Eugenie Kain
Die Lunzerstraße lag schon einmal mehr in Linz. Als die VÖEST noch das Herz von Linz genannt wurde und ein verstaatlichter Betrieb mit bedeutender Lehrwerkstatt samt dazugehörigem Wohnheim für rotgesichtige Burschen aus dem Mühlviertel war, gehörten die Wohntürme am Mühlbach zu Linz wie der Pöstlingberg und das Brucknerhaus.
Jetzt fährt die Linie 18 4 mal am Tag zum Werkposten 1, den Rest des Tages bleibt die Lunzerstraße sich selbst überlassen, versteckt, verschwiegen und abseitig wie ein künstlicher Darmausgang.
Die Lunzerstraße hat mit Traiskirchen als größtes Flüchtlingslager Österreichs gleichgezogen. Etwa 500 Flüchtlinge leben in Linz, in Traiskirchen nur mehr 300.
In der Lunzerstraße wohnen nicht nur Flüchtlinge sondern auch Gastarbeiter und Angestellte der verschiedenen für den Stahlkonzern tätigen Firmen, alles in allem 1000 Menschen. Ein kleiner Stadtteil, der sich von anderen Stadtteilen gewaltig unterscheidet: Hier kleben Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen auf engstem Raum zusammen und eine Infrastruktur ist nicht vorhanden. Die Flüchtlingsbetreuer der Volkshilfe sprechen von einer klassischen Ghettosituation. Der Stadtteil hat seine Geschichte. Auf seinem Gelände befand sich eine Nebenstelle des KZ-Mauthausen.
Den Asylwerbern ist Arbeit laut Ausländerbeschäftigungsgesetz prinzipiell verboten. Mit ihren 400 Schilling Taschengeld im Monat kommen sie nicht weit. Ein Kiosk, in dem es Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens zu kaufen gab, ist geschlossen. Zur Wiener Straße und zur Schule sind es genau 1800 Meter. Das Land hat die Strecke ausmessen lassen. Die Beamten brauchten exakte Maße, schließlich ging es um die Freifahrtsausweise der Flüchtlingskinder. Die Kinder bekommen keine Freifahrt. Dazu wären 2000 m notwendig gewesen. In Österreich herrscht die Schulpflicht. Im Leben nach der Schule herrscht die Quote. Für eine Lehrstelle gibt es keine Beschäftigungsbewilligung.
„Linz dobro” sagen die bosnischen Flüchtlingsfrauen. Linz, damit meinen einige die Lunzerstraße, mehr kennen einige nach 5 Jahren noch nicht, 4 mal bis nach Ebelsberg gekommen zu sein, bedeutet, viel gesehen zu haben. In Bosnien gibt es viele Städte wie Linz, erfahren wir. Die Satellitenschüsseln auf den Balkonen lauschen angestrengt, was in diesen Städten los ist. Es sind keine guten Nachrichten, die empfangen werden, in Jajce brennen auch im Frieden die Häuser moslemischer Bewohner.
Linz, das bedeutet etwas mehr als 6 Quadratmeter Wohnfläche pro Person. Die Hauseigentümerin, die Wohnungsgenossenschaft GWL verlangt pro Flüchtlingsbett 2500 Schilling, die 12,75 qm-Zimmer sind Zweibettzimmer und kosten 5000 Schilling. Auf engem Raum gedeihen nicht nur Silberfische, Kakerlaken und Krankheitskeime, sondern auch Aggression, Streit und Zerstörungswut.
Über den Eingangsbereich des VÖEST-Betriebkindergartens ist ein schönes, großes, blaues Netz gespannt. Es soll aus dem Hochhaus herabfallende Gegenstände abfangen. Einen Stock höher mit Garten auf der anderen Seite des Turmes befindet sich Österreichs einziger offiziell anerkannter Flüchtlingskindergarten. Jeder Besucher und jede Besucherin des Kindergartens darf ein Mosaiksteinchen auf die Weltkarte picken, damit einmal alle Länder dieser Erde mit bunten Steinchen übersät sind. Kinder aus 9 verschiedenen Ländern besuchen den Kindergarten zur Zeit. In der Babygruppe kann ein Kind schon mit 10 Monaten einsteigen. „Amtssprache” im Kindergarten ist deutsch, aber die Kinder bringen sich untereinander sehr schnell ihre jeweilige Muttersprache bei. Die Kinder brauchen sehr viel Bewegung, erzählt die Betreuerin, weil es bei ihnen zu Hause so eng ist.
„Wohnung, Arbeit und Geld, das sind die Probleme hier. Ich möchte aus diesem Kreis herauskommen, weil all das mich psychisch umbringt. Es ist sehr schwierig, ohne Arbeit und irgendeiner Aufgabe zu leben, nutzlos zu sein für sich selbst und für die Familie. Wir müßten eine Chance bekommen, um zu zeigen, was wir wirklich können.” Heiße Heimat lautete das Thema des letzten Festivals der Regionen. Schauplatz war unter anderem die VÖEST mit ihren Hochöfen und ihrer riesigen, abbruchgefährdeten LD I-Stahlwerkshalle. Am Projekt „Die Achse des Ofens” spielten Flüchtlingsfrauen aus der Lunzerstraße mit und gaben der Geschichte vom Verschwinden und Wachsen von Heimat, vom Vertriebenwerden und Ausgesperrtsein einen schmerzhaft klaren Gegenwartsbezug. Einige dieser Frauen sind noch immer in der Lunzerstraße. Ihre alte Heimat gibt es nicht mehr, eine neue darf Linz ihnen nicht sein. Sie können nicht vor und nicht zurück, und bekommen vom SP-Innenminister zu hören, daß sie „uns” auf der Tasche liegen. Die Wäsche flattert im Wind, auch Flüchtlinge genießen die Sonne.
Der negative Bescheid kann jeden Tag kommen. Das wissen alle.