Marcel Zendine

Die Katze im Hirn -
zärtlich und verstohlen

"In den gewundenen Falten der alten Hauptstädte, wo alles, selbst das Grauen, uns verzaubern kann, treibt es mich unwiderstehlich, wunderlich verhutzelten und verführerischen Wesen aufzulauern."

und jeder sucht sein KätzchenEs gibt diese Tage, da gehe ich aus dem Haus und in allen Gesichtern, die mir begegnen, sehe ich nur die Fratze, die im grauen Licht der Stadt ihr rosarotes Fett verstrahlt. Zu anderen Zeiten, ein anderes Ich: Staunen über die Vielfalt der Schönheit. Die Blicke der Entgegenkommenden aushalten. Nach einem Lächeln sich noch einmal umdrehen - im Weitergehen - und so den nächsten Schritt ins Nichtgesehene setzen.
Von Tagen, in denen jeder Schritt ein Abenteuer ist, weil er in einem kleinen Teil einer großen Stadt um die nächste Ecke führt, erzählt der neue Film von Cédric Klapisch "und jeder sucht sein Kätzchen". Die Gesichter werden nicht verherrlicht und die Stadt ist nie auf Hochglanz geputzt. Ein schmutziger Film im besten Sinn: Nicht der Schmutz einer schwülstigen Schmuddeligkeit oder der Dreck der Straße, durch den sich hunderte von Crime-Streifen gewühlt haben. Die Rede ist von der aschgrauen Leere der Wohnung, aus der man auszieht; von der blendenden Aggressivität der Wände des Waschsalons; von der Fadenscheinigkeit der Dekoration im Studio eines Modefotografen; von der Brüchigkeit einer Stadt, deren alte Gebäude zu Staub zerschlagen werden.

"Paris verändert sich! nichts aber hat in meiner Schwermut sich bewegt! neue Paläste, Gerüste, Steinblöcke, alte Vorstädte, alles wird mir zur Allegorie, und meine liebsten Erinnerungen lasten schwerer als Felsen."

Es ist ein Road-Movie ohne Auto. Alles ist da: Die junge Frau, die durch einen kleinen Anlaß zu einer großen Reise gezwungen und schließlich eine Initiation erlebt haben wird. Begleitende Männer und Frauen jeden Alters, die ihr zur Seite stehen. Hindernisse, Fallen, Sackgassen und Hoffnung.
Es ist ein Stück Jazz, unplugged. Chloé improvisiert sich durch ihr Leben, muß auf ständig sich ändernde Umstände, Antworten finden, die wiederum sie selbst verändern. Die Suche nach der Katze ist das Thema, das vielfach überlagert wird von Ereignissen, Einsprengseln des Schicksals, die die Banalität zur Sensation hin übersteigen. Ein Netz wird über einen Pariser Stadtteil gespannt, das am einen Ende wuchert, am anderen schon wieder schmilzt.

"In meinem Hirn geht, als wär es ihre Wohnung, eine schöne Katze spazieren, kraftvoll, sanft und reizend. Wenn sie miaut, hört man es kaum.
So zärtlich und verstohlen ist der Klang; ob aber ihre Stimme sich sänftigt oder grollt, stets tönt sie reich und tief. Das ist ihr Zauber und ihr Geheimnis."

Chloé fällt es schwer, sich von ihrer Katze zu trennen, als es an der Zeit ist, ans Meer zu fahren. Das schwarze Tier ist ein Teil von ihr, den herzugeben sie nur widerwillig bereit ist. Einen Gefährten verliert sie, als die Katze verschwindet und alle Sicherheiten brechen zusammen. An solchen Punkten haben wir die Wahl: Können wir das Vakuum nicht ertragen, ziehen wir uns auf die einzige Sicherheit zurück, die noch vorhanden ist: Das Ich mit seinen Gewohnheiten und wiederholbaren Mustern. Gelingt es aber, eine amor vacui zu entwickeln, tauchen Dinge auf, von denen wir keine Vorstellung hatten. Chloé, die Farblose, geht diesen zweiten Weg. Und gerade weil er mit Stolpersteinen ausgelegt ist, kann sie erkennen, daß zwei alte Damen aus ihrem Viertel sie an der Hand nehmen und führen. Immer offener wird sie, immer beweglicher. Gegen Ende wird sie selbst die Türe öffnen, die zu einem anderen Menschen führt; sie wird immer ungeduldiger die lähmenden Wartezeiten im Waschsalon ertragen; sie wird schließlich rennen - und nicht mehr verstohlen ist der Klang in ihr: Jubel steht in ihrem dann so schönen Gesicht.

"Sie ist der Hausgeist hier; sie richtet, herrscht, begeistet alle Dinge in ihrem Reich; vielleicht ist sie eine Fee, ist sie ein Gott."

Vor dem Schlußfurioso muß sie allerdings die Katze wiederfinden. Das gelingt nur, weil sie eine ganz einfache Tat setzt. Sie wärmt einer alten, kranken Frau, die sie liebgewonnen hat auf ihrer Odyssee, die Suppe auf. Sie kriecht da aus ihrem Ich heraus zum Du, das sie zu akzeptieren gelernt hat und kann dann - in einem ganz praktischen Sinn - Wärme in diese Beziehung bringen. In dem Augenblick, da sie das Neue als Selbstverständliches für sich gewonnen hat, wird sie wieder ganz: Sie findet ihre Katze. Und es stellt sich heraus, daß Chloé nie so weit von ihrem Hausgeist entfernt war, wie sie dachte. Offenbar aber waren all die Umwege notwendig, um das Ziel erst kennenzulernen.

"Ich sehe, wie eure neuen Leidenschaften zaghaft sich entfalten; ich lebe mit euch, ob sie düster oder hell sind, eure verlorenen Tage; mein Herz genießt vervielfacht alle eure Laster! meine Seele strahlt von allen euren Tugenden."

In knapp neunzig Minuten wird ein Mosaik gebaut, ohne daß es mit dem Film zu Ende kommt. Von der Figurenwelt, die wir liebgewonnen haben, in die wir endlos vordringen könnten, werden wir abgenabelt und jeder sucht sein Kätzchen.

Die Zitate stammen aus diversen Gedichten von Charles Baudelaire und sind bis Redaktionsschluß nur in der Phantasie des Autors dieses Artikels mit dem besprochenen Film verbunden.


JÄNNER 97


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