Erich Klinger
In einem der Wohnhäuser für Flüchtlinge, Lunzerstraße 56. Ein niedriger Bau mit langgestreckten, schmalen Gängen. Kleine Zimmer, die Menschen hier leben in relativ beengten Verhältnissen. Wir, die Zeitungsbelegschaft und unsere Begleiter, Thomas Martetschläger und Adnan Zahiti, der seinen Zivildienst bei der Volkshilfe ableistet, werden in einen Gemeinschaftsraum gebeten, der sich Fernsehraum nennt. In diesem Raum sind einige Tische, Sesseln und Sitz- sowie andere Möbel gruppiert. Poster von Fußballern sowie - als Fernseher-Ersatz - eine museumsreife elektrische Schreibmaschine wirken der Kargheit des Raumes entgegen. Adnan, dessen Eltern aus Kosovo bzw. Sanski Most stammen, fungiert als Dolmetscher.
Als gemeinsame Nenner der Gespräche/Gesprächsansätze und Erzählungen seitens der Menschen aus Bosnien, mit denen wir beisammensitzen, schälen sich im Laufe der folgenden Stunde folgende Punkte heraus: Der Großteil der in der Lunzerstraße untergebrachten Kriegsflüchtlinge stammt aus dem Gebiet der Republik Srpska, also nunmehr serbischem Territorium. Alleine dadurch scheint vielen eine Rückkehr nicht möglich, die Angst vor Repressionen, vor Gewalt sitzt im Nacken der Vertriebenen. Dazu kommt, daß viele Orte nach wie vor weitgehend zerstört sind, keine Infrastruktur vorhanden ist und vielerorts bereits seit längerer Zeit - unter den gegebenen Verhältnissen - zuviele Menschen zusammengepfercht „leben“ müssen. Auch die Mittellosigkeit der Flüchtlinge läßt es nicht zu, an eine Rückkehr zum jetzigen Zeitpunkt zu denken. Dabei würden die meisten dieser Menschen - die Kinder (nicht nur im schulpflichtigen Alter) bzw. die Jugendlichen zeigen andere Neigungen - unter geänderten Voraussetzungen ohne weiteres bereit sein, in ihre Heimat zurückzufahren. Sie möchten nach Hause, aber es geht nicht und die Hoffnung, daß dies in absehbarer Zeit möglich sein könnte, ist berechtigterweise gering.
Der Aufenthalt, die Aufenthaltsmöglichkeit in Österreich hat also keineswegs eine nur in die Vergangenheit der Vertreibung, der Flucht reichende Bedeutung. Die bosnischen Flüchtlinge leben auf engstem Raum zusammen, sie müssen hier unter ärmlichen Verhältnissen leben und sind dennoch dankbar, hier leben zu dürfen, weil es ihnen vergleichsweise „gut“ geht. (Die von mir während des Gesprächs als allzu nachhaltig/übertrieben empfundene Dankbarkeit sehe ich mittlerweile als verständlichen Ausdruck einer umständehalber erzwungenen Bescheidenheit). Die Angst davor, abgeschoben zu werden, gezwungen zu werden, zurückzukehren, ist groß. Die Menschen bangen um ihren Weiterverbleib in einem Land, in dem sie vielerseits bestenfalls befristet geduldet sind.
Alltag: Linz ist die Lunzerstraße und ein Ausflug nach Ebelsberg ist bereits wie ein Urlaub. Der Aktionsradius der Menschen in der Lunzerstraße ist sehr beschränkt: es gibt nur sporadische Busverbindungen und selbst bei besserer Anbindung ans öffentliche Verkehrsnetz ließen die äußerst geringen finanziellen Mittel nur ganz selten Familienausflüge, womöglich mit Eis und Getränken, zu. Die Kontakte zu Einheimischen, die zum größeren Teil über schulpflichtige bzw. den Kindergarten besuchende Töchter und Söhne ablaufen, werden als problemlos bezeichnet.
Nachstehend Zitate/Auszüge aus den Gesprächen, Schilderungen, Erzählungen (in zeitlicher Reihung):
Ibrahim K.: „Einige Menschen sind bereits seit 1992/93 hier.“
Fatima K., die sich im Laufe des Gesprächs als Wortführerin der
„Gruppe“ herausstellt, bedankt sich eingangs für die Aufnahme, erwähnt,
daß die serbische Seite die Rückkehr in ihre Häuser verhindert
und spricht den jüngsten Vorfall in Jajce an, bei dem kroatische Soldaten
bosnische Heimkehrer beschossen, wobei ein Mann getötet wurde. Ungewißheit
über den Weiterverbleib, auch im Hinblick auf die Kinder, die hier
zur Schule gehen. Frau K. hebt die medizinische Betreuung sowie die problemlose
Versorgung mit Strom und Wasser in den Unterkünften hervor. Das Zimmer,
in dem sie mit ihren Kindern lebt, ist klein, aber es genügt. Sie
bringt (nicht nur) ihre Angst vor dem 31. August, dem Auslaufen der Aufenthaltsbewilligungen,
zum Ausdruck.
