Seit 1867 garantiert das von der Ersten und Zweiten Republik übernommene Staatsgrundgesetz "über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" die Grund- und Freiheitsrechte österreichischer Staatsangehöriger. Darunter fallen: der Gleichheitsgrundsatz, die freie Berufswahl und Vermögensbildung, die Unverletzlichkeit des Eigentums, freier Aufenthalt und Wohnsitz, die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit des Hausrechtes, die Unverletzbarkeit des Brief- und Fernmeldegeheimnisses, das Petitions- und Versammlungsrecht, die Meinungs- und Pressefreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Wissenschaft und seit dem 12. Mai 1982 auch die Freiheit der Kunst.
Seit 30. Oktober 1918 ist durch den Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung "jede Zensur als dem Grundrecht der Staatsbürger widersprechend als rechtsungültig aufgehoben". Weitere Grundrechtsgarantien für die Kunst bestehen unter anderem in den verschiedenen "Landes-Kulturförderungsgesetzen", im "Bundes-Kunstförderungsgesetz" von 1988 und im österreichischen "Rundfunkgesetz" von 1984. Zu keinem Zeitpunkt in der österreichischen Geschichte war die Kunst, ihre Ausübung, Vermittlung und Lehre freier und zugleich abgesicherter. Und zu keinem Zeitpunkt wird deutlicher, daß diese gesetzlichen Grundlagen nur als Voraussetzung einer permanenten Auseinandersetzung über das Ausmaß ihrer Freiheit und vor allem der Begrenzung persönlicher und künstlerischer Rechte dienen.
Findet die "eine" Zensur nicht statt ("Eine Zensur findet nicht statt." Bundesdeutsches Grundgesetz), findet sich rasch eine andere. Ist "jede Zensur als dem Grundrecht der Staatsbürger widersprechend als rechtsungültig aufgehoben" (Österreichische Bundesverfassung"), herrscht umso größerer Bedarf an Mitwirkung bei trotzdem möglichen Verboten: "Wer immer von einer strafbaren Handlung (auch für den Versuch), die von Amts wegen zu verfolgen ist, Kenntnis erlangt, ist berechtigt, sie anzuzeigen." (Strafprozeßanordnung)
Exemplarisch für im Prinzip demokratische Gesetze, dem Kontext bzw. ihrer Auslegung nach aber nur umständlicher und aufwendiger zustandekommende Zensur, sind es vor allem Schutzbestimmungen, die die fast unterscheidunglose Fortsetzung solcher Verbote wie der des "Liebeskonzils" 1895 in Deutschland und 1985 in Österreich ermöglichen. Schon der "Tatversuchszeitraum" von der Bestellung bis zur Programmankündigung eines Films reicht aus, um die gerichtliche Beschlagnahme vor einer Aufführung zu bewirken. Schon ein einzelner "durchschnittlich religiös empfindender" anonym bleibender Angehöriger einer Religionsgemeinschaft oder Kirche ist genug, um einem freiwillig durch den Besuch eines Theaters oder Kinos auf sich genommenen "berechtigten Ärgernis" in einem Strafverfahren Raum und Geltung und dem dazugehörigen Theater oder Kino Spielverbote oder die Beschlagnahme zu verschaffen.
Von der persönlichen Beleidigung bis hin zu übler Nachrede, gefährlicher Drohung, Herabwürdigung, Nötigung und der Kredit- und Ansehensschädigung von Kirchen, Staatsvertretern und -symbolen, Militäreinrichtungen, Ämtern und Behörden reicht die Skala der Verfahren, die in den letzten 13 Jahren Filme, Bilder, Zeitungen und Zeitschriften, Bücher vorübergehend oder auf Dauer der Öffentlichkeit entzogen haben.
An die Stelle von Zensur sind Schutzbestimmungen, Ermessensspielräume,
Abwägungen, Finanzierungsfragen oder freiwillige Selbstkontrollen
getreten, an die Stelle der Zensorgen die "besorgten" oder "empörten"
Staatsbürger und Staatsbürgerinnen. Was Herbert Achternbuschs
"Gespenst" oder Werner Schroeters "Liebeskonzil"-Verfilmung
nicht zeigen, sondern Filmen wie "Lustschreie hinter Klostermauern"
vorbehalten bleibt, soll folgerichtig auch von niemandem gesehen werden:
beide Filme sind in Österreich seit 1983 bzw. 1985 verboten.
