Jeder Millimeter hat Sinn
Ein Gespräch mit Margarete Schütte Lihotzky
Eugenie Kain

Die Augen spielen nicht mehr mit, sonst würde sie wahrscheinlich noch bauen. Öffentliche Aufträge gäbe es jetzt. Sie wohnt mit Kater Schurli in einer funktionellen und gemütlichen Wohnung, hat bis jetzt die Pflanzen im Dachgarten selbst betreut und gepflegt, paßt beim Essen mit dem Zucker auf, weil sie noch sehr alt werden möchte und ist selbst das beste Beispiel ihres Grundsatzes: "Architektur hat mit Gesinnung und Weltanschauung zu tun".

Grete Schütte Lihotzky ist im Jänner 100 Jahre alt geworden. Anzumerken ist ihr das nicht. Sie ist vital und lebhaft am Welt - und am "Provinz" - Geschehen interessiert, empfängt, bewirtet und beantwortet alle Fragen geduldig und umfassend. Die vielen Interviews rund um den hundertsten Geburtstag waren schon ein bißchen anstrengend, aber ihr Ehrenfest im MAK (Museum für angewandte Kunst) war "locker und lustig". Ein Komitee, bestehend aus VertreterInnen jener Institutionen , in denen Grete Schütte Lihotzky gearbeitet hat, hat das Geburtstagsfest organisiert. So gab es unter anderem Gratulationen vom Künstlerhaus, von der KPÖ, vom Urania - Frauenkomitee und von jenem Brigittenauer Kindergarten, den Grete Schütte gebaut hat.

Schütte: Es müssen mehr als 860 Leute dagewesen sein. Denn als die Galerie im MAK auch noch voll war, haben sie sperren lassen. Gefreut hat mich, daß die Kommunisten und die Sozialisten zusammen waren. Es waren ja viele Sozialisten da: Der Scholten war da, der Vranitzky war da, der Bürgermeister Häupl war da, die Pasterk war da, stell' dir vor, die Heide Schmidt war da, der neue Stadtrat für Kultur von der ÖVP, Marboe, war auch da, sehr viele Architekten natürlich und sehr viele junge Leute, Architekturstudenten wahrscheinlich. Es war dunkel und ich seh' schlecht. Jedenfalls war es eine sehr schöne Sache,dieses Zusammengehen von Sozialisten und Kommunisten, sehr lustig und locker, gar nicht förmlich und gespreizt. Der Scholten hat sehr nett gesprochen. Er hat gesagt, daß es ihn besonders freut, daß seine letzte Aktivität als Minister die Gratulation zu meinem hundertsten Geburtstag ist und hat mir eine schöne Rose überreicht. Sehr schön war auch die Idee, die Fahnen der Länder zu flaggen, in denen ich gelebt habe. Da kommt nämlich eine Menge zusammen. Österreich, Deutschland - in Frankfurt 5 Jahre, Sowjetunion 7 Jahre, Frankreich 1 Jahr, die Türkei, die DDR und Kuba. Da muß man hundert Jahre alt werden...

Weil ein "Hunderter" eine nicht ganz alltägliche Sache ist, noch dazu der hundertste Geburtstag der ersten österreichischen Architektin, die weltweit zum Inbegriff für modernes und soziales Bauen wurde, kam kaum jemand umhin, die Jubilarin in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Gesamtheit heißt, auch auf ihre Arbeit im Widerstand einzugehen, die ihr um ein Haar den Kopf gekostet hätte und auf ihre Parteizugehörigkeit, die ihr rund 40 Jahre lang den verordneten Ausschluß von öffentlichen Aufträgen, also de facto Berufsverbot, einbrachte. Die LeserInnen der OberÖsterreichischen Nachrichten bekamen als Würdigung eine in diesem Zusammenhang sehr verkürzte und verzerrte Version zu Gesicht, Zitat OÖN vom 23.1.97: "Ihr sozialpolitisches Engagement, das sie eine Zeitlang mit der KPÖ verband, hätte in der Zeit des Kalten Krieges fast ihre berufliche Existenz beendet...." Kein Wort über Grete Schütte-Lihotzkys Kampf gegen das faschistische Regime und für das Wiedererstehen Österreichs. Diese "Zeitlang mit der KPÖ" währt übrigens bereits 58 Jahre.

