"Befreiung"?
War das, was im Frühjahr 1945 passierte, tatsächlich eine Befreiung?
Ich habe etwas gezögert, diese Frage an diesem Platz zu stellen. In
meiner Jugend, als ich also noch ganz jung war, und nicht wie jetzt nur
noch ein bisserl jung bin, mußte man in den linken Kreisen, in denen
ich mich damals schon herumtrieb, immer "Befreiung" sagen, den
wer etwas anderes sagte, war höchst verdächtig, kein/e Linke/r
zu sein, wenn nicht gar eine ausgewachsene reaktionäres Sau! Heute,
wo ich wie gesagt nur noch ein bisserl jung bin, trau ich mich, wenn auch
nur zögerlich, diese Frage zu stellen.
Wenn man sich nämlich ein wenig umhört, vor allem wenn man mit
älteren Semestern spricht, muß man zumindest eingestehen, daß
die 45er-Ereignisse nur in den seltensten Fällen als Befreiung empfunden
wurden. Noch heute sind eine ganze Reihe von anderen Begriffen in Verwendung,
wenn man mit den Leuten über ihre persönlichen Erlebnisse zu Kriegsende
spricht.
Da fällt mir als erstes die Bezeichnung "Zusammenbruch" ein.
Dieser Terminus ist, zumindest im Mühlviertel, ein oft verwendeter
Begriff. Er drückt wohl besser die Gefühlslage der damaligen Menschen
aus. Für viele Leute, Nazis, NSDAP-Mitglieder oder nicht, war es wirklich
ein Zusammenbruch. Für nicht wenige war nicht nur der Krieg verloren,
für sie brach auch eine Weltanschauung und das Bewußtsein, ein
Herrenmensch zu sein, in sich zusammen. Man mußte eingestehen, was
man solange verdrängte und nicht wahrhaben wollte: Die slawischen Untermenschen
und die degenerierten Amerikaner, Engländer und Franzosen waren zumindest
die besseren Feldherren und Soldaten.
Eine andere Bezeichnung für die Ereignisse, die ich immer wieder
höre, ist die des "Umbruchs". Dieser Begriff drückt
schon etwas mehr Distanz zu den Dingen aus. Ist wohl eher die Sicht eines
beobachtenden, sich nur sehr vorsichtig engagierenden Menschen. Eine Einstellung,
die durchaus auch ins Selbstbild der Österreicher paßt. Sich
lieber nicht zu sehr auf irgend etwas einlassen, wer weiß, wie lange
es gut geht, und der nächste "Umbruch" kommt bestimmt. Ein
Selbstbild, das zumindest in Sachen Nationalsozialismus keinerlei Berechtigung
hat. So wurden ca. 50% der Staatsverbrechen des Nationalsozialismus von
ÖsterreicherInnen begangen, obwohl ihr Bevölkerungsanteil im Deutschen
Reich nur etwa 10% betrug. Auch beim täglichen Schikanieren der für
Untermenschen erklärten, waren es die ÖsterreicherInnen, die den
"Volksgenossen im Altreich" noch einiges vormachen konnten. Der
Spruch der "Wiener Verhältnisse", zur Bezeichnung besonders
wüster und brutaler Zustände, wurde unter den SS-Leuten bald zum
geflügelten Wort. Oftmals mußte man von Berlin aus den "allzu
großen Eifer" der OstmärkerInnen einbremsen, da man befürchtete,
daß die OstmärkerInnen in ihrem Progromwahn bald vollends unregierbar
würden. Es gab immer wieder Anfragen aus dem Burgenland, weshalb man
die "Zigeuner" nicht einfach kastrieren dürfe. Oftmals mußten
in Berlin Gesetze beschlossen werden, um die Ereignisse in der Ostmark zu
rechtfertigen.
Ich könnte noch zahlreiche Beispiele folgen lassen, um zu belegen,
daß die OstmärkerInnen, wenn es um Menschenverfolgung, Plünderung,
Staatsterror, Massaker und Brandstiftung ging, sehr schnell eine besondere
Ausprägung ihrer weltweit so gelobten Gemütlichkeit ausbildeten.
Aber ich glaube, der geschätzten Leserschaft drängt sich bereits
- wie mir - die Frage auf: Konnte so ein Volk "befreit" werden,
und wollte es überhaupt "befreit" werden? Kann man ein Volk,
ein Land zwangsweise befreien?
NEIN! So ein Volk kann man nur zügeln, im Zaum halten und an
die Kandare nehmen. Man kann es fürs erste nur knechten, um es langsam
und mit Konsequenz zu einem einigermaßen "zivilisierten"
Verhalten zu erziehen. Befreien kann man es nicht; viele dieses Volkes haben
bereits das gemacht, was sie wollten, plündern, morden und brandschatzen,
sie waren bereits frei, frei sogar von allen Skrupeln und frei von jeder
menschlichen Regung.
Aber die Geschichte verläuft ja bekanntlich nicht linear, sondern hält
oft ungeahnte Wendungen parat.
