Trostlose
Zeit
Isabelle Menke's "Im Land der letzten Dinge"
Posthof Linz, 9.5.97
Die Schauspielerin sitzt am linken hinteren Rand des Bühnen-Raumes
zusammengekauert auf einem Stapel Zeitungen, neben sich ein Telefon. In
der Mitte ein großer Tisch, links vorne flankiert von einem weiteren
Zeitungsstapel, dahinter ein Sessel. Im rechten Feld des Raumes ein vertikal
zur Wand gerückter Tisch mit zweiplattigem Elektro-Kocher, auf dem
Kochgeschirre stehen. Daneben angesammelte Konversendosen, davor der dritte
Stapel Zeitungen.
Bühnenlicht von rechts, Menke bewegt sich auf den großen Tisch
zu, schaltet die Schreibtischlampe ein; ein Notizbuch und einzelne Zettel
liegen auf dem Tisch. Im Land der letzten Dinge gibt es Strom. Menke schmiegt
sich in Lampenarm und Lampe ein. Beginnt aus den Tagebuchaufzeichnungen
der Anna Blume, Hauptperson des Romans von Paul Auster, zu lesen: "Dies
sind die letzten Dinge.....". M. lehnt ihren Kopf an die andere Seite
der Lampe, die Schreibtischlampe als anhaltbietendes Objekt. "Wer
zuviel ans Essen denkt...", Anspannung, hastiges Lesen. M. verschwindet
beinahe, kauernd, auf dem Sessel. Menke und Blume sind noch nicht eins.
Sie streicht mit dem Bleistift über die Federn der Schreibtischlampe,
ganz leises Murmeln, wie am Anfang. Der kleine, hinten an der Wand befestigte
Spot, das "Bühnenlicht von rechts", fällt zu Boden
- wie gewollt. "Die Renner....", der letzte Sprung und das Zusehen
dabei, "Euthanasiekliniken", eine Rückreise, die mir beim
Lesen des Buches nie aufgefallen war, "Mordvereine...". Die Spielerin
liest teils stockend, holprig, teils so, als ob sie einzelne Wörter
nur mehr schwer entschlüsseln könnte, "Die Arbeiter mit
Steinen zu bewerfen, ist ein beliebter Job der Arbeitslosen".
Überfahrt, auf der Suche nach dem Bruder. Bleistiftkritzeleien auf
dem Tisch. M. steht auf und weicht zur Wand zurück, "Es ist gleichgültig,
ob Du es liest" - mit Du ist der Freund von Anna Blume gemeint, den
ihre Aufzeichnungen wahrscheinlich nicht erreichen werden, Menke/Blume
nimmt Zeitungen vom rechten Stapel und wischt damit die Scherben des Spots
unter den Tisch, die Lampenkappe (des Spots) fällt vom Wandtisch scheppernd
zu Boden. M. kehrt zum großen Tisch zurück, sitzt dort wieder
an die Lampe geschmiegt. "Wo wird das Gemüse angebaut....",
Wortentzifferungsversuche, ständiger, nicht gekünstelt wirkender
Wechsel von Lautstärke, Geschwindigkeit, Tonfall, Stimmlage und Betonung.
Blume setzt sich auf die Sessellehne und beginnt, einen selbstbewußten
Vortrag über die Zeit als "Agentin der Müllsammler"
zu halten, mit "Ich war ständig zur falschen Zeit am falschen
Ort" einleitend. Das Telefon läutet, unvermittelt. Fallen nach
innen, sie hebt nicht ab, wirkt verstört, gedrückt, irritiert.
Menke wirft einen Teebeutel gegen die Wand, der Teebeutel bleibt an der
Wand haften. Sie stellt neuerlich Teewasser zu, wiederholt eine Prozedur,
die bereits zu Anfang im Spiel enthalten war, in meiner Erinnerung jedoch
nicht mehr konkret zu orten ist. M. erzählt, wie Anna Blume in die
Bibliothek kam, Samuel Farr dort auffindet & damit auch die Spur ihres
Bruders, ihres verschollenen Bruders, dessen Verschwinden ihre Reise in
die graugrelle Zeit bewirkt hatte, einige Atemzüge lang wieder aufnimmt,
ohne der törichten Hoffnung des Wiederfindens anheimzufallen. Zum
Zeitpunkt der Erzählung von Samuel Farr getrennt, beginnt sie, in
ihren Aufzeichnungen nach ihm zu suchen.
