Michael John
Schon vor 20, 30 Jahren zeigten sich im Linzer Neustadtviertel Spuren des Verfalls und der Vernachlässigung. Herabgewohnte Vorstadthäuser aus der Kaiserzeit prägten es ebenso wie ein soziales Spektrum, das immer stärker in Richtung Unterschichten ging, je weiter man sich von der Landstraße entfernte. Mit der zunehmenden Motorisierung wurde das Viertel von den Durchzugswegen Humboldtstraße und Dinghoferstraße regelrecht durchschnitten, östlich von der Dinghoferstraße bis zum Südbahnhof-Markt sprach man schon damals vom „Glasscherbenviertel“. Dort fand man noch Wohnungen mit Plumpsklo und Bassena. Während die Linzer immer mehr an den Stadtrand und ins Grüne zogen, zeigte sich im Viertel eine starke Überalterung. Vorerst zaghaft, in den letzten Jahren aber immer stärker, wurde die Gegend von ausländischen Arbeitern und ihren Familien besiedelt. Boulevard-Presse und rechtsstehende Politiker haben der Linzer Neustadt nunmehr den Namen „Türkenviertel“ verpaßt, eine Bezeichnung, die überzogen erscheint: Von den rund 7.000 Bewohnern sind nach den polizeilichen Anmeldungen etwa 7 % türkische Staatsbürger, insgesamt liegt der Auslanderanteil bei mehr als 20 %. Ohne Zweifel haben aber die neuen Zuwanderer ihre Spuren hinterlassen, und die türkischen sind am deutlichsten sichtbar.
Wenn wir zu einem Lokalaugenschein des Viertels bei der Blumau aufbrechen, so können wir bereits dort zu einem südöstlichen Imbiß greifen: seit einiger Zeit kriegt man hier ein vorzügliches Döner Kebab. Bodenständige Esser brauchen keine Angst zu haben: Der nahegelegene österreichische Würstelstand bietet nach wie vor Burenwurst, die in Linz ganz wunderbaren gegrillten Käsekrainer (Wurst mit Käseeinlagen) oder auch die schon seit Jahrzehnten ins heimische Eßgeschehen implementierte Bosna (bosnische Wurst). Durch den Verkehrslärm vorbei an schmutzigen Häuserfronten, vis-a-vis das große Unfallkrankenhaus, spaziert man zur Humboldtstraße; als Alternative kann auch der ruhigere Weg durch die Südtiroler- und die Scharitzerstraße gewählt werden, mit einigen jetzt renovierten Jugendstilhäusern. Das schönste ist wohl das Eckhaus Scharitzerstraße 12 mit einem wundervollen Foyer. In der Humboldtstraße angelangt, stoßen wir auf das Gemüsegeschäft der türkisch-österreichischen Freundschaftsgesellschaft, im angeschlossenen Lokal gibts wieder Kebab. In dieser Straße, die man stadteinwärts geht, stößt man nun auf einige Vereinslokale, Gasthäuser wie das türkische Restaurant „Side“, Fleischhauereien - in Nummer 17 bekommt man delikaten Lamm-Leberkäse ebenso wie alle Sorten Lammfleisch in ausgezeichneter Qualität. Blickfang inmitten und Kontrast zu den von vielen Auspuffgasen oft angegrauten Häuserfronten sind die bunten Grünläden. Der bekannteste ist wohl Gümüstepe an der Ecke zur Schillerstraße: konkurrenzlos billig sind hier Obst und Gemüse, die Waren sind um das Geschäft herum attraktiv drapiert. Bei Nummer 31 passierten wir Adolf Hitlers ehemaliges Wohnhaus, ein in der Nahe lozierter türkischer Gemüsehändler hat den Schmäh parat: „Wenn er das wüßte“, er weist auf eine ganze Gruppe am Straßenrand stehender, diskutierender Landsleute, „würde er sich im Grab umdrehen, haha.“ Egal welche Straße wir nehmen, die senkrecht zur Humboldtstraße steht, wir finden auch hier Spuren der Metamorphose: das türkische Lokal der konservativen Moslems in der Schillerstraße, den Verein „Anatolien“, das Gemüsegeschäft in der Goethestraße, die drei inoffiziellen Bethäuser und andere. Wählen wir die Lustenauer oder die Volksfeststraße stoßen wir auf eine ganze Reihe von Jugendstilhäusern oder den jetzt stilvoll renovierten Hessenpark, wo wir türkische und österreichische Kinder sowie strickende Mütter antreffen.
