DANIEL PICOULY

Fängt ja gut an, das Leben!
(Le champ de personne)
Paris/1995, Carl Hanser-Verlag, 374 Seiten
Bewertung: ****


coverDaniel Picouly wurde 1948 in Villemomble als elftes von dreizehn Kindern eines Flugzeugschlossers von den Antillen und einer französischen Mutter geboren. Als Schüler ein Faulenzer, träumte er davon, Box- und Fußballweltmeister zu werden; tatsächlich wurde er Lehrer an einem Pariser Gymnasium. Er veröffentlichte in Frankreich zwei Kriminalromane und ein Kinderbuch und wurde mit dem vorliegenden Roman über Nacht weltberühmt.

DIE SCHATZINSEL DER GLÜCKSELIGKEIT
Picouly hat ein Hybrid geschaffen, aus kindlicher Naivität und ausgereiftem Sprachschatz - ganz so, als ob das die natürlichste Sache der Welt wäre.
Er ist zehn und ein "Milchkaffee" - die Mischung eines Vaters aus Martinique und einer französischen Mutter, die schon dreizehn Kinder in die Welt gesetzt hat. Eine Schnorrer-Familie in einer schnoddrigen Vorstadt. Sie manipulieren ihren Gaszähler, klauen Autos nach der Größe der Fahrgastzelle und fackeln sich einfach das Haus über ihren Köpfen ab, wenn es Zores gibt. "Ein Kurzschluß war das. Denk dran, wenn der Herr von der Versicherung dich fragt: ein Kurzschluß!" Immer wieder guckt die M´am ihrem Sprößling bei der Schreiberei über die Schulter. Sie verbietet ihm, Schimpfwörter zu gebrauchen und am liebsten würde sie wahrscheinlich die Parts rausstreichen, die der lesenden Öffentlichkeit verborgen bleiben sollten.
Er ist der letzte Mohikaner. In die Schule sprengt er auf dem Rücken seines feurigen Blanco, eine Staubwolke hinter sich herziehend. Die Narbe auf dem Rücken seines P´pa läßt ihn auf eine Tiger-Pranke schließen. Und wenn die Engelmacherin wieder mal zu Besuch ist, hat er eine genaue Vorstellung davon, wie die Engel aussehen, die da gemacht werden. Außerdem geht er, wie jedes Kind, dem Sammeltrieb nach: er sammelt interessante Wörter, seltsame Überschriften aus der Zeitung, Camembert-Etiketten und sein größter Schatz sind die historischen Spielfiguren aus den Mokarex-Kaffeepackerln. Mit Geschichten, die er sich zu den Figuren ausdenkt, besticht er seine nervigen Schwestern. Und für seinen fetten, lakritzesüchtigen Banknachbar Bonbec klettert er auf die Schulmauer und überbringt Liebesbotschaften an die Flache mit der Zahnspange. Aber das eigentliche Leben findet auf dem Niemandsfeld statt, einer Fußballwiese, die von den Kids der Gegend untertunnelt wurde. Dort begräbt er auch seinen Schatz - um fortzuziehen und eines Tages zurückzukehren und das Niemandsfeld zu kaufen.
Nichts ist so banal, wie es scheint. Ob es um den ständig verbrannten Kirschauflauf der M´am geht, um die gescheiterten Erfindungen des P´pa, oder die Machtkämpfe in der Schule, immer schwingt eine rosabebrillte Glückseligkeit mit, die nur einem Kind vorbehalten ist.
Picouly schildert mit einem Einfühlungsvermögen, wie es nur die Franzosen zustandebringen. Er lebt die Figur, er ist sie. Und tatsächlich plaudert da das Kind in ihm aus seinem Leben. Picouly muß sich gefühlt haben, wie der Gefangene in E.W.Heines "Nur wer träumt ist frei". Was ihm an materieller Freiheit abgeht, ersetzt er durch phantasievolle Abschweifungen vom Alltag. Und diese Gabe hat es ihm ermöglicht, einen Roman zu schreiben, der nicht zu unrecht monatelang an der Spitze der Bestsellerliste stand.
Très bien, Daniel!

Astrid Bartsch


mai97

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