Marthe Ling

Paranoia-Feedback

Einige Sätze aus einer Kritik, die länger hätte werden müssen.
Lenny + Mace

00 - STRANGE DAYS

USA 1995, Regie: Kathryn Bigelow; Drehbuch: James Cameron, Jay Cocks; Kamera: Matthew F. Leonetti; Schnitt: Howard Smith; Musik: Graeme Revell + Deep Forest; Darsteller: Ralph Fiennes (Lenny Nero), Angela Basset (Lornette "Mace" Mason), Juliette Lewis (Faith Justin), Tom Sizemore (Max Peltier), Michael Wincott (Philo Gant), Vincent D'Onofrio (Burton Steckler), Glenn Plummer (Jeriko One), u.a.

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Die erste Einstellung von Strange Days nach den Titel-Credits läßt unweigerlich an einen der wichtigsten Science-Fiction Filme der letzten zwanzig Jahre denken: 1982 begann Ridley Scott's Blade Runner ebenfalls mit dem Bild eines Auges. Es füllte die Leinwand, blickte uns direkt an, ohne daß wir erkennen konnten, wessen Blick uns hier traf - es konnte auch das Auge Gottes sein, symbolisch wenigstens, und es war nicht möglich, sich diesem Blick zu entziehen - außer wenn man als ZuseherIn selbst die Augen schloß. In Strange Days geht es noch viel vordergründiger um das Sehen, das Gesehen-Werden, um das voyeuristische Beobachten, und diese erste Einstellung ist wie ein Auftakt: in diesem Film der einzige Augenblick, in dem eine Distanzierung noch leicht möglich ist. Denn alle ZuseherInnen, die den Trailer oder nur das Plakat zu diesem Film gesehen haben, wissen, wem dieses Auge gehört. Und es sieht uns nicht direkt an: wir beobachten Lenny Nero beim Sehen, wir sehen mit seinen Augen. Diese Subjektive(n) werden in den nächsten 140 Minuten eine Distanzierung schwer machen. Beim ersten Mal sehen war mir nicht gut.

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Die zweite Einstellung gehört bereits zu einem der vielen Filme im Film, den sogenannten SQUID-Clips. Drei Männer überfallen gemeinsam einen kleinen Laden. Als ZuseherInnen sitzen wir im Kopf eines Räubers, sehen durch seine Augen, hören seinen Herzschlag. Trotzdem sehen wir den Film nicht so wie Lenny: er fühlt auch die Angst dieses Räubers und wie diesem jagt es auch ihm das Adrenalin in die Blutgefäße, wenn es gilt, vor der anrückenden Polizei zu fliehen. Der Betrachter eines Clips kann all das nacherleben, was der Aufzeichner vorgelebt hat (SQUID = Superconducting Quantum Interference Device).
Damit sind die verschiedenen Ebenen eingeführt, auf die der Film immer wieder verweisen wird: Voyeure wohin man blickt - in letzter Instanz die ZuseherInnen, die beim Betrachten der Erfahrungs-Clips wieder nur auf die beiden Sinne verwiesen sind, mit denen sie jeden Film rezipieren: Sehen und Hören.

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Am Ende des ersten SQUID-Clips stürzt der Aufzeichner vier Stockwerke in den Tod - Filmriß. Lenny nimmt sich das Haarnetz ab, das ihm diesen Film in den Kopf gespielt hat. Es sieht aus, als wäre es etwas Lebendiges, als könnte es sich im Bruchteil einer Sekunde am Kopf des Trägers festkrallen und ihm das Gehirn heraussaugen. Wir hören von Lenny, wie er sich bei seinem Clip-Dealer beschwert: Er wird diesen Todesclip nicht verhökern. Ein letzter Rest von Ethik, der ihm schließlich das Leben retten wird.
Lenny Sowohl Lenny wie auch SQUID haben von der einen Seite des Gesetzes auf die andere gewechselt. SQUID wurde vom FBI zu Überwachungszwecken entwickelt. Es landete schließlich auf dem Schwarzmarkt - wie, das bleibt ungeklärt. Die Verbreitung sowohl der Hardware (ein Disk-Drive) als auch der Software (die Clips auf einer Art MiniCD) ist illegal und entsprechend teuer. Die Kunden werden abhängig und wollen immer mehr Clips sehen. SQUID hat also in Beschaffung, Distribution und Suchtgefährdung die Struktur von harten Drogen. Lenny Nero ist ein Ex-Cop, der wegen irgendeiner übermütigen Aktion im Dienst gefeuert worden ist. Jetzt dealt er mit Clips. Und er ist der Beste, der "Magic-Man", der "Weihnachtsmann des Unterbewußten".

