Zustand .. was alles ruft am Morgen
(einerseits), wie schwer die Glieder, der Kopf (andererseits) : Auswirkungen eines
Traumes, frage ich mich, warum erwarte ich mir zum Beispiel jeden Morgen vom
Eintreffen der Post etwas ganz und gar Umwälzendes, die glückliche
Hand, etwas, das meinem Leben neuen Antrieb, eine neue Richtung geben könnte,
ich erwarte mir irgendein Wunder, eine Verheißung, Offenbarung, grandiose
Enthüllung, REDEN ODER BRIEFE und dergleichen auf maigrünem Blatt;
tatsächlich ein Tropenhut im Fond eines Wagens, drei Blumenbukette in Farbstufen
nuanciert, blau weiß gelb, oder wie war das mit den Blumen, habe ich nicht
gesagt ich erinnere mich, daß du mir zutiefst DAS IST MEINE
BLUMENHANDLUNG - da kümmere dich du nur nicht darum; die Blumen, Blumenstöcke,
Triaden : blau weiß gelb auch Vater Mutter Kind, das Blumengefühl,
Blumenwohl, die Blumenkörbe in allen Nuancen von Licht und Wärme nicht
wahr, diese Blumenfülle auf seinem Sarg, ich spreche von FEDOR/VATER, falsche
Erinnerung, ich suche nach Gründen, realen Geschehnissen, in welchen M.S.
seine Schwächen offenbart hatte, in welchen M.S. sich nicht bewährt
hatte, um meine wiederaufkommenden Gefühle für ihn zu
schmälern, also daß seine Schwächen meinen wiederaufkommenden
Gefühlen entgegenwirken sollten; in ähnlicher Weise hatte Stella, kurz
nachdem Fedor gestorben war, ihr Verhalten zu beeinflussen versucht : sie hatte sich
immer von neuem seine Fehler, seine Schwächen, seine Lieblosigkeiten ins
Gedächtnis zurückgerufen, diese und jene folgenschwere Begebenheit in
ihrem gemeinsamen Leben, um über seinen Verlust leichter
hinwegzukommen : aber es wollte nur selten gelingen, immer wieder schoben sich
die Erinnerungen an glückliche Stunden dazwischen.
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Friederike Mayröcker |
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ER HEISST JETZT
FEDOR, ruft sie, ER IST JETZT OBEN BEI DEN ENGELN,
ruft sie, oder, gedankenverloren : SIEH DOCH, DIE
SCHÖNEN HOLUNDERBÄUME, DIE HOLLERWAND! :
aber es waren Fliederbäume, in einer Zeile, lila blühend, eine Naturkulisse,
gefiederte Wand die zwei
Grundstücke von einander trennte, aber auch ich
hatte in diesem Augenblick WAND auf der Zunge
gehabt, wieso eigentlich? waren wir schon so auf
einander eingestimmt? wie war das eigentlich mit
Stellas Gedächtnisschwäche, war ihr das Wort FLIEDER nicht eingefallen,
so daß sie HOLLER wählte? ein
Element zerebraler Natur - HOLLER/HOLUNDER das
lag ihr näher, während sie zu mir sprach, es könnte ja
sein wegen meiner ambivalenten Beziehung zu HOLLER/HOLUNDER : einerseits
gefällt mir seine in voller
Blüte stehende weiße Pracht, andererseits erzeugt
Geruch wie Geschmack seiner Blüten und Beeren
etwas wie Ekelgefühle in mir ..
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irgendwelches Zuckerwerk, für Stella, das ich verpacken wollte,
war von der Tischplatte geglitten, zu
Boden gefallen, hinters Sofa gerollt, so rückte ich mit
Besen und Schaufel an, ohne daß etwas zum Vorschein kam,
oder doch : eine welke Fliederblüte, ein
Druckknopf, eine staubverkrustete Waffel .. Liebe
für das Schmutzige, mein verfaulender Name zum
Beispiel, panikartig (blitzschnell) schießen die sonst
in allen Winkeln des Hauses lümmelnden (hingelümmelten)
Gedankenunwesen hervor und ich stehe mit
leeren, leergefegten Gesichtszügen da .. dies Lümmeldasein!,
diese unsere pulverisierte, auch zerstiebende Schmutzexistenz
oder was!, entspricht vermutlich dem ungerührten Stil den ich neuerdings pflege,
statisches Element, nur der Körper in einer Fallposition, völlig
verrenkt und gestaucht .. Progressivität
drückt sich ja nicht immer nur in der Form aus, es gibt
auch etwas wie inhaltliche Progressivität!, nur nicht
zu positiv arbeiten, so heißt das Programm, nur nicht
immer die allzu leichtgewichtige Hoffnung mit ins
Spiel bringen, usw.
Keine Karriere (Kalauer), nichts worin der Geist
wohnen wollte, da nimmt er lieber Reißaus angesichts
so vielen Stückwerks, Blendwerks, faulen Zaubers
und roher Materie : ich stehe im Wege : wenn ich
zum Beispiel mitten auf dem Bürgersteig stehen bleibe um etwas in mein
Notizheft zu schreiben, werde ich zur Seite geschoben, gestoßen, verlacht und
verhöhnt, in meinen Träumen, in meiner Wirklichkeit fühle ich mich
überzählig, ohne mich funktioniert alles viel besser, alle Welt kann mich
entbehren, jeder könnte auf mich und was ich tue verzichten. Wie weit weg alles
scheint, falsche Erinnerung; seltsames Phänomen, wenn du von meinem Besuch vor
zwei Jahren schreibst, wie weit weg das alles scheint!, manchmal habe ich sogar das
Gefühl, Jahr um Jahr mit neuen Lebensanfängen konfrontiert zu sein, immer
liegt alles, was nur drei oder fünf Jahre vergangen ist, so weit zurück!,
ist beinahe unerinnerbar geworden, ist vergessen, verloren, vertan und immer wieder
fängt alles neu an, mit jedem neuen
Jahr fängt das Leben
neu an, [
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Friederike Mayröcker |
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Friederike Mayröcker. Das Herzzerreißende der Dinge.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 76 - 81.
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Friederike Mayröcker
Friederike Mayröcker wurde 1924 in Wien geboren, seit 1946 arbeitete sie
als Englischlehrerin an Wiener Hauptschulen, seit 1969 lebt sie als freie
Schriftstellerin in Wien. Friederike Mayröcker begann mit 15 Jahren zu
schreiben. Erste Veröffentlichungen seit 1946. Seit 1954 Freundschaft und
Zusammenarbeit mit Ernst Jandl. Die Autorin einer bestimmten literarischen
Landschaft zuzuordnen ist nahezu unmöglich. Vielleicht werden die
Literaturhistoriker meine Art von Prosa als eine neue experimentelle Romanform
bezeichnen. (F. Mayröcker)
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