Schließlich erreicht man den Südbahnhof-Markt, der sich weitgehend in oberösterreichischen Händen befindet, samstags sind hier viele kleine Einzelverkäufer anzutreffen, Bauern meist aus dem nahen Mühlviertel. Dienstags und freitags vormittags aber, wenn Großmarkt ist, bereichern aus Wien kommende Anbieter den Markt, darunter auch etliche ausländische Händler. Sie erfreuen den Konsumenten mit niedrigen Preisen und sind bunte Farbtupfer auf dem sonst recht bodenständig wirkenden Markt. Der reiseerfahrene Besucher darf nun vor seinem geistigen Auge keineswegs die Markthalle in Berlin-Kreuzberg oder Klein-Istanbul am Brunnenmarkt bzw. Yppenmarkt in Wien-Ottakring entstehen lassen. So weit ist der Niederschlag der Zuwanderung im Alltagsleben in Linz nicht gediehen. Dennoch: ein Durchstreifen des Viertels zwischen Landstraße und Südbahnhof-Markt lohnt sich auf alle Fälle. Am Samstagabend ist der „turkische“ Eindruck im Viertel am stärksten. Durch die vorhandene Infrastruktur werden am Wochenende viele, die in anderen Teilen der Stadt leben bis hin zu den Vororten Leonding, Traun und Pasching angezogen, um hier in der Freizeit Kollegen und Freunde zu treffen und gemeinsam etwas zu unternehmen.
Die Veränderungen im Viertel vollziehen sich nicht friktionsfrei. Eine Mehrheit der Österreicher empfindet die Situation, die sich in den letzten Jahren entwickelte, als problematisch. Ein Ereignis stand dabei im Mittelpunkt: Am 21. November 1992 gerieten in der Schillerstraße 47 bei der Eröffnung eines Vereinslokals rechte und linke türkische Organisationen aneinander. Türkische Nationalisten hatten zur Feier des Tages einen ehemaligen Führer der rechtsextremen „Grauen Wolfe“ eingeladen. In Österreich lebende Kurden haben dies als Provokation empfunden. Im Zuge der folgenden Auseinandersetzung erwies sich die Polizei als wenig vorbereitet, zur Dramatisierung hat die Abgabe von Schüssen durch den Leibwächter des „Grauen Wolfes“ wesentlich beigetragen. Die Polizei konnte schließlich die Auseinandersetzung der rund 500 Personen unter Kontrolle halten. Unter den Intellektuellen der Stadt hatte sich der Verdacht, daß die Polizei, auf einem Augen blind sei, nämlich auf dem rechten Auge, dadurch verdichtet, daß in erster Linie die linksgerichteten Demonstranten verhaftet und im Eiltempo abgeschoben wurden. Hungerstreiks von Österreichern, Türken und Kurden ebenso wie tausende Protestunterschriften konnten daran auch nichts mehr ändern. Populistische politische Kräfte in Österreich setzten sich auf das Thema, eine reißerische Medienberichterstattung verstärkte den Effekt.
Auf viele Bewohner wirkten diese Vorgänge wie ein Schock. Die tagelange Absperrung der Straße durch die Polizei führte dazu, daß die Anrainer nur mit Ausweisleistung zu ihrer Wohnung konnten. Noch heute werden Besuchern die Einschußlocher gezeigt. Aktuelle Probleme aus der Sicht österreichischer Bewohner gibt es in Hinblick auf die oft lauten Vereinslokale, die Betreibung inoffizieller Klubs, Prostitution und die Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen. Die Organisationen der türkischen Staatsbürger stellen ein sehr reales Problem dar. Clans, Vereinspräsidenten, politische Gruppierungen wie Graue Wölfe und PKK (Kommunistische Partei Kurdistans) dominieren die ausländische Bevölkerung. Eine ganze Reihe von Zuwanderern kommt aus ländlichen Regionen der Türkei und ist erst seit relativ kurzer Zeit in österreich: sie befinden sich haufig am Gangelband der Capos. Die ersten Sitzungen des von der Kommune eingerichteten „Bewohnerforums“ waren daher nicht sehr erfolgreich: ausländische Viertelbewohner waren kaum gekommen, stattdessen sahen sich die Inländer mit Vereinschefs, die irgendwo in der Stadt und auch außerhalb wohnten, konfrontiert.
Dem Bürgermeister wird nun von verschiedenen Seiten Untätigkeit vorgeworfen: tatsachlich zeichnet sich die Stadtverwaltung nicht gerade durch rasende Aktivitat aus. Bürgermeister Dobusch meint: „Wir müssen uns an rechtsstaatliche Normen halten“, und wendet sich damit gegen „Sondermaßnahmen“. Der Bürgermeister steht vor einem Dilemma, das überdies von der Stadt allein gar nicht gelöst werden kann: soll das Zusammenleben verschiedener ethnisch-kultureller Bevölkerungsgruppen selbstreguliert oder fremdreguliert, d.h. über starke staatliche Eingriffe, vor sich gehen. Gewisse Eingriffe werden von der Stadt mittlerweile getätigt, Vereine und Geschäfte in Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit den österreichischen Gesetzen genau überprüft. Das „Bewohnerforum“ und ein „Kulturforum“ sollen überdies die Diskussion der Probleme ermöglichen. Integration braucht auch in Linz Zeit.
