Engel der Einsamkeit
Luzy Vergerni-Ziendl
Der hillinger hat keine Kosten und Mühen gescheut. Wir sind nach Wien
gefahren. Wir haben Freunde getroffen. Wir haben uns "Fallen Angels"
angesehen. Den neuen Film von "Chungking Express"-Magier Wong
Kar-Wai. Außerdem haben wir uns diverse Leserbeschwerden sehr zu
Herzen genommen. Es gab Vorwürfe bezüglich der Filmseite. Man
könne sie nicht ohne Sekundärliteratur und Wörterbuch lesen.
Daher dieses Mal einige Gedanken in schlichten Sätzen. Für ein
hoffentlich dudenfreies Lesevergnügen.
Einsamkeit ist ein Thema von "Fallen Angels". Es gibt
noch andere. Aber über jene anderen wollen wir gerade nicht schreiben.
Einsame Menschen sind mit einer Lackschicht aus Kommunikationslosigkeit
überzogen. Daran leiden sie. Sie treffen andere Leidende. Was in Verständnis
sich ausdrücken könnte, wird die Unmöglichkeit der Nähe.
Poliert wird der Lack, nicht abgekratzt.
Am Ende des Films rasen ein Mann und eine Frau auf einem Motorrad durch
einen Tunnel. Die Lichter zittern über den Unebenheiten des Asphalts.
Die Frau klammert sich an den Mann. Der Mann konzentriert sich auf die
Straße. Es sieht ein wenig wie etwas Gemeinsames aus. Wie ein Verschweißen
der Körper durch die Geschwindigkeit der Fahrt. Aber man sitzt hintereinander.
Unmöglich, die Augen ineinander zu verhaken. Der Tunnel ist bis auf
dieses Fahrzeug leer. Die beiden sind gemeinsam einsam.
Die erste Einstellung des Films erzählt eine ähnliche Geschichte.
Eine Weitwinkelaufnahme von einer Frau im Vordergrund und einem Mann dahinter.
Verschwommen, aber im gleichen Bild. Es wird von 155 gemeinsamen Wochen
gesprochen. Und gefragt, ob man noch immer Partner sei. "Partner sein"
ist zweifach lesbar. Erstens: Partner einer Geschäftsbeziehung. Zweitens:
Partner einer zwischenmenschlichen Beziehung. Den Film hindurch wird immer
wieder das eine gesagt und das andere gedacht. Sind Mißverständnisse
die Folge oder die Ursache von Einsamkeit?
In jeder Beziehung kommt man an Punkte des Erkennens: Der andere / die
andere kann gar nicht verstehen, was man fühlt, denkt, sagt. Die existentielle
Grundeinsamkeit offenbart sich. Sie ist die Quelle von Mißverständnissen.
Schwerwiegende Kommunikationsprobleme führen manchmal zu einer Verunmöglichung
einer Partnerschaft. Ihre Folge ist das Alleinsein. Das Alleinsein aber
wirft uns auf unsere Einsamkeit noch stärker zurück.
Charlie Young ist auch ein gefallener Engel. Als er fünf war,
hat er eine Dose Ananasscheiben gegessen. Das Ablaufdatum war überschritten.
Seitdem spricht er nicht mehr. Er will sein eigener Boß sein. Deshalb
bricht er nachts in geschlossene Läden ein und bietet seine Dienste
zufällig vorbeikommenden Kunden an. Ohne zu sprechen. Oft eher rüde.
Handgreiflichkeiten sind auch eine Möglichkeit, mit jemandem in Kontakt
zu kommen. Das Abgewiesenwerden ruft bei Charlie Freude und Hartnäckigkeit
hervor. Es ist leichter ertragbar, abgewehrt zu werden, als gar keinen
zwischenmenschlichen Austausch zu haben. Abwehr ist immer noch eine Form
von Zuwendung. Und Zuwendung läßt uns die Illusion, der Einsamkeit
ein Schnippchen schlagen zu können.
Genau wie die Liebe. Oder was wir dafür halten. Charlie verliebt sich
zum ersten Mal. Aber auch die Liebe verhilft ihm nicht zur Sprache zurück.
Was sein Körper liebend ausdrücken will, spricht nicht so sehr
von Verliebtsein. Mehr noch von der Einsamkeit, die der Begegnung vorausging.
Was wir von der Liebe verlangen: Ist es das Vergessen der Einsamkeit? Von
Liebe wird in diesem Film wenig erzählt. Nur von ihrem Fehlen. Trotzdem
ist es ein romantischer Film. Aber das ist ein anderer Artikel
Charlie's Vater vermietet billige Zimmer. Er hat seinen Sohn gern.
Versucht ihn zu beschützen. Charlie borgt sich eine Videokamera aus
und filmt seinen Vater. Beim Kochen. Beim Zubettgehen. Beim Schlafen. Da
dringt er nah an seinen Körper. Die Kamera als Distanzhalter dazwischen.
Später stirbt der Vater. Charlie sitzt lange vor dem Fernseher und
sieht sich die aufgenommenen Bilder wieder und wieder an. Als wäre
der alte Mann dadurch noch einmal zu beleben. Die aufgezeichnete Erinnerung
kann zweierlei: einerseits täuscht sie über den Verlust hinweg.
Sie verwischt die Tatsache des Alleinseins. Andererseits ist sie ein Mahnmal
der Einsamkeit. Indem sie auf eine bessere Vergangenheit verweist, verdeutlicht
sie auch die schmerzhafte Gegenwart.
Für die gefallenen Engel ist Einsamkeit von Dauer. Selbst in
den wenigen Momenten des Glücks entkommen sie ihr nicht. Der Gegenpol
zur Einsamkeit wäre die Liebe. Und die ist ihnen verwehrt.
Wie aber, wenn die Einsamkeit selber ein Engel ist: "Schnee ist der
Engel der Einsamkeit. [] Wer sich einmal seiner Umarmung ergeben hat, kann
ihn nicht mehr missen. Unruhig wird er ohne ihn und schaut, sobald ihn
ein bunter Knall, ein lauter Blick, ein scharfer Windstoß trifft,
nach dem Linderer aus. Die ungeschützte Haut sehnt sich nach der weißen
Hand des Engels. Und der Engel der Einsamkeit enttäuscht keinen, der
ihn begehrt. Seine eisigen Schleier legt er ihm um die Schultern, bedeckt
ihn Schicht um Schicht, hüllt ihn in den wattigen Stoff, der Tarnung
und Wärme verspricht. Jeden Luftzug, jede Schallwelle saugt dieser
Mantel auf, bis unter seinem Gewicht jede Bewegung endlich erlahmt. Denn
er ist ein Schutzengel, ein Begleiter, verläßlich wie nur der
eigene Schatten, und die, die um ihn wissen, läßt der Engel
der Einsamkeit nie allein." 1
Die Menschen in "Fallen Angels" wissen nicht um den Schutzengel.
Es ist ihnen nicht möglich. Sie wissen auch nicht, daß sie gefallen
sind. Nicht: wo heraus. Nicht: wo hinein. Nur ihre Körper sprechen
von diesem Fall. Und davon, daß ihre Einsamkeit keine Bezugspunkte
kennt.
1 Dieckmann, Dorothea: Wie Engel erscheinen. Rotbuch Verlag.
Hamburg 1994.