Kain: Hast Du Verbindungen zu Linz?
Schütte: Als Kind war ich oft in Linz, in den Ferien. Mein Vater liebte langsame Schiffahrten vor allem bergauf, es dauerte eine Nacht und noch einen halben Tag und dann waren wir erst in Linz.
Aber wenn ich an Linz denke, denke ich an die Anni Haider.

Anni Haider wurde 1902 in Wien geboren, mußte mit 14 in die Fabrik, war mit 18 Betriebsrätin und verteidigte im Februar 34 mit dem Gewehr in der Hand den "Goethehof". Seit Herbst 1938 war sie am Aufbau illegaler KP - Gruppen beteiligt. Im Februar 1941 wurde sie verhaftet und bei den Verhören verletzt. Im Inquisitenspital organisierte sie gemeinsam mit den geistlichen Schwestern Verpflegung und Nachrichten für die politischen Gefangenen. Nach 1945 zog sie mit ihrem Mann nach Linz.

Schütte: Ich bin verhaftet worden und wie alle ins Polizeigefängnis, in die Liesl gekommen. Dort bin ich genau 3 Monate gesessen von 22. Jänner '41 bis 22. April '41. Erst nach drei Monaten bin ich überstellt worden. Das war eine Seltenheit, ich habe 3 Monate Verhöre gehabt, insgesamt 14 Gestapoverhöre. Das war außerordentlich viel. Manche Genossinnen haben nur ein oder zwei Verhöre gehabt. Und ich konnte ja eigentlich nichts aussagen über Österreich und über Österreich haben sie mich ja gar nichts gefragt. Deshalb haben sich die anderen Genossen viel mehr bei der Gestapo mitgemacht. Sie sind geprügelt worden, um Aussagen über die hiesige Organisation zu erreichen. Von mir wollten sie nur etwas über die Arbeit im Ausland wissen. Im Polizeigefängnis durfte ich nur mit Kriminellen zusammensein. Nach den drei Monaten bin ich von der Elisabethpromenade in die Schiffamtsgasse transportiert worden. In diesem Transporter habe ich die Anni Haider zum ersten Mal in meinem Leben gesehen. Dort sind wir auswaggoniert worden und jede ist in den 4. Stock in Einzelhaft gekommen. Wir waren 15 Frauen. Das waren sozusagen die Schweren. 2 Geschoße Männer und 2 Geschoße Frauen, durch die Klosettrohre konnten wir miteinander sprechen. Das Gefängnis war ums Eck gebaut, sodaß wir Augenkontakt hatten und uns in der Stummerlsprache unterhalten konnten. Ich bin in die Zelle gekommen, war noch erschrocken, weil ich gesehen habe, daß ich in der Zelle allein bin. Kaum fällt das Türl zu, ruft jemand: Neue, geh' ans Fenster. Man hat mir gesagt, ich soll den Hocker auf die Pritsche stellen und darauf noch ein Schemerl und wenn ich da hinaufsteige, kann ich mit den anderen sprechen. So habe ich schon während der ersten 10 Minuten das Gefühl gehabt, daß ich nicht allein bin. Ich erinnere mich. Ich habe einmal einen ganzen Vortrag über die Türkei in der Stummerlsprache gehalten. So habe ich die Anni Haider kennengelernt. Näher kennengelernt habe ich sie dann eineinhalb Jahre später. Ich war in meiner Zelle bis zur Verhandlung im September '42. Am 22. September sind wir dann zu sechst, der Erwin Puschmann, Franz Sebek, der Genosse Lisetz, Anna und Franz Haider wegen Vorbereitung zum Hochverrat vor dem 2. Senat des Volksgerichtshofes gestanden. Ich bin ein optischer Mensch, ich sehe alles bildlich, wir sind in zwei Reihen gestanden. Unsere Verhandlung war die längste, die im Landesgericht stattgefunden hat. Wir haben unser Schlußwort gehalten, der Staatsanwalt forderte das Todesurteil. Das Gericht hat sich dann lange zur Beratung zurückgezogen, Die Anni und ich sind während dieser Zeit mit dem Gerichtsdiener in eine Zelle gesperrt worden, ich bin auf der Bank gesessen, neben mir der Schupo, die Anni ist ganz aufgeregt auf und ab gegangen. Der Schupo hat zur Anni gesagt, "Sie kommen vielleicht mit dem Leben davon, aber Ihnen", er meinte mich, "glaubt doch kein Mensch."
