So schaut's aus
Marillenknödel und Anarchie
Ein großer Vorteil auf dem Land zu wohnen ist es, daß zu
den schönen Jahreszeiten, vor allem im Sommer, die städtischen
Freunde und Freundinnen zu dir kommen. Somit bist du es, der sich die Anreise
in überfüllten zugigen Zügen, auf staubigen Straßen
oder per schweißtreibender Radtour erspart.
Während sich deine FreundInnen noch abmühen, zu dir zu kommen,
kannst du dich noch in Ruhe auf das bevorstehenden Einfallen deiner Lieben
vorbereiten. Gemächlich werden die kostbaren Bildbände kindersicher
verstaut oder diverse Werkzeuge (am besten möglichst grobschlächtige)
effektvoll plaziert - wie zufällig liegengelassen, schließlich
bist du es, der am Land wohnt, das verpflichtet dich schon zu einem gewissen
herben Charme, und man will doch niemand enttäuschen.
Ich bin einer dieser (glücklichen) Landbewohner, die zur Sommerzeit
für ihre Selbstdarstellung über ein ganzes Haus, und zur Not auch
noch über einen knorrigen alten Nachbar verfügen können,
während die städtischen Besucher sich mit dem, was in ihren Rucksäcken
bzw. Kofferräumen Platz findet, begnügen müssen. Und alljährlich
rücken sie auch bei mir an, all jene, die einst auszogen, um den beschränkten
und dumpfen Provinzialismus hinter sich zu lassen. So auch heuer. Und wie
alle Jahre war zu erwarten, daß wir die Tage damit verplempern, uns
darauf zu einigen, was wir eigentlich jetzt miteinander anfangen sollen.
Die einen wollen baden gehen, allerdings nicht in die nahegelegenen Flüsse,
weil diese, sozusagen traditionell, saukalt sind, sondern lieber in zwar
etwas entferntere, aber dafür angenehm warme Seen.
Die anderen möchten ein wenig wandern, wenn sie nun schon einmal aufs
Land kommen - "Baden gehen! Also bitte - das hätten sie auch zuhause
machen können in weitaus großzügiger angelegten Badeanlagen
mit Beach-Volleyball-Feldern, Wasserrutschen und allem, also baden gehen
- ich bitte Euch - kommt überhaupt nicht in Frage." Wieder andere
meinen, daß sie jetzt endlich Urlaub haben und sich überhaupt
keinen Streß machen wollen, weder mit Baden noch mit Wandern, am besten
überhaupt nicht bewegen; außerdem sei es doch ganz nett hier.
"Wenn irgendwer einen Sonnenschirm aufstellt und ein paar Sessel holt,
können wir uns an diesen wirklich originellen und urigen Steintisch
setzen und ein wenig plaudern - immerhin haben wir uns ja ein ganzes Jahr
schon nicht gesehen."
Ein weiterer alljährlicher Grund für stundenlange
Diskussionen war bisher der Speisezettel. Da prallen wirklich Weltanschauungen
aufeinander. Bei dem, was ich mir da alljährlich mitmache,wundert es
mich, daß um diese Frage noch keine Kriege oder zumindest bewaffnete
Scharmützel entflammten. Die grundsätzlichen Differenzen zwischen
Vegetariern, Makrobioten, Trennkostlern, Fleischfressern, Bio-Freaks, degenerierten
Konsumkindern, die sich am liebsten nur von Fast-Food, Cola und Geschmacksverstärkern
ernähren möchten, meine ich da noch gar nicht, damit hat man das
ganze Jahr über zu tun, und hat damit leben gelernt. Die Erstellung
eines kollektiven Urlaubsspeiseplanes muß mit weitaus komplizierteren
Bedürfniskonstellationen fertig werden. Hier gilt es die verschiedensten
Interessenslagen unter einen Hut zu bekommen bzw. in einen Kochtopf zu bringen.