Ob nun ein "Joseph
Christus" (Anklageschrift im Verfahren gegen "Das Gespenst")
vor Blasphemie geschützt werden soll oder einem Politiker (Gerichtsbeschluß
gegen ein Plakat des Klagenfurter Verlags "Ritter"), an dem "ungeachtet,
ob nur Tatsachen veröffentlicht werden, immer etwas hängen bleibt,
was zu einer Rufschädigung führen kann" *, Schutz geboten
werden muß, so originell oder erfinderisch Staatsanwälte oder
Richter formulieren und begründen, so wenig einfallsreich stellt sich
das Sanktionsausmaß für die mit Kunstwerken begehbaren Delikte
heraus. Von Geldbußen bis zu einjährigen Haftstrafen reichen
die Verurteilungen für selbst harmloseste Vergehen, und ohne eine
einzige Einspruchsmöglichkeit wäre es auf Grund der derzeitigen
Gesetzeslage möglich, für die angekündigte "Ordnung
in den Redaktionsstuben" oder die "Einführung einer missio
canonica" (Berichtsbefugnis für Journalisten oder Publizisten
in Glaubensfragen) eines Jörg Haider oder Kurt Krenn "zu sorgen".
Wie untauglich sich das 1981 zum schnellen Zugriff auf Massenmedien
im Fall von Massenmedienrufmorden reformierte Mediengesetz herausgestellt
hat, so wenig dadurch die nicht im offiziellen Handel erhältliche
Wiederbetätigungsliteratur unterbunden werden kann, so effektiv und
"föderalistisch" hat sich die Beschlagnahmeregelung des
Mediengesetzes für alle Verbreitungsformen von Kunst und Literatur
erwiesen, um beispielweise Schroeters Panizza-Verfilmung nach eineinhalb
Jahren Aufführungen in Graz und Wien 1985 in Innsbruck für ganz
Österreich zu verbieten oder Herbert Achternbuschs "Gespenst"
nach der Filmbeschlagnahme in Graz wegen "identischer Wiedergabe"
der als "pornographisch" inkriminierten Bilder durch eine Beschlagnahme
in Linz auch in der Buchfassung aus dem Verkehr zu ziehen. Daß keines
dieser Bilder irgendjemand unbekleidet oder in einer körperlichen
Nähe zu jemand anderem zeigt, daß diesen Bildern der zwar auch
weit hergeholte, aber zumindest noch einzige Bezug zu pornographischen
Darstellungen, der kindlich-naive Dialog über Körperfunktionen
fehlt, könnte ein Gericht nur dann stören, wenn sich die angeklagten
"Stellen" eines Films in diesem Film tatsächlich wiederfinden.
Weil sich aber Aufforderungen zur direkten Weitergabe einer Kirchensteuer
an Bedürftige auch nach der jetzigen Gesetzeslage strafrechtlich "nicht
bedenklich" zeigen, bedarf es anderer dämonischer Erscheinungen,
die zwar genausowenig sichtbar werden, aber wenigstens in einer Anklageschrift
zu finden sind. So kann einem beschlagnahmenden Gericht auch dann nicht
vorenthalten werden, daß "Jesus derweil Schnitzel an die Wände
nagelt"**, wenn diese Szene gar nicht existiert. Und was könnte
ärger strafbar sein, als unbemerkt im OFF des Films ein "Schnitzel
an die Wand zu nageln", ohne daß es irgendjemand hört?
* Aus der Urteilsbegründung des Klagenfurter Landesgerichtes im Verfahren
Metelko gegen Ritter vom 31.8.1988.
** Aus dem Beschlagnahmebeschluß des Landesgerichtes Graz im Verfahren
gegen "Das Gespenst" vom 18.11.1983.
Gerhard Ruiss ist Geschäftsführer der IG österreichischer
Autorinnen und Autoren.
Abdruck aus dem Katalog zur Ausstellung: "An der Grenze des Erlaubten
- Kunst und Zensur in Österreich" mit freundlicher Genehmigung
des Autors.