Erwin Puschmann, Genosse Lisetz und Franz Sebek sind zum Tod verurteilt worden, Anni Haider und ich wurden zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, ihr Mann zu 13 Jahren. Für mich war es ein Wunder. Ich vermute, daß sie mich aus außenpolitischen Gründen nicht zum Tode verurteilen wollten. Die Türkei war damals noch neutral. Wir sind nach Bayern ins Zuchthaus Aichach überstellt worden. Die Anni war in sehr guter Verfassung, sie war äußerst lustig. Die Lustigen haben die Traurigen aufgeheitert. Wir waren in kleinen Coupes in normalen Waggons, nur die Fenster waren vergittert. Ich war mit der Anni Haider in einem Coupe. Die Anni hat Witze erzählt. Ich habe so ein blödes Hütchen gehabt. Ich bin doch als elegante Dame von der Türkei nach Wien gereist. Meine übrige Kleidung hat meine Schwester abgeholt, aber das Hütchen hat sie vergessen. Das war so ein feines Hütchen aus blauen Federn, ganz elegant. Mit diesem Hütchen haben wir die ganze Fahrt unseren Spaß gehabt, besonders die Anni, die hat das schief aufgesetzt. Wir haben versucht, die anderen Frauen aufzuheitern. Die Wilma Tessarek war traurig. Die hat sich dann das Leben genommen. Das war der einzige Selbstmord, den ich im Gefängnis erlebt habe. Sie hat lebenslänglich bekommen, weil sie im Keller einen Abziehapparat versteckt gehabt hat. Das war alles. Der Mann hat sie verlassen, der war im Feld. In Aichach hat sie sich erhängt. Das war zwei, drei Zellen weg von mir.
Ich hab' mich als protestantisch gemeldet und mußte deswegen am Sonntag nicht in die Kirche. Die Wilma hat gesagt, sie will nicht in die Kirche gehen. Ihre Zellengenossinnen wußten schon, daß sie sehr trübsinnig ist. In meiner Zelle habe ich auf einmal so einen plumpen Ton gehört. Ich habe mir gedacht, irgendwo ist etwas runtergefallen. Nach dem Gottesdienst war auf dem Gang dann großer Tumult: Die Wilma hat sich aufgehängt. Wir Politischen konnten uns in Aichach schwer verständigen. Höchstens beim Hofgang. Da mußte man Zelle für Zelle gehen. Da konnten wir uns höchstens durch Bauchreden mit den Frauen der Nachbarzellen unterhalten. Bauchreden kann ich heute noch. An diesen Transport erinnere ich mich noch gut, aber dann sind wir auseinandergerissen worden, in Einzelzellen. Die Anni war ziemlich weit weg von mir. Wir hatten eigentlich keine rechte Verbindung.
Am 29 April 1945 sind die Amerikaner gekommen und haben die Türln aufgesperrt. Aber wir sind erst am 19. Mai weg, weil es ja keine Verkehrsverbindungen gab, wir waren zu schwach, um zu Fuß zu gehen. Als wir dann eine Gelegenheit hatten, mit dem Auto zu fahren, sind die Anni und ich nach München gekommen. Das war eine herrliche Fahrt. Dort ist die Gegend sehr hübsch. Es war ein wunderbarer Mai und wir auf zwei offenen Lastautos. Seit Jahren bin ich zum ersten Mal nicht in einem vergitterten Transporter gesessen.
Bei mir ist dann die TBC wieder aufgeflackert und ich mußte zur Behandlung nach Hochzirl. Nach der Genesung versuchte ich von Innsbruck nach Wien zu kommen. Das war sehr kompliziert, es waren ja die Brücken zerstört. In Linz hat mir dann die Haider Anni weitergeholfen. In Steyr konnten wir nicht auf die russische Seite, weil die Amerikaner irgendwelche Papiere wollten, die wir nicht hatten. Also mußten wir zurück nach Linz. Dort hat uns die Anni Haider einzeln mit gefälschten Personalkarten in der Tramway von Linz nach Urfahr, von der amerikanischen in die russische Besatzungszone geschmuggelt. Dort gab es eine Anlaufstelle für befreite Gefangene und dort hat man uns zum Übernachten eine Wohnung zugewiesen. Es war eine große Wohnung und sie war vollkommen leer. An den blanken Fußboden kann ich mich noch genau erinnern und am nächsten Tag fuhren wir mit einem Lastwagen, vorbei an Mauthausen. Mit einer Zille setzten wir über die Donau, ab St. Valentin ging es mit dem Zug weiter. Für die Strecke Wien-Linz brauchte der Zug 24 Stunden.
Ich habe dann später einmal bei der Anni übernachtet, das war anläßlich eines Frauentages. Wir standen auch in Verbindung. Die Anni übersiedelte dann in ein Seniorenheim, glaube ich.