Bei den Streitereien, was man denn nun kollektiv als Urlaubsschmaus
auf den Tisch bringe, geht es nämlich nur vordergründig darum,
was die einzelnen Leute essen wollen. Der/die GastgeberIn will ihre Gäste
ordentlich bewirtet wissen, am besten sollen sie immer nur knapp an der
Gallenkolik vorbeigehen und auf jeden Fall pro Tag zwei Kilo zulegen; mancher
Gast wiederum will zeigen, welche Entdeckungen er draußen in der Welt
gemacht hat und ist gar nicht mehr aus der Küche herauszubekommen,
die er geschwind zum Brückenkopf für seine kulinarische Diktatur
umfunktioniert hat; andere wieder meinen partout, beim Essen ihren erlesenen
und weltgewandten Geschmack beweisen zu müssen, oder durch das ständige
Einfordern besonders gesunder Speisefolgen ihr Körperbewußtsein
oder überhaupt ihr eigentliches Sein als kritische Konsumenten zu manifestieren.
Aber für mich sind diese Streitereien ab heuer vorbei. Bisher
neigte ich nämlich entweder dazu, alles lang und breit diskutieren
zu lassen, um letztendlich einen schwindligen Kompromiß, mit dem alle
unglücklich sind, zu finden, oder mit dem Pochen auf meine Eingeborenenwürde
(wer ist schon gerne einE ImperialistIn) den Speiseplan einfach zu diktieren.
Da ich mich in letzter Zeit wieder verstärkt mit Organisationsformen
beschäftige, in denen ich politisch/kulturell/gesellschaftlich leben
und arbeiten möchte, habe ich mir überlegt, eine kleine Simulation
stattfinden zu lassen. Wir leben nämlich in einer Welt der Simulationen.
Alles was nur geht wird simuliert. ManagerInnen nehmen für einen Batzen
Geld an Planspielen teil und simulieren Entscheidungsfindungsprozesse. Auch
das kürzlich unterzeichnete Atomtest-Stopp-Abkommen ist nur möglich,
weil es jetzt endlich leistungsstarke Rechner gibt, die Atomtests auch umweltschonend
im Computer stattfinden lassen können. Dieser Atomteststopp ist nämlich
keineswegs ein Sieg irgendwelcher NGO' s oder gar ein Sieg der Vernunft,
sondern beruht auf der einfachen "betriebswirtschaftlichen" Tatsache,
daß Computersimulationen weitaus günstiger sind (beinahe zeitgleich
mit der Unterzeichnung des Moderatoriums beauftragten die USA den IBM-Konzern
mit der Entwicklung eines "Superrechners"). Natürlich gibt
es auch Ereignisse, die man nicht im vorherein simulieren kann, wie etwa
der Golfkrieg.. Hier wollten die westlichen Miltiärblöcke wissen,
wie solche Kriege führbar und gewinnbar sind. Der Golfkrieg war mehr
ein großangelegter Truppen- und Waffentest, die müssen auch manchmal
sein, um neue Parameter für die Simulationsprogramme zu ergründen.
Vor allem wollte "man" wissen, wie man durch Informationssperren
und bewußte Fehlinformation der Medien eine eigene, von den Invasionären
konstruierte "Wirklichkeit" schaffen kann, mit der dann die beabsichtigten
Manöver zu rechtfertigen sind 1).
Mir ging es bei meinem kleinen "und was essen wir heute"- Planspiel
aber nicht um Kriegsstrategien oder die Ausbreitung atomarer Wolken. Ich
wollte wissen, was passiert, wenn man die Leute einfach werkeln läßt,
ohne zeitraubende Besprechungen, ohne Beschlußfassung und vor allem:
kompromißlos. JedeN der/die einen Vorschlag hatte, was wir essen sollten,
bestärkte ich in seinen/ihren Absichten. "Ich hätte Lust
auf etwas Deftiges - was haltet ihr von gegrillten Schweinsmedaillons?"
- super, am besten Du fährst gleich einkaufen! "Eigentlich ist
gerade Marillensaison, und ich habe ein wunderbares Rezept für Marillenknödel
2) " - ausgezeichnet, die Küche gehört Dir! "He, es ist
Sommer, was wir brauchen ist Speiseeis. Eis in rauhen Mengen, wieder einmal
so richtig dekadent unsinniges Zeugs in uns hineinschlemmern" - wunderbar,
das ist Deine Unbekümmertheit für die ich dich so liebe, ich schaffe
gleich Platz im Tiefkühlfach. Alle waren sie glücklich! Vergessen
war die sommerliche Hitze, und es wurde fröhlich dahingewerkelt. Ich
für meinen Teil beschränkte mich darauf, mit den Kindern Grimassen
zu schneiden, und zu beobachten, was nun geschah.