Die Kriminalitätsrate im Linzer Neustadtviertel liegt unter dem Linzer Durchschnitt. Probleme mit der eigentlichen ausländischen Wohnbevölkerung des Viertels gibt es auch eher wenige, das konzedieren österreichische Bewohner. Die Kommunikation stelle zwar ein Problem dar, das aber gelöst werden könne. „Es ist recht schwer an die einfachen Leute heranzukommen, wirklich schwierig, aber wenn das einmal gelingt...“, erzählt Daniela Leblhuber vom Kulturforum: „In Hinblick auf ein Schulproblem, na da war ich in unserer Familie zuständig, bei einem türkischen Kind war’s aber der Mann. Nun, darf sich der aber mit mir nicht treffen, also bringt der seine Frau mit, dann geht es, und wir haben uns stundenlang bestens unterhalten.“ Die Ärztin Maria, die in der Neustadt ordiniert, hat eine Reihe türkischer Patienten: „Sie sind in der Regel sehr höflich, freundlich und bedürfen wirklich der Hilfe. Viele arbeiten, wenn sie ernsthaft krank sind, aus Angst vor einer Entlassung, weiter. Sie wollen keinen Krankenstand. Im Wartezimmer, glaube ich übrigens, greifen durchaus Lernprozesse. Manche inländische Patienten, die Vorbehalte gegen Ausländer haben, tauen auf, wenn sie den Umgang der türkischen oder kurdischen Eltern mit ihren Kindern sehen. Sie verlieren ein wenig von ihren Vorurteilen.“ Und schließlich überrascht das Statement einer alten Dame am Wirtshaustisch: „Zuerst hab ich mich gefürchtet vor den Türken, „schwarze Ruaßeln“ (von Ruß abgeleitet) hab ich’s genannt. Ich habe Angst gehabt. Aber jetzt muß ich sagen, die sind einmalig: Ich mit meine 75 Jahr fühl mich auf d’Nacht so sicher wie in Abrahams Schoß. Wenn ich mit meinem Hund um Mitternacht Gassi geh, jeder grüßt mich, die Manner gehen ehrerbietig vom Gehsteig runter, wenn ich mit dem Hund vorbeigeh’. Also das ist mir vorher mein Lebtag lang in Linz nicht passiert!“
Eine Studie, die 1993 vom Institut fur Soziologie der Universitat Linz durchgeführt worden ist, beinhaltet teilweise eine quantitative Bestätigung dieser Gesprächsausschnitte: danach wurden Aussagen zur Ausländerfrage von den befragten Österreichern eher positiv und freundlich akzentuiert; Items, die eine Bedrohung von Lebenschancen durch Ausländer signalisieren, werden kaum vertreten. Alle Einschätzungen, die eine Störung durch unmittelbare Nachbarschaft beinhalten, werden jedoch überdurchschnittlich bejaht. Die Studie bezeichnet die Einstellung der befragten Österreicher letztlich als ambivalent. Im Fazit heißt das: „Solange die Segmentierung Inländer - Ausländer im Stadtviertel funktioniert, man nicht gestört ist und die bessere Nahversorgung nutzen kann, hat man dort nichts gegen Ausländer. Doch wehe der unmittelbare Stadtraum, die behütete Wohnumgebung wird durch zu viele und zu auffällige Ausländer beeinflußt. Dann erweisen sich die im großen und ganzen ausländerfreundlichen Einstellungen als Bildungsgemeinplätze und Fassaden.“ Darauf weist auch die massive Forderung eines Teils der inländischen Wohnbevölkerung nach zusätzlichen Polizeiwachzimmern hin.
Vorbehalte und reservierte Gefühle hatten und haben im Neustadtviertel aber auch Ausländer: sie haben Angst vor Ausländerfeindlichkeit, besonders nach den Brandanschlägen mit Todesopfern, wie sie sich in Deutschland ereignen. „Wir beobachten die Vorgänge in Deutschland“, sagt Mehmet, der seit 15 Jahren in Österreich lebt, „wir fürchten, daß die Entwicklung früher oder später auch nach Österreich kommt. Vor den Österreichern, die hier im Viertel leben, auch wenn sie sich beschweren, braucht man keine Angst zu haben. Da konnte man sich irgendwie schon einigen. Aber die Hooligans, auch Parteipolitik....“ Es bleibt nur zu hoffen, daß nicht Konflikte von außen in das Neustadtviertel hereingetragen oder angeschärft werden. „Die Kommunikation mit den eingesessenen Linzern kann funktionieren, man muß sich aber als Türke sehr bemühen, sehr anpassen, die Sprache gut beherrschen, den Schmäh erlernen“, meint Erdem, der seit 12 Jahren in Osterreich lebt. „Die Österreicher, manche tun das ohnehin, sollten dafür akzeptieren, daß wir auch dazugehören. Ich bin jetzt schon lange hier in der Gegend, länger als viele Österreicher, lebe und arbeite in der Neustadt, also bin ich auch ein Neustädter.“
Michael John ist Historiker an Johannes Kepler Universitat
in Linz.
Der Text ist in gekürzter Fassung erschienen in „STADTBUCH LINZ. Ein
Stadtfänger für Wortführer und Fortschreiter“, Wien 1993,
Promedia Verlag)