Kain: Ja, ins Hillinger - Heim.
Schütte: Also das sind so meine Verbindungen zu Linz.

Kain: Deinem Wunsch, Architektin zu werden, lagen ja nicht "frauenrechtlerische" Motive zu Grunde, sondern deine Begeisterung für Mathematik.
Schütte: Meine Motive waren vielschichtig. Da war die Faszination des Mathematischen. Ein jeder Millimeter hat Sinn, jeder Millimeter wird ins Dreidimensionale umgesetzt und hat Funktion. Dann war da der soziale Aspekt. Das Wohnhaus ist die realisierte Organisation unserer Lebensgewohnheiten. Und schließlich war dann noch der künstlerische Aspekt für mich ein Anspruch. Man zeichnet etwas, das wird dann umgesetzt und beeinflußt die tägliche Umgebung des Menschen, seine Sinne und Nerven sind ununterbrochen mit dieser Umgebung in Austausch. Darin sehe ich die künstlerische Herausforderung der Gestaltung.
Natürlich haben mir alle abgeraten, Architektin zu werden. Mein Lehrer Strnad, mein Vater und mein Großvater. Nicht weil sie reaktionär waren, sondern weil sie Angst gehabt haben, daß ich mit diesem Beruf verhungere. Es war ja damals nicht vorstellbar, sich von einer Frau ein Haus bauen zu lassen. Ich konnte es mir ja selbst nicht vorstellen. Mein Vater hat gefragt: "Wo wirst du denn arbeiten?" Und ich habe gesagt: "Ich werde halt in irgendeinem Büro Pläne bearbeiten." Daß mich jemand Häuser bauen läßt, konnte ich mir damals selber nicht vorstellen. Bei meinen ersten Preisen und Auszeichnungen wurde immer die Rationalität meiner Entwürfe gelobt. Auch das hat man einer Frau nicht zugetraut.

Kain: Dir ist es ja auch nicht ganz recht, wenn du ausschließlich mit der "Frankfurter Küche" in Verbindung gebracht wirst.
Schütte: Schau, ich bin eine alte Systematikerin. Die Frankfurter Küche war Teil eines ganz neuen Wohnbauprogramms in Frankfurt. Da ging es um Rationalisierung von Bauprozessen und damit verbunden um Normierung von Bauteilen. Auch Bereiche der Wohnungsaustattung sollten rationell gestaltet werden.

Margarete Schütte-Lihotzky arbeitete in der Typisierungsabteilung des Hochbauamtes und entwickelte dort eine arbeitssparende Einbauküche, die der Frau die Doppelbelastung erleichtern und die Isolation von der übrigen Familie während der Küchenarbeit aufheben sollte. Außerdem entwarf sie in Frankfurt eine Zentralwäscherei für eine Siedlung, Kindergärten, oder die "Wohnung für die berufstätige Frau", die darauf ausgerichtet war, der Frau möglichst viel Hausarbeit durch zentrale Dienstleistungseinrichtungen und durch funktionale Ausstattung der Wohnung zu ersparen und zu erleichtern.

Schütte: "Die Frankfurter Küche" war ursprünglich ein Werbeslogan von Baustadtrat May, der für unser ganzes Wohnprogramm stand.

Kain: Die Küche ist bis ins kleinste Detail durchdacht. Die Arbeitswege hast du mit der Stoppuhr abgemessen und die Farbe Blau für die Lackierung der Schränke hast du deshalb gewählt, weil du von Farbpsychologen der Universität Frankfurt erfahren hast, daß intensives Blau von Fliegen besonders gemieden wird.
Schütte: Ja , so ist das.

