Walter Pilar

Spitzen

(In memoriam Herimann Eichelsinger)

Bevor noch unsere - von Nadlers Gnaden begattigte - Deutschlehrerin Antonita T. ihr so-gehaltvoll-wie-mögliches 1. Aufsatzthema des neuen Schuljahres gestellt hatte (sinngemäß: "Die schwere Rückkehr Thomas Manns aus seiner Donner-Somizil-Herborge an den herbstlich verbürgten Schreibtisch"), übertrumpften wir uns mit steigender Klassenreife/-zahl mit phantasmatischen Anekdoten hinter vor-(die Ohren)gehaltener Handflächen vom vergangenen Sommer. Den unvergeßlichen Erzähltrumpf lieferte einmal mehr H. E. als Protagonist. Er selbst erzählte nichts davon, sondern man kolportierte ihn nur, was natürlich die Wirkung steigerte.

Eines heißen Augusttags soll es gewesen sein, als H. im übervölkerten Freibad von B. G. aufgetaucht, und gleich wieder verschwunden war. Nach einiger Zeit wagten die anwesenden KlassenkollegInnen kaum zu schauen: da soll er mit eindeutig versteifter Badehose vor aller Frauen- & Männeraugen am Rande des Badebeckens auf-und-abstolziert sein.....

Zeichnung: Walter PilarUnd wenn ich heute Rimbaud lese oder Bilder von Arnulf Rainer oder Günter Brus sehe, muß ich sofort an ihn denken; vor allem an seinen Kuli-Kult, wenn er wie ein Besessener (wie auf Schübe hin), die 10-Uhr-Pausen durchzeichnete, um in der nächsten Unterrichtsstunde mit einer neuen Variation seiner Komik-Serien (z.B. automobile Pötschenpaßkatastrophen), oder mit dem selbsterfundenen Typ des Laienpriesters uns zu unterhalten. Sein Kugelschreiber haderte nur so über´s Papier, so, daß die Achsel- und Schamhaarballungen fast aus seinem Pultfach quollen, wenn er da mit grinsendem Hodengesicht und konzentrierten Stielaugen seine Genitalphysiologien und obszönen, von der Kanzel wixenden Priester aufs Papier ritzte, hintuschte.

In der 8. Klasse kam es zu weiteren Steigerungen seines, inzwischen sogenannten Laien-Bischof-Kultes, zu dessen süchtigen Adoranten sich einige von uns, die mehr in den hinteren Reihen saßen, schon entwickelt hatten. Als er nämlich ins 3-dimensionale damit ging, d.h. eigentlich ins 4-dimensionale, wenn man die motivierende Gefahr als emotionssteigernde Dimension bedenkt, die aus autoritär aufrechterhaltenen Tabus (verkörperlicht von gewissen ProfessorInnen) resultierte.

Sichtbar schuf er natürlich nur auf 3-dimensionaler Ebene: und zwar ent-stand/er-stand aus seinem Schülerpult ein bein-nahes Vivarium/Bestiarium von verschieden großen Tonstatuetten, womit er seine Laienbischöfe zu einer Art Homunkulus-Population ausdehnte, bzw. so eine Art Bischofs-Stadt (Laienpäpste und -Kardinäle eines Pultvatikans) züchtete. Die mit Zirkel eingeritzte Affenbehaarung erhöhte die Drastik der wollüstig verrenkten oder erigierenden, ja ansatzhaft onanierenden Figuren. So wurde es meistens - kaum überraschend bei diesen frontalen, faden, fachfaden Fachvorträgen - still in der Klasse, wenn H. den Pultdeckel lüftete, um seinen Augias-Stall, den - ihre Lachreize vor Schütteln unterdrückenden - Sitznachbarn vorzuführen. Er hob manche hervor, andere nur ein Eitzerl auf, gleichzeitig fielen welche dabei um. Daraufhin formierte er sie zu neuen Schlachtgruppen, oder er zerstörte - mit sichtlicher Lust - seine genialen Kleinschöpfungen/Statuetten.

Dies ging eine Zeit gut, bis ihm eines gefürchteten Religionsstündchens die-Stunde-schlug (wir hatten in diesem Fach einen sogenannt guten, aber strengen Professor). Dieser spätere Gymnasialdirektor dürfte schon seit längerem die geheimnisvollen Zugrinsereien in den hinteren Bänken bemerkt haben, als er -scheinbar sich abwendend- dadurch die ideale Erregungsminute des informellen Anarchismus für H. eröffnete. Gerade entfaltete H. eine gedoppelt schrille Bewegungsstudie eines Laien-Papstes, dem die Tiara nach hinten wegrutscht, als der Religionsprofessor -zum vorletzten Pult stürzend- ihm die Zeichung entriß und auf-der-Stelle von der Stelle des Geschehens hinauf zum Direktor raste: hinter seinem heiligen Zornsog H. herziehend. Statt Religion stand die Relegation im Raum. ....angstvolles Hin-und-Her, bis wieder der gutmütige Großvater in die Schule zitiert wurde.

