Atlas MappingIngo Günther

Flüchtling = Kapital

Als trans-globales Netz verstanden und mit einer eigenen Staatsform ausgestattet, sind Flüchtlinge die besten Kandidaten, die sozio- ökonomische und politisch-ideologische Avantgarde fürs nächste Jahrtausend zu werden. Die historischen Flüchtlingsrepubliken der modernen Geschichte, USA voran, zeigen, daß ein ständiger Zufluß Fremder ein essentieller Teil des Erfolges des reichsten Landes der Welt ist. Mit ihren verringerten sozialen und ideologischen Kapazitäten, neue Flüchtlinge aufzunehmen, verlieren die USA auf Dauer internationale Autorität und ideologischen Führungsanspruch, denn sie können nicht mehr glaubwürdig das gesamte Spektrum aller Kulturen, Zivilisationen und Religionen repräsentieren. Gleichzeitig werden die Staatsgrenzen in aller Welt undurchlässiger denn je, was sich aus der preiswerten Verfügbarkeit von Überwachungselektronik und Kriegsgerät, vor allem Minen, erklärt. Die ethnisch-nationalen und geographischen Toleranzzonen fallen der Transport- und Informationsrevolution/-explosion zum Opfer, Grenzen können willkürlich mit einem Minimum an Aufwand projiziert werden. Es ist heute leichter denn je, einen Krieg zu beginnen und schwieriger als je zuvor, ihn zu beenden. Der offiziell anerkannte Teil der daraus resultierenden ständig wachsenden Flüchtlingsbevölkerung von 19 Millionen wird überall auf der Welt in UNO-Lagern geparkt. Inzwischen erreicht die Zahl der weltweit unregistrierten „Displaced Persons“ ein Prozent der Weltbevölkerung. Für das Potential einer Flüchtlingsrepublik der nächsten Generation ist auf lange Sicht gesorgt: Es ergibt sich ein experimentaler und experimentierender supraterritorialer Staat, der multikulturell, multireligiös, multilingual die sozio- ideologischen und ökonomischen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft antizipiert und Lösungen sowohl erzwingt als auch ermöglicht. Diese können für den Rest der Welt Modellcharakter bekommen. Die Avantgarde der Zukunft, die Refugee Republic ist bestenfalls einen Perspektivensprung weit entfernt. Vor Jahren noch waren die traditionellen FLÜCHTLINGSREPUBLIKen wie USA, Kanada, Australien und Israel regelrecht auf der Jagd nach Flüchtlingen und Migranten. So wie heute fremde Industrien mit Steuererleichterungen und anderen Bevorzugungen von einem ins Land gelockt werden, so versuchten früher die erfolgreichen Flüchtlingsrepubliken, mögliche Auswanderer zum Einwandern zu bewegen. Flüchtlinge werden zur Zeit aber fast ausschließlich als ökonomische und letztlich auch soziale Belastung gesehen. Der Mythos des nationalstaatlichen Interesses und kurzsichtige Perspektiven, die mit einem Auge auf Lebensqualität und mit dem anderen auf eine Konservierung des Status Quo schielen, drängen Flüchtlinge, Migranten, Asylanten, Nomaden und Displaced Persons in die Rolle einer, wenn auch unfreiwilligen, internationalen Avantgarde. Sie werden in Lagern als von der UNO anerkannte Flüchtlinge zwar am Leben gehalten, sind jedoch Gefangene der internationalen Fürsorglichkeit, ihr Status Quo zementiert. Flüchtlinge besitzen weder Land noch Kapital und auch keine eigene Währung, keine demokratische Struktur und auch kein Bruttosozialprodukt. Es fehlen angemessene politische Repräsentationen. Die 23 Millionen von der UNO offiziell anerkannten Flüchtlinge entsprechen der dreifachen Bevölkerung Österreichs. Aber die weltweite Zahl der Nicht- Registrierten liegt natürlich weit höher: Das USCR schätzt über 50 Millionen - fast soviele, wie vom 2. Weltkrieg verursacht. Damals waren es weitgehend Europäer, die relativ schnell von anderen westlichen Ländern absorbiert wurden. Die heutige Flüchtlingspopulation ist nicht so homogen, sondern repräsentiert als weltweites Phänomen grundverschiedenste Kulturen, die sich simpler Assimilation widersetzen. Seit 1983 hält diese Gruppe den Bevölkerungszuwachsrekord der Welt: Durchschnittlich 10 - 20% pro Jahr. Inzwischen machen sie 1% der Weltbevölkerung aus. Diese Refugee Republic hat soviele Einwohner wie England oder Italien, kurz, sie ist etwa auf Platz 20 der