Myron Levoy: Kelly und ich. Arena 1994, S. 5 - 8
Ich lernte Kelly im Central Park kennen, und zwar an einem
dieser New Yorker Augusttage, wo eine Dose Limonade mehr
wert ist als ein Barren Gold. Ich sang, spielte Gitarre und
versuchte, den unendlich vielen Touristen ein bißchen Geld
aus der Tasche zu locken. Da ich mich in der Nähe vom Zoo
aufgebaut hatte, sang ich glückliche Lieder, Tierlieder,
wie Octopus' Garden oder mein eigenes Creepy Beasts. Wenn
ich jemals eine Band gründe, wäre das im übrigen gar kein so
übler Name.
Ich haute wirklich in die Saiten und sang wie verrückt, auch
wenn mit meiner Stimme nicht viel los ist. Wenn ihr Springsteen
und Dylan addiert, die Summe durch sechs teilt und mit dem
Krümelmonster multipliziert, dann liegt ihr richtig. Ich sang
also, zehn oder zwölf Leute standen herum, der Gitarrenkasten
war aufgeklappt für die Münzen, als dieses Mädchen fünf oder
sechs Bänke weiter zu singen anfing. Sie hatte sich quasi
direkt vor meiner Nasenspitze aufgebaut. Und, noch schlimmer –
sie hatte diese Wahnsinnsstimme. So eine Art
Joni Mitchell-Sound,
bloß ein winziges bißchen nasaler, ganz klar und rein.
Und laut. Perfekt für den Country-Rock, den sie gerade spielte.
Ich sah, daß einige meiner Leute den Kopf drehten.
Die hatte vielleicht Nerven! Nicht zu fassen! Ich warf einen Blick
zu ihr hinüber. Klein, kaum größer als einen Meter fünfzig,
langes, glattes Haar - Folksängerinnen-Haar - und ein Gesicht,
das mir gefiel. Große kluge Augen, genau mein Fall. Bloß war
ich momentan nicht in der Laune, sie zu bewundem. Wie konnte
sie es wagen, in mein Revier einzudringen? Immerhin gibt es
für derartige Dinge ungeschriebene Gesetze. Man baut sich doch
nicht in Hörweite eines anderen Performers auf. Niemals!
Klar, wir waren in New York, und es war August, und die Hitze
hier kann einen schon wahnsinnig machen, aber daß man einem
anderen Musiker derart auf die Pelle rückte, das war einfach
nicht drin.
Dabei war ich extra früher gekommen, um mir diesen Superplatz
zu sichern. Er lag an dem Weg, der zum Kleinkinderzoo führt
und zum eben erst wiedereröffneten normalen Zoo. Mein Stammplatz.
Aber da war sie und sang Ramblin´Man von den
guten alten Allman
Brothers.
Sie war höchstens vierzehn. Ich bin fünfzehn und einen Meter
neunundsiebzig groß, also wäre es für mich ein leichtes gewesen,
zu ihrer Bank zu schlendern, mich über sie zu beugen und
vielleicht ein paar gezielte Worte wie »Verdrück dich,
Schwester!« aus dem Mundwinkel zu zischen, so wie Humphrey
Bogart in den Spätfilmen, die sich meine Mutter immer anguckt.
Ich hätte sogar ihrer Gitarre mal 'nen kleinen Schubs geben
können oder so. Bloß. . . Bloß hab ich was gegen jedwede
Art von Gewalt, egal wie zahm sie auch sein mag. Gegen
Auseinandersetzungen ganz allgemein. Oder Wut. Innen drin
kann es bei mir durchaus brodeln wie verrückt, aber rauslassen
tu ich's nicht. Vielleicht habe ich von derartigen Dingen
bei meinen Eltern zuviel mitgekriegt. Lieber würde ich meinen
Platz hier aufgeben, als mich irgendwie brutal zu gebärden.
Fast hätte man es Angst nennen können, was ich ich spürte –
nicht vor dem Mädchen, sondern eher davor, was ich möglicherweise
tun würde, wenn ich mich gehen-ließe. Also beschränkte ich mich
darauf, lauter zu singen, um sie zu übertönen. Was nicht
funktionierte. Sie ließ sich nicht übertönen. Ihr Sopran
riß meinen Bariton in Fetzen. Ihre Stimme schnitt durch
die Sommerhitze wie ein kühler Laserstrahl. Gerade spazierten
drei oder vier von meinen Leuten zu ihrer Bank hinüber.
Aber an der Gitarre war sie ziemlich schwach. Nicht, daß ich
ein Eddie Van Halen gewesen wäre. Trotzdem hätte ich sie mit
Gitarrentönen umzingeln können, wenn ihre Hundert-Dezibel-Stimme
mir meinen Auftritt nicht vermasselt hätte. Okay. Alles klar.
ln Ordnung. Keine Aggressionen. Ich entschloß mich, einfach
in ihren Song mit einzusteigen. Wenn man den Feind nicht besiegen
kann, muß man sich auf seine Seite schlagen, hab ich recht?
Also hörte ich auf zu spielen und stimmte meine Gitarre, so gut
es ging, auf ihre ein. Dann legte ich mit Ramblin' Man los,
knallte in die Saiten und setzte meine Kreissägenstimme ein.
Und ja, sie sah her zu mir, ja, sie nickte, als hießße sie mich
an Bord willkommen. Sie kam ein paar Schritte näher, nickte noch
einmal, und dann sangen wir gemeinsam. Sie fand es super, das
konnte ich sehen. Sie kam näher und näher, brachte ihre Zuhörer
mit und sah mich unentwegt an, während sie im Takt den Kopf warf.
Wir entzündeten uns im wahrsten Sinne des Wortes aneinander,
ich fühlte mich richtiggehend vereint mit ihr durch die Musik
und die guten Vibrationen, und es war wie eine wirkliche Show.
Ihr Ultra-High, wenn man so sagen kann, war ansteckend. Als sie
aufhörte zu singen, improvisierte ich ein kompliziertes
Gitarrensolo, während sie ein bißchen auf der Stelle tanzte.
Ich muß sagen, wir waren wirklich ein tolles Team. Dann fing
sie wieder an zu singen, ich spielte leiser und begann mit dem
Fuß zu stampfen, denn jetzt brachten wir einen reinen Country-Beat.
Als sie nickte, legte ich wieder gewaltig los, und wir
brausten sozusagen mit dem Ramblin' Man über den Highway
bis zu einem wirklich soliden, superstarken Finish. Kawumm!
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