Da H. (wahrscheinlich seinem gütigen Großvater zuliebe) nicht nur ein Vorzugsschüler, sondern sogar ein Auszeichnungsschüler war, drückte man doch wieder ein Auge zu und dieses hielt eine Weile seinen Schließmuskel: das offenbar in Geheimgesprächen abgerungene Anpaßungsversprechen vor dem Direktor wirkte. ....

Am letzten Schultag in der 8. Klasse mußten wir unsere Pulte räumen und gingen mit prallen Schultaschen zuerst den Sterzweg, dann den Wies- oder Grazerbühel abwärts, also den täglichen Fahrschülerweg Richtung Kreuzerbrücke bzw. Traunkai.... H. und ich schwelgten in grafischen Phantasmen, lachten hysterisch bei der Vorstellung von orgiastisch-pudernden Landschaften (also verkörperlichter Landschaftsgeschehnisse), erzählten uns aufgeilende Frauenwitze und andere Geschichten, für deren virulierende Protoimaginate wir damals kaum die richtigen Worte fanden (und sie daher zu zeichnen versuchten). Heute, wo ich die Worte finde, sind die Vorstellungen davon verblichen und blaß. ....

Vor der Front des Lebkuchenbäckers Kieneswenger: "Hem olli hu mia, Buama!, Hiena!, Meh-hen!, hem olle hu mia hu an Hiemeswenha Lebhuhen!" (Da der Vivarcellulist K. eine Hasenscharte hatte, hörte sich des Kieneswengers Spruch auf den Kirtagen des Salzkammerguts ungefähr so an.)

H. und ich flanierten nun vor den schönen Holzportalen der Lebkuchenhandlung vorbei....., es war ein üppig blühender Frühlingstag, der unmerklich für uns - aber vom vorsehenden Gott natürlich(st) intendiert - ausschlug mit Trieben und Knollen, Wurzeln und aufgluckernden Flußschnellen.... dazwischen das G´landa über den mächtigen, bemoosten Gesteinsblockmauern aus der Monarchie. Inzwischen waren wir vor´m romantischen, giebelverbrämten Weinhaus A. neben der Lehárvilla angelangt.

Die frischen Kastanienblattln stutzten im gleißenden Licht, als ich H. vom warmen Nachhilfelehrer H. B. erzählte und wir auch noch andere Tabus anrissen, in Feuersbrünsten schwelgten, ich meine beliebten ebenseer Dialektobszönismen, neueste Gstanzltexte und aufgebauschte Kleinskandale zum-Besten-gab, nur um gegen diese anpaßende Gymnasiumszeit aufzutrumpfen.....bis ich ihn schließlich frug, was er nach der Matura machen würde.

H. nahm wortlos seine abgegriffene Ledertasche, zeigte mir - noch einmal darin blätternd - seine Hefte, die durchgehend sehr-gut-Eintragungen (sei es in Mathematik, Latein, Physik oder Englisch) hatten und warf sie - "natürlich" hatte er sie vorher noch nach der Quere hin zerrissen - in weitem Bogen in die klar grünende Traun. -Da schwamm nun der Sukkus seiner 8 Jahre "Hilfsgymnasium"°) flußabwärts - je weiter, desto weißer.

Mit zunehmender Selbsterkenntnis und Enttäuschung über den nivellierend dahinflimmernden Kunst- & Literaturmarkt nahm ich mir vor, diesen Akt der Selbstzerstörung zu meinem Lebensimperativ zu machen. Am besten, ich hätte auch alle Texte und Bilder zu LEBENSSEE vernichtet. Vielleicht aus künstlerischer Eitelkeit trotzdem, nein vor allem zu seiner Ästimation möchte ich H. E., diesem seit drei Jahrzehnten (also unserem ersten Studienjahr 1967) verschollenen Früh-Genialen eines meiner konsequentesten Gedichte widmen:

Selbstzerstörung
als höchste Form der Formvollendung
jauchzt die Lilie mit dem Morgenstern
vor euch allen
hab´ ich jene Knute gern,
die den Flug der Vögel
über mannigfache Himmelsauen peitscht,,,,,,,,,,

°) Anmerkung: Das war die volksmündliche Bezeichnung dieses "Gymnasium des Vereins zur Förderung des Gymnasiums B. I." (Schulstempel).

Aus: LEBENSSEE, eine skurreale Entwicklungsromanesque, Ritter-Verlag, November ´96.

Biobibliographie:

*1948 in Ebensee.
Seit 1968 unzählige Lesungen, "Performances", Aktionen und Ausstellungen.

Einzelpublikationen:
Einbilder & Aussätze zur geistigen Umtagung, BMT 1981;
Klupperln & Düsenjäger, herbstpresse wien 1982;
Jederland, herbstpresse wien 1983;
An sanften Samstagen, herbstpresse wien 1986;
pOÖsie, Werkstatt-Druck U`berg 1988;
Der Mooswoche 7. & 8. Tag, Edition Mohs, Wien 1989;
AUGEN auf LINZ (mit H. Vorbach), Landesverlag Linz 1990;
Herausgeber von Lyrik aus Litauen, Kollektion Dieter Scherr, Wien 1992;
Eingelegte Kalkeier, Kollektion Scherr, Wien 1993.


November 96


wir lesen hören schauen linz