Daraufhin informiert Thomas Martetschläger darüber, daß
die Bundesregierung nunmehr die Verordnung zur Neuausstellung der auslaufenden
Aufenthaltsbewilligungen beschlossen habe und es daher in Kürze möglich
sei, die nötigen Anträge einzubringen. Er gehe davon aus, daß
es bei den meisten Anträgen keine Probleme geben werde, also mit Verlängerung
der Aufenthaltsbewilligung zu rechnen sei. (Diese Ansicht wurde von Martetschläger
unter Bezugnahme auf die Flüchtlinge aus der Republik Srpska in einem
am 20.8. geführten Telefonat bestätigt).
Einige Orte, aus denen die Menschen im Flüchtlingsheim Lunzerstraße
stammen: Derventa. Kotor-Varo`´c. Doboj. Banja Luka. Zepa. Prijedor.
Visegrad. Srebrenica. Bosanska Gradiska. Zvornik.
Ibrahim K.: „In Kotor-Varo`´c wurden über 500 Moslems und Kroaten ermordet. 1992 verschwanden 163 Menschen, vermutlich kamen sie in ein Lager.... Es gibt keine Chance, einen direkten Kontakt zum Heimatort herzustellen. Viele aus meinem Ort sind in Travnik und haben dort Zelte aufgeschlagen, leben dort in Zelten.“
Fatima K. erzählt von ihrem Heimatort: „Derventa ist zu 90% zerstört. Es gab dort eine große Fabrik, Amadeus, eine italienische Schuhfabrik, die auch zerstört wurde. Alle Menschen wünschen sich, daß sie zurückkehren können, ihre zerstörten Häuser wiederaufbauen können, aber es wird ihnen nicht erlaubt.“ ... „Serben aus Bosanski Petrovac sind in Sarajevo, auch sie würden gerne zurückkehren, aber es geht nicht, es gibt keine Chance, daß jeder dorthin zurückkehrt, wo er herkommt.“
Ibrahim K.: „Ich bin mit meiner Familie - Mutter, Bruder, Frau und zwei Kindern hier.“
Ajisa G.: „Meine Familie ist verstreut, eine ist in Tuzla, ich bin hier. Mein Bruder arbeitete in Deutschland, wurde gekündigt und abgeschoben. Er ist jetzt in Tuzla, einem für ihn fremden Ort, lebt auf der Straße.
Fatima K.: „Einige, die zurückkehren, helfen sich gegenseitig.
Aber es ist ein soziales Problem, weil es nichts gibt. Es gibt keine Arbeit,
keine Wohnung. Wenn jemand krank ist, muß er in Mark zahlen für
Medikamente. Wenn es irgendwie nur möglich ist, unterstützen
wir die Jungen, die zurückkehren. Auch meine Tochter lebt in Bosnien,
in Sarajevo. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in einem serbischen
Haus. Ihr Mann ist beim Militär; sie haben 300 Mark im Monat zum Leben,
allein der Kindergarten kostet 100 Mark. Es ist schwer, so durchzukommen.
Es ist uns ein Anliegen, die Menschen unten zu unterstützen, auch
wenn wir selbst keine großen Sprünge machen können. So
ist es beispielsweise nicht möglich, den Kindern öfter Eis zu
kaufen, ins Gasthaus zu gehen, sich den Eintritt ins Schwimmbad zu leisten,
regelmäßig Obst zu kaufen. Aber es geht schon.....“
„Zuhause habe ich 18 1/2 Jahre im Gasthaus gearbeitet in meinem Beruf als
Köchin. Vorher habe ich in Deutschland gearbeitet, dort geheiratet
und bin dann mit meinem Mann nach Derventa zurück. Wir haben dort
ein Haus gehabt und jetzt haben wir alles verloren, nahezu allen ging es
so, weil Derventa zu 90% zerstört wurde, ähnlich wie Vukovar.“
„Hier (in der Lunzerstraße) habe ich zwei Söhne, eine Schwiegertochter,
zwei Enkelkinder und meinen Mann. Mein Sohn, Dino, ist 13 Jahre, er geht
hier seit 6 Jahren zur Schule. Er möchte hierbleiben, alle Kinder
möchten hierbleiben, weil hier gibt es alles, unten nichts.“
„Die Menschen hier können nicht arbeiten gehen, weil es