KATE ATKINSON

Familienalbum
(Behind the Scenes at the Museum)
London/1995, Diana Verlag, 413 Seiten
Bewertung: ***


Kate Atkinson, 1951 in York geboren, lebte lange in Schottland und wohnt heute mit ihren beiden Töchtern in Whitby, Yorkshire. Bereits mit ihren Kurzgeschichten gewann sie zahlreiche Preise. Für ihren Erstlingsroman "Familienalbum" wurde sie 1996 in London mit dem angesehenen Whitbread Award ausgezeichnet.
CHRONIK EINES ANGEKÜNDIGTEN SCHICKSALS
Atkinson rührt unser Jahrhundert - wie eine Haubenköchin.
Wem ist es schon vergönnt, bei seiner Zeugung live dabeizusein? Ruby kann sich glücklich schätzen. Ihr wird nicht nur ihre Geburt offenbart, sondern auch das Schicksal all ihrer weiblichen Vorfahren - angefangen bei ihrer Urgroßmutter Alice. Die stummen Zeitzeugen sind von einer Generation zur nächsten gewandert. Und so komprimieren sich hundert Jahre Geschichte in einem Foto, das 1888 von der schwangeren Alice geschossen und von Ruby schließlich ausgemottet wird. Die Frauenchronik, die dazwischen liegt, blättert Ruby wie ein Familienalbum auf. Es ist eine Chronik an unerfüllten Träumen und Sehnsüchten, an Flucht in die Ehe und aus ihr.
Alice läßt sich vom Fotografen Jean-Paul Armand einlullen und verschwindet mit ihm. Zurück bleiben ihre sieben Kinder dem Schicksal überlassen. Nell, die jüngste Tochter, sucht verzweifelt nach dem "Richtigen", um der väterlichen Trunksucht und der stiefmütterlichen Haßliebe zu entkommen. Nach zwei gescheiterten Versuchen geht sie eine Vernunftehe ein, wobei sich die Vernunft dieser Ehe bestreiten läßt. Ihre Tochter Bunty verstaubt mit einem Zoohandlungsbetreiber und frischt sich mit diversen Liaisons wieder auf. Eine ihrer drei Töchter ist Ruby, die Erzählerin, das unscheinbarste und anpassungsfähigste Kind, aber auch das einzige, das schlußendlich in diesem Reigen übrigbleibt.
"Familienalbum" spielt alle Stücke einer Sitcom-Serie. Kinderreichtum wechselt mit tragischen Todesfällen , Geborgenheit kämpft gegen Eifersucht und Egoismus, aber niemals reißt die Situationskomik ab. Die Meilenstiefel-Schritte quer durch die Geschichte spucken den Leser einmal mitten im zweiten Weltkrieg aus, dann in den Siebzigern und wieder zurück ins 19. Jahrhundert. Atkinson hat verabsäumt, diese Sprünge durch sprachliche und stimmungsbetonte Schwankungen leichter nachvollziehbar zu machen. Und so entstehen leider zu jedem Kapitelbeginn Jetlag-Probleme. Abgesehen davon legt uns Atkinson mit "Familienalbum" eine Sozialstudie vor, die jede Leserin mit der Faust auf den Tisch schlagen läßt.

Astrid Bartsch


mai97

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