einwohnerstärksten Länder, einer 220 Länder-langen Liste. Bei anhaltendem Trend wird die Flüchtlingsrepublik in 10 Jahren die Bevölkerung der USA oder Rußlands überflügelt haben. Könnten die Flüchtlinge einen (am Weltdurchschnitt von ca. 37 Menschen pro Quadratkilometer orientierten) proportionalen Teil ihres Landes einfach einpacken und mitnehmen, dann wären sie in der Lage, daraus einen Staat zusammenzustückeln, dessen Territorium so groß ist wie Frankreich, Deutschland, England und Italien zusammen oder ihn als interkontinentales föderatives Staatengebilde weltumspannend plazieren. Die alten FLÜCHTLINGSREPUBLIKen konnten sich entwickeln, weil große, relativ dünn besiedelte Gebiete entdeckt und erobert wurden. Solch kriegerische Landaneignungen verbieten sich zur heutigen Zeit nicht nur aus moralischen Gründen. Bestenfalls Pyrrhussiege kann man erwarten: Kriege haben sich als ökonomische Desaster, selbst für die seltenen Sieger, ad absurdum geführt. Die Territorien der Erde sind alle entdeckt, erfasst und - wenn auch sehr unterschiedlich - dicht besiedelt. Die ökologischen Kapazitäten erscheinen nahezu erschöpft. Eine FLÜCHTLINGSREPUBLIK der nächsten Generation benötigt aber kein eigenes Staatsgebiet im traditionellen Sinn. Singapur, Hong Kong oder Liechtenstein sind Staaten, die kaum nennenswertes Territorium kontrollieren, aber dennoch sehr erfolgreich sind. Oft ist die geo-strategische Lage ausschlaggebender als die Masse, und ein hoch entwickeltes Bildungswesen gilt als Grundpfeiler des ökonomischen und sozialen Erfolgs. Die ehemalige UdSSR verfügte als größter Staat der Erde über Unmengen an Staatsgebiet, was in letzter Konsequenz wohl eher zum Zusammenbruch als zur Garantie ihrer Existenz beigetragen hat. Das wenige Land, auf das man dennoch nicht verzichten kann, könnte die UNO von gebietsreichen Staaten langfristig pachten. Hieraus ergäbe sich direkt die Möglichkeit, das Völkerrecht (International Law) und Verordnungen, Beschlüsse und Ideale der UNO in der Realität aufeinander abzustimmen und modellhaft zu implemetieren. Inzwischen gibt es sogar genügend Gründe, Teile des elektromagnetischen Spektrums als quasi-territoriales Gebiet zu klassifizieren und damit sowohl zur ökonomischen als auch staatsrechtlichen Grundlage der Flüchtlingsrepublik zu machen. Die Souveränität der Flüchtlingsrepublik kann zunächst von der UNO hergestellt und ausgeübt werden, die auch für den Schutz der Bürger sorgt. Die zahlenden UNO-Mitgliedsstaaten sollten sich diesen Luxus leisten. Die Verwaltung und Repräsentation jedoch sollte von der Flüchtlingsrepublik selbst übernommen werden. Ihr Operationgebiet ist durch Migrationsrouten und Kommunikationsstrukturen definiert. Sie ist Funktion der Transparenz staatlicher Grenzen und zivilisatorischer Schranken. Ihre Staatsbürgerschaft wird durch das weltweite Transitvisum determiniert, bis ein offizieller Paß der Refugee Republic ausgegeben werden kann. Eine kürzliche US-Regierunsstudie kalkuliert, daß die US-Immigranten jährlich $ 10 Milliarden zum Bruttosozialprodukt beitragen. Indikatoren einer weltweiten Flüchtlingsökonomie sind, daß ägyptische Migranten 75% soviel im Ausland erwirtschaften, wie ganz Ägypten jahrlich exportiert. Pakistan und Bangladesh und viele andere Länder würden ebenfalls nicht ohne die Finanzspritzen ihrer Emigranten überleben können. Selbst für die Emigranten des ehemaligen Jugoslawiens liegt die entsprechende Zahl bei 38%. An den kambodschanischen Flüchtlingen, die nie von der Thai-Regierung als solche anerkannt wurden, hat Thailand kräftig verdient: Alle Hilfsgüter für die zeitweise über 300.000 „Displaced Persons“, die mehr als 10 Jahre lang dort in Lagern warteten, mussten in Thailand gekauft werden. Der UNHCR hatte 1992 ein Budget von fast 2 Milliarden DM - Tendenz steigend. Die Refugee Republic kann die Vorzüge einer globalen Macht für sich ausnutzen: Offiziell ohne nennenswertes eigenes Land und ohne Flüchtlings-Währung, aber wenigstens mit einem UNO-Etat; ohne Handel, aber mit grenzüberschreitenden Kontakten und Kenntnissen, wo Gesetze und Grenzen Handel