So könnte es natürlich sein, das die OstmärkerInnen, angesichts
des ohnehin verlorenen Krieges und beschämt vom hohen Blutzoll, der
ihre "Befreiung" forderte, plötzlich zu demokratieliebenden
ÖsterreicherInnen mutierten, die fürderhin "alle Diktaturen
und Diktatoren hassen", wie es Fritz Muliar einmal für sich formulierte.
Wäre es nicht möglich, daß sich diese ÖsterreicherInnen
zumindest im Nachhinein ihrer Befreiung würdig erwiesen haben?
Denkbar ist es schon, aber leider nicht wahr.
Österreich hatte nie wirkliches Interesse an einer ehrlichen
Aufarbeitung seiner faschistischen Vergangenheit und an einer wirklichen
Entnazifizierung. Viel mehr Augenmerk richteten die einzelnen Parteienvertreter
auf das Buhlen um die Stimmen der sogenannten "Ehemaligen". Um
diese zu gewinnen, getraute sich keine Partei, einen ernsthaften Entnazifizierungsweg
einzuschlagen 1. Es bedurfte auch des massiven Drucks der
Alliierten, damit Österreich ein NS-Verbotsgesetz verabschiedete. In
diesem Klima des Verdrängens und Pardonierens der "Ehemaligen"
war es klar, daß die ersten Reorganisierungsversuche der, um Gottfried
Küssel zu zitieren, "bekennend deutschnationalen" Szene gestartet
wurden. Der erste spektakuläre Fall nationalsozialistischer Wiederbetätigung
ereignete sich bereits 1947 und ging als "Fall Soucek" in die
Geschichte ein. Der selbsternannte "Werwolf"-Führer Theodor
Soucek versuchte eine illegale Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
zu gründen. Nebenher betätigte sich Soucek auch als Fluchthelfer
für Nazi-Kriegsverbrecher. Soucek wurde nach dem NS-Verbotsgesetz 1949
zum Tod verurteilt. Dieses Urteil wurde kurz darauf auf dem Gnadenweg in
eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Nach drei Jahren wurde der Wegbereiter
des Neo-Nationalsozialismus amnestiert. Am "Fall Soucek" ist schön
abzulesen, wie schnell der angebliche Schock des Nationalsozialismus überwunden
wurde und wie rasch nationalsozialistische Wiederbetätigung in Österreich
zum "Kavaliersdelikt" heruntergespielt wurde.
Ein weiteres Beispiel, wie rasch man als Kriegsverbrecher wieder
zu Ehren und Ansehen gelangen konnte, ist Otto Skorzeny. Als SS-Standartenführer
kommandierte er in der sog. "Reichskristallnacht" die Zerstörung
von fünf Wiener Synagogen, nach zahlreichen weiteren grausigen Einsätzen
ließ er noch knapp vor Kriegsende das tschechische Dorf Weiler Plostina
dem Erdboden gleichmachen. Um sich vor Verfolgung zu schützen, flüchtete
er in das faschistische Franco-Spanien. 1951 eröffnete er dort eine
Import-Exportfirma. Wesentlich zum Florieren des Unternehmens trug der Umstand
bei, daß es die Generalrepräsentanz der verstaatlichten VÖEST
für die iberische Halbinsel und Lateinamerika innehatte. Zur gleichen
Zeit lief gegen Skorzeny in Österreich ein Halfbefehl wegen seiner
Kriegsverbrechen. 1958 wurden die Ermittlungen gegen ihn endgültig
eingestellt, und Skorzeny erhielt einen Österreichischen Paß.
Zwei Beispiele dafür, daß Österreich nie ernsthaft daran
dachte, gegen Nationalsozialisten und NS-Wiederbetätiger vorzugehen,
sondern diese bestenfalls mit dem Verbotsgesetzt ein bißchen belästigte.
Und wie sieht es heute aus? Auch heute müssen ehemalige KZ-Häftlinge
noch um ihre Anerkennung als NS-Opfer ringen, während ehemalige KZ-Aufseher
diese Zeit ebenfalls für ihre Pension angerechnet bekommen. Gerade
heute hat dieser Staat Ausländer- und Fremdengesetze, die dazu geeignet
sind, Menschen in den Tod zu schicken. Nein, nein, nicht mehr in unsere
eigenen Gaskammern, sondern, um nur ein Beispiel zu nennen, in die türkischen
Foltergefängnisse. Heute werden Angehörige von Minderheiten nicht
mehr systematisch kastriert, sondern (einstweilen noch) vereinzelt in die
Luft gesprengt.
1945, das war keine Befreiung, es war nur ein zögerndes auf-die-Finger-Klopfen
der Alliierten, das bei einigen ein schlechtes Gewissen erzeugt hat. Aber
auch dieses ist jetzt verflogen, hat sich im Lauf der Jahre verschlissen,
und es wird nun endlich Zeit, sich des alten Fetzens endgültig zu entledigen.
Jetzt kann sie wieder freier atmen, kann das alte Büßerhemd in
die Ecke schmeißen und sich langsam wieder zu ihrer vollen Pracht
entfalten - die österreichische Gemütlichkeit.
1 Und diese um die Altnazis buhlenden
Parteien wurden von 90% der ÖsterreicherInnen gewählt! - zurück