Kain: In der Sowjetunion warst du dann für Kinder- und Jugendeinrichtungen zuständig.
Schütte: Die Arbeit in der Sowjetunion war eine ungeheure Aufgabe. Wir sind im Rahmen des 1. Fünfjahresplanes eingeladen worden, am Aufbau mitzuhelfen. Da gab es die verschiedenen Klimazonen, die verschiedenen Kulturen, die mangelnden Transportwege und die jeweiligen Baumaterialien bei der Planung zu berücksichtigen. In Magnitogorsk zum Beispiel haben wir eine Stadt für rund 200 000 Einwohner, also so viele wie in Linz, entworfen. Ich habe die Kindereinrichtungen entworfen. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Ankunft in Magnitogorsk. Ich bin mit dem Zug von Moskau 5 Tage und 5 Nächte hingefahren auf diese Riesenbaustelle und habe "meinen" Kindergarten gesucht. Das war nicht leicht. Der Polier sprach nur kirgisisch. Gebaut wurde der Kindergarten von jungen kirgisischen Frauen. Die hatten alle so viele lange Zöpfchen. Die waren die Maurerinnen. Man hat mir erzählt, daß die vor einigen Monaten noch in der Steppe nomadisiert sind. Die hat man dann im Maurerberuf angelernt und dann haben sie den Kindergarten gebaut.
In der Sowjetunion habe ich später auch Kindermöbel entworfen. Das war ein Privatauftrag und ganz etwas neues. Kindergerechte Möbel, nicht für öffentliche Einrichtungen, sondern für daheim. In diesem Zusammenhang bin ich sogar einmal mit Chruschtschow zusammengekommen. Ich habe die Pläne entworfen, es war ein gutbezahlter Auftrag, aber es gab keine Chance, daß die Möbel in Produktion gingen. Die Leiterin eines Freizeitparkes hat mir dann geraten, doch einmal beim Stadtparteileiter, das war damals Chruschtschow, vorzusprechen. Ich bin also hin mit meinen Plänen, habe alles erklärt, er hat gesagt, das ist ja sehr interessant, sie werden sich das überlegen. Ich war nicht sehr optimistisch nach diesem Gespräch. Aber einige Tage später hat eine Tischlerei angerufen, sie sei interessiert, Prototypen herzustellen. Ich weiß noch, da waren mit bunten Bändern bespannte Kinderstühlchen dabei. Ich habe die Bänder besorgt und bin dann mit so einem Stühlchen in der Metro gefahren. Und ununterbrochen haben mich die Leute angesprochen, wo es solche Möbel zu kaufen gibt. Ob die Möbel dann wirklich in Produktion gegangen sind, weiß ich nicht.

Von der Sowjetunion reiste Schütte-Lihotzky mit ihrem Mann zuerst nach Frankreich. Weil es dem Ehepaar dort nicht gelang, sich eine Existenz aufzubauen, übersiedelte es in die Türkei. Die Architektin arbeitete dort für das türkische Unterrichtsministerium und plante unter anderem Frauenschulen für Anatolien. In der Türkei schloß sie sich dem österreichischen Widerstand an und wurde 1939 Mitglied der Kommunistischen Partei. Von der sicheren Türkei reiste sie 1941 nach Österreich, um den Kontakt zu den im Untergrund arbeitenden WiderstandskämpferInnen herzustellen. Durch Verrat eines Spitzels flog die Gruppe auf. Margarete Schütte-Lihotzky und ihre GenossInnen wurden verhaftet. Sie überlebte als einzige ihrer Widerstandsgruppe. "Oft fragen mich verschiedenste Leute, warum ich aus dem sicheren Ausland nach Wien gefahren bin. Immer wieder empört mich diese Frage, immer wieder bin ich entsetzt über die mir so fremde Welt, in der diese Frage überhaupt eine Frage ist."

Kain: Verfolgst du das Entstehen der "Stadt der Frauen" in Transdanubien, der Wohnsiedlung, die ausschließlich von Architektinnen geplant worden ist und weiblichen Wohnbedürfnissen Rechnung tragen wird?
Schütte: Ja natürlich. Da sollte ich ja zuerst bei der Planung mittun. Aber mit meinen Augen geht das nicht mehr. Also war ich in der Jury. Das sind ganz interessante Entwürfe. Ich bin schon gespannt auf die Umsetzung. Ich werde mir das sicher in nächster Zeit einmal anschauen. Die Wohnungen sollen ja bereits im September bezogen werden können. Das interessiert mich sehr. Hier sind ja hervorragende Architektinnen am Werk.


Literaturempfehlungen:
Zu Schütte-Lihotzky: "Erinnerungen aus dem Widerstand", Wien, Promedia 1994, 218 Schilling
"Soziale Architektur. Zeitzeugin eines Jahrhunderts." Ausstellungskatalog, Wien 1993
Zu Anni Haider und Frauen im Widerstand: "Der Himmel ist blau. Kann sein. Frauen im Widerstand Österreich 1938 - 1945", Promedia, Wien 1985


April 97
wir lesen hören schauen linz