verbieten; ohne politische Struktur, aber mit einem starken Bewußtsein und Willen nach Frieden und Freiheit und ohne eine gemeinsame Sprache, aber mit gemeinsamen Interesse und Schicksal. So wie die USA von den staatsrechtlichen und philosophischen Idealen Europas, dessen Theorien sich auf amerikanischem Boden unbelastet einer gewichtigen Geschichte in relativer Unbedingtheit für die ganze Welt zu Modellen entwickeln konnten, entscheidend befruchtet wurde, so sehr profitiert Europa auch heute noch von der amerikanischen Perspektive als einer plausiblen Spiegelung, die einen relativ glaubwürdigen Ausblick in die eigene Gegenwart und Zukunft auf fast allen Gebieten erlaubt. In diesem Sinne benötigt nun Amerika und die Welt selbst eine neue FLÜCHTLINGSREPUBLIK, die eine Chance bietet, diese Rolle zu übernehmen, Die Flüchtlingsrepublik wird mithin zum Spiegel einer Welt, die in einigen Teilen noch prä- und in anderen schon postpolitisch ist - in einer Zeit, die ihren ideologischen Überbau des Modernen und ihre Visionen zugunsten einer noch schlecht definierten Disposition des relativen Positionierens verloren hat, einer Welt in der divergente Trends der Globalisierung gleichsam eine Retribalisierung (Ethnifizierung/Regionalisierung) bedingen. Wie Joseph Nye beobachtet, ist die Welt keineswegs zu einem Dorf verschmolzen, sondern besteht nun vielmehr aus immer dichter zusammenrückenden Dörfern, die ihre schützende Distanz zueinander verloren haben: Geographische Isolation hat sich im Informationsnebel verflüchtigt. Unter der Voraussetzung, daß sich eine Nation aus einem integralen Territorium und einer gemeinsamen Kultur und Sprache (Identität) konstituiert, gibt es heute kaum mehr einen Staat, der nicht multinational ist; andererseits gibt es Nationen, die ohne Staat existieren: Kurden, Navajo Nation, PLO und viele andere Organisationen sind staatenlose Nationen. Die FLÜCHTLINGSREPUBLIK wird dies zum Prinzip erheben: Sie basiert auf der Gemeinsamkeit der Unterschiedlichkeit, verbunden durch weltweite Informationsnetze (InteR/R-Net) und einer kontemporären und vor allem praktischen Neu-Interpretation der Menschenrechte und -pflichten. Konstituierend ist das Mensch-Sein unter erschwerten Bedingungen, eine Situation, die auch für den Rest der Welt immer mehr zur Normalsituation zu werden droht. Die von Ralf Dahrendorf so bedauerte „Multiplicity gone wild“ beschreibt ein Schicksal, mit dem die FLÜCHTLINGSREPUBLIK exemplarisch schon jetzt mit äußerster Konsequenz konfrontiert wird. Sie wird lernen müssen, damit umzugehen: Als erster Staat, der zwischen kultureller Multiplizität vermittelt, wird sie fundamental notwendige Einstellungen und Veränderungen vom Staatsgedanken, von Kollektivismus und Individualismus formulieren, die vom Rest der Welt benötigt werden, wenn sie überleben soll. Dieser einzigartige supranationale und -territoriale Flüchtlingsstaat verdient eine demonstrative Mitgliedschaft und entsprechende Repräsentation in der UNO sowie anderen internationalen Organisationen, soda die Weltöffentlichkeit die Experimente, Erfahrungen und Lösungen nicht nur beobachten, sondern auch möglichst direkt daran teilhaben kann. Die Refugee Republic resultiert.

Ingo Günther's großflächige Installation für die Ausstellung "Atlas Mapping" (Offenes Kulturhaus Linz, 7.6. - 11.7. 1997) zeigt am Boden die Ländergrenzen ohne die Umrisse bzw. Marsgrenzen des jeweiligen Kontinents. Rotbehangene Leuchtstoffröhren signalisieren die Flüchtlingsströme. Darauf stehen Sätze wie "Flüchtlinge besitzen weder Land noch Kapital" oder "Die UNO sollte sich den Luxus einer Flüchtlingsrepublik leisten" oder "Die Flüchtlingsrepublik basiert auf der Gemeinsamkeit der Unterschiedlichkeit und auf einer kontemporären und vor allem praktischen Neuinterpretation der Menschenrechte und -pflichten" oder last but not least der Satz "Die Refugee Republic resultiert". Für sein Flüchtlingsengagement wie auch für seine "medientheoretisch reflektierte und ästhetisch überzeugende" Arbeit mit Globen, wurde Günther in diesem Jahr der hochdotierte Siemens Medienkunstpreis verliehen.