Die Spielerin gießt den Tee auf, es wirkt so, als ob sie sich in
einer Probe befinden würde. "Die alte Frau und die Renner",
eine Sekte, deren Angehörige sich zu Tode laufen und dabei alles über
den Haufen rennen, was ihnen im Weg ist, die Rettung der alten Frau, Isabel,
vor den Rennern. Isabel und Ferdinand, bei denen Blume Unterschlupf findet.
Das Licht beginnt heftig zu flackern, ein Stromausfall im Land der letzten
Dinge zeichnet sich ab. Der Lichtkörper der Schreibtischlampe verliert
dabei seine Funktionstauglichkeit. Der Posthof-Techniker tauscht die Glühbirne
aus, Menke ist wütend wegen dieser ungewollten Einlage, ihre Augen
blitzen und ihre Gesichtszüge offenbaren die Qualität sprachloser
Ausdrucksform. Ein Teil des Publikums fällt während dieser Szene
durch mangelndes Einfühlungsvermögen, also Kichern und heitere
Geschwätzigkeit, aus der Rolle. Später erfahre ich, daß
ausgemacht war, die Schauspielerin solle des Wechsel des Leuchtmittels
selber vornehmen, die einzuwechselnde Glühbirne war ja auch dahingehend
in spielbarer Nähe plaziert, dies wurde durch die Intensität
des Spiels, des Herausgerissenwerdens vereitelt.
Erneutes Flackern, M. erzählt von Isabel, Stromausfall ohne weitere
Störung, Spiel im Dunkel, Menke zündet sich eine Zigarette an,
schlüpft in die Haut der Anna Blume, erzählt beklemmend nahe
von Ferdinand, der sich, sie im Schlaf wähnend, geifernd-gehässig
anschleicht, um ihr gewaltvoll die Lust aus dem Körper zu pressen,
sie legt sich dabei auf den Tisch, legt ihren Kopf unter die Lampe. Das
Licht geht wieder an und gezeichnet, Schatten im Gesicht, richtet sie sich
auf und steigt vom Tisch. Menke überspringt, daß Blume Ferdinand
beinahe tötete. Isabel, ihr Dahinsiechen, "Wenn die Stimme versagt,
kommt es einem vor, als wäre die Person gar nicht mehr vorhanden."
Das für Isabel gekaufte Heft, das Blume nach deren Tod für ihre
Aufzeichnungen verwendete, "Sie konnte nicht mehr schlucken".
Menke kriecht beinahe in die Lampe, spricht wie von der Tarantel gestochen,
überhastet, sehr schnell, "Lebensmittelkrawalle", sie lehnt
am kleinen Tisch, versucht eine Dose zu öffnen, läßt die
Dose fallen; Nationalbibliothek, "Ich dachte, die Juden wären
alle tot". Samuel Farr, M. lehnt seitlich an der Mauer. "Jäh
überraschte mich Licht", sie setzt sich wieder an den Tisch,
richtet sich die Lampe, betrachtet das Foto von Samuel Farr, der an einem
Buch über diese jenseits der Erinnerung befindliche Stadt arbeitete,
als sie ihn kennenlernte. M. wechselt kurz zum kleinen Tisch, setzt sich
darauf, beengt. Die vielen Bücher in der Nationalbibliothek, die noch
immer vielen Bücher, Sam's Buch. Schwangerschaft. Menke spielt leider
nicht mehr für sich, sondern für die Zuschauer, schade. Winter
in der Stadt der letzten Dinge. Kaputte Schuhe. Angebot vcn Dujardin, neue
Schuhe besorgen zu können. M. klettert auf den Tisch, legt sich unter
die Lichtquelle, streichelt die Lampe. Erzählt vom einzelnen, schönen
Schuh, den ihr Dujardin brachte, "Nur ein Schuh". Schreit, in
Erinnerung an einen Ausweg verheißenden Tagesbruchteil des Erlebens
mit Samuel: "Der Wind trug uns Kraft zu in seinen Armen." Dringt
mit Dujardin, des zweiten Schuhes wegen, in ihr unbekannte Bezirke der
Stadt vor, betritt das Haus, in dem sie Dujardins Vetter antreffen sollen.
Findet sich in einem düsteren Raum wieder, eine Tür zu einem
Nebenraum wird geöffnet, sie sieht menschliche Leiber, die zerschnitten
werden, eine Menschenfleischerei, springt aus dem Fenster, erwacht, schwer
verletzt, in einer Klinik, versucht, die weit verstreuten, zerschnittenen
Bildausschnitte ihrer Erinnerung zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Menke kehrt wieder zum Vorlesen der Aufzeichnungen zurück. "Wenn
ich erst einmal irgendwo ankomme, werde ich Dir schreiben, das verspreche
ich."
Erich Klinger