Bisher war ich ja gewohnt, in ausdiskutierten Strukturen mit längerfristiger
Planung und abgestimmten Handlungsabläufen zu arbeiten. Sodaß
ich mich ständig zurückhalten mußte, um nicht geradezu reflexhaft
koordinierend einzugreifen.
Die drängende Frage für mich an diesem Abend war nicht so sehr,
was ich wohl zu essen bekommen werde, sondern vor allem, was ich als sturer
(Vulgär-)Marxist von diesen chaotisch-anarchistischen Entscheidungs-
und Organisationsstrukturen lernen kann, und inwieweit diese Küchensimulation
für meine organisationstheoretischen Überlegungen verwendbar seien.
Ich habe nämlich schon des längeren den Verdacht, daß ich
mir in der Frage: wie will ich mich organisieren (sowohl in meinem banalen
Leben, wie auch in meiner kulturellen/politischen/gesellschaftlichen Arbeit)
einiges aus anarchistischen Theorien entlehnen sollte.
Um es kurz zu machen: alle Speisen wurden (da unkoordiniert) gleichzeitig
fertig. So aßen wir Marillenknödel, gegrilltes Fleisch und Eis
durcheinander. Da alle Speisen für sich sehr liebevoll bereitet wurden
und von hoher Qualität waren, war die Speisefolge zwar ungewöhnlich,
dies tat aber dem kulinarischen Genuß kaum einen Abbruch.
Die Ausbeute für meine organisationstheoretischen Überlegungen
kann auch ganz kurz zusammengefaßt werden. Für solche sehr offene
und auf die Erfüllbarkeit möglichst vieler unterschiedlicher Interessen
bedachte Organisationsformen braucht man zwar einen Saumagen, aber wenn
man den hat, kann man sich aufs Köstlichste amüsieren.
1) Mittlerweile dürfte ja allgemein bekannt sein, daß jene Geschichte,
die die Weltöffentlichkeit erschütterte und mit der man die Invasion
in den Irak moralisch rechtfertigte, frei erfunden und von einer amerikanischen
Werbeagentur gemanagt war. Es handelte sich damals um die Behauptung (die
auch mit Filmmaterial und Augenzeugenaussagen belegt wurde), daß die
irakischen Soldaten in kuwaitischen Geburtenkliniken Säuglinge aus
den Brutkästen nehmen und auf den Boden werfen würden.
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2) Pro viertel Kilo Topfen nimmst Du ein Ei, 50 dag Butter, 50 dag Grieß,
50 dag Mehl (griffig wenn´s geht), ein wenig Salz und Semmelbrösel
in rauhen Mengen und Extrabutter zum Bröselanrösten.
Verrühr` den Topfen mit den Eiern, Grieß, Butter (die Du am besten
zergehen läßt), Mehl und dem Salz. Diese Masse läßt
Du eine gute halbe Stunde stehen, damit der Grieß quellen kann (die
Konsistenz kannst Du mit Mehl oder Milch den Knödelformerfordernissen
anpassen). Die Quellzeit des Topfens kannst du zur Sichtung und Auswahl
der Marillen, sowie zum Anrösten der Brösel nützen.. Wenn
Du lieber einen Joint rauchst, geh bitte aus der Küche, der Teig, so
fürchte ich, leidet unter dem Qualm.
Mach Dir die Hände naß, schlag die Marillen in den Teig ein und
forme formschöne Knödel. Diese schmeißt Du dann in das gesalzene
Knödelwasser, das leicht brodeln sollte. Nach etwa 10 Minuten bis einer
viertel Stunde sind die Knödel fertiggekocht. Nimm sie aus dem Wasser
und wälze sie in den angerösteten Bröseln. Die Knödel
mit viel Extrabrösel, Staubzucker und zerlassener Butter servieren.
Ich persönlich trinke gerne Milch dazu, aber das kann man halten wie
man will. An besagten Abend bekamen wir mit Puddingpulver gebundenes Kirschkompott
dazu - absolut barbarisch, aber schmackhaft.
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