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Der Dealer ist selber süchtig. Lenny ist ein Realitätsverweigerer höchsten Grades: Seine Freundin Faith ist längst seine Ex-Freundin, wenn er sich noch immer Clips reinzieht, die er beim gemeinsamen Roller-Bladen und den anschließenden Sex-Spielen aufgenommen hat. Als ZuseherInnen sehen wir nicht nur diese Clips sondern auch Lenny von außen, beim Betrachten derselben. Er hat einen fast infantilen Gesichtsausdruck, wenn er lacht über die Witze von damals und traurig vor sich hinjault, wenn die konservierte Erinnerung als solche erkennbar wird - beim Filmriß.
SQUID hat etwas gemeinsam mit einer Technologie, die in den letzten Jahren geboomt hat: die 3D-Bilder, das Magische Auge. Beides sind extrem solistische, isolationistische Vergnügen. Als Neben-dem-Betrachter Stehender bleibe ich von dessen Genuß völlig ausgeschlossen. Beim Magischen Auge darf ich die Realität, das ist das Muster- und Farbengewusel auf Hochglanzpapier, nicht genau ansehen, um das, was mit dieser Realität kodiert ist, erkennen zu können. Ich darf ein Bild nicht ansehen, wenn ich es sehen will. SQUID geht einen Schritt weiter: Beim Ansehen der Clips müssen die Augen weitestgehend geschlossen bleiben, weil man sonst alles doppelt sehen würde. Die Realität ist aus der Wahrnehmung verbannt, man braucht ihr nicht mehr ins Auge zu schauen.
Das kommt Lenny sehr recht. Er verlängert seine zerbrochene Beziehung einfach durch Wegschauen. Mace Seine Beschützerin Mace (Übrigens der schönste Spitzname, der einem für diese Figur hätte einfallen können: mace (engl.) kann sowohl Keule als auch Muskatblüte heißen.), die Abstand hält von den Clips, sagt einmal: "Erinnerungen verblassen, Lenny. Es gibt einen Grund, warum wir so geschaffen wurden." Erst beim finalen Kuß scheint er verstanden zu haben, daß sie seine wahre Freundin ist.

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Faith Bis dahin versucht er Faith (also auch: das Vertrauen) zurückzuerobern, die jetzt mit dem SQUID-süchtigen Label-Manager Philo Gant liiert ist. Lenny versucht immer wieder, an sie ranzukommen, was regelmäßig in einer Tracht Prügel endet. Nach einem ihrer Auftritte als P.J. Harvey Stand-In folgt er ihr in den Umkleideraum. In Anspielung auf seine SQUID-Besessenheit wirft sie ihm an den Kopf: "Weißt du, was das Tolle an den guten, alten Kinofilmen ist? Man weiß immer, wann es aus ist: die Schlußmusik läuft, das Licht geht an, Ende. ES IST AUS!!!"
Lenny verzieht sich daraufhin mit einer verlegenen Entschuldigung. Wir sehen ihn aus der Garderobe gehen. Und dann passiert zum erstenmal etwas völlig Unerwartetes: es geht nicht einfach die Handlung weiter, sondern es wird zurückgeschnitten auf Faith, die gestreßt einen tiefen Zug an ihrer Zigarette tut und gerade ein bißchen zu schnell ihren Kopf nach links und rechts dreht, als daß diese Bewegung Erleichterung ausdrücken könnte über das Loswerden von Lenny. Verzweifelte Angst steht in ihren Augen und wir können nicht wissen, was sie links und rechts unseres Bildausschnittes wahrnimmt oder zu sehen hofft.
Es gibt noch so einen Moment des ungeschützten Sehens. Am Ende des Films wird ein korrupter Cop, der bei seiner Verhaftung zur Waffe greift, von den ihn einkreisenden Spezialeinheiten erschossen. Für ein paar lange Slow-motion-Sekunden sehen wir das Gesicht eines dieser Schützen hinter einem großen Plexiglas-Visier. Seine Augen sind vor Schreck aufgerissen, sein Gesicht drückt die totale Erkenntnis aus: "Das war ja ein Mensch, den wir hier erschossen haben!"
Mehr solcher Irritationen hätten Strange Days gut getan. Letztlich ist es doch nur ein Hollywoodfilm, von dem ich alles, was ich wissen muß, zu sehen bekomme. Die Ambivalenz dieses Streifens könnte größer nicht sein: einerseits soll ein Diskurs über Sehen/Erinnern geführt werden, andererseits läßt das Drehbuch keine Löcher offen, durch die wir in einen Erkenntnisraum durchsehen könnten, der das Gezeigte transzendiert.
Lenny bezeichnet die SQUID-Clips einmal als "Ausschnitte aus dem Leben eines anderen, pur und ungeschnitten". Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich diese Sequenzen allerdings als sehr kalkulierte dramatische Effekte, die zum Teil sehr spekulativ sogar mit einem geschickt versteckten Soundtrack versehen sind, um sie nicht so langweilig und oberflächlich werden zu lassen wie ein Urlaubs-Video.

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Philo Gant ist ein Freak. Er will alles und jeden unter Kontrolle haben, läßt Menschen bewachen und beaufsichtigen. Paranoia ist nur Realität auf einer feineren Stufe, merkt er einmal sinngemäß an. Max Peltier, Lennys einziger vermeintlicher Kumpel, setzt noch einen drauf: "Die Frage ist doch heute nicht mehr, ob du paranoid bist. Die Frage ist: Bist du paranoid genug." Pikanterweise engagiert nun Philo zur Überwachung - er nennt es: Beschützung - von Faith ebendiesen Max. Sobald Lenny das erfährt, bittet er ihn, auch in seinem Sinne gut auf Faith aufzupassen. Beobachtung/Voyeurismus über eine dritte Person. Wieder eine Möglichkeit, die Realität nicht selber anzusehen.
Faith ihrerseits gibt später zu, daß ihr der Gedanke, beobachtet zu werden, Spaß macht. Neben der Paranoia gibt es also auch noch: Lust. Beides finden wir wieder auf einer ganz anderen Ebene. Die FilmemacherInnen in Hollywood haben immer große Lust, mit neuen Technologien herumzuspielen - vor und hinter der Kamera. Geschildert werden solche Neuentwicklungen aber fast zur Gänze als Bedrohung der humanen Integrität, wenn nicht der Menschheit überhaupt. Hollywood, das ist oft genug angemerkt worden, ist eine zutiefst reaktionäre Institution. Bei Filmen wie Strange Days erscheint dieser Reaktionismus allerdings in einem neuen Licht. Ich habe den Verdacht, er ist nur eine Konsequenz aus einer übersteigerten Paranoia; einer Angst davor, daß irgendein gesellschaftlicher oder technologischer Fortschritt die Hollywood-Maschine stoppen könnte; daß bewährte Muster und Klischees ihre Gültigkeit verlieren könnten. Und solche Filme sind die selbstreferenzielle Bestätigung dieser Paranoia.

07

"Bei allen Point-of-view-Sequenzen in Strange Days haben wir nach Methoden gesucht, sie so hinzubekommen, daß es aussieht, als wäre es genau so passiert. Das Bild sollte durch nichts verfremdet oder abgeändert werden und auf keinen Fall künstlich erzeugt bzw. allzu stark manipuliert wirken."
Soweit Regisseurin Kathryn Bigelow zum Realismus in den SQUID-Sequenzen. Die gute Frau hat einiges nicht bedacht: (Angst)Schweiß rinnt über die Brauen in die Augen; Tränen trüben den Blick; das Blickfeld wird ein wenig eingeengt, wenn sich beim Lachen die Haut um die Augen herum zusammenzieht. Blinzeln und Zwinkern scheint verboten in Hollywood. Warum erzählen die mir dann was über das Leben?


MÄRZ 96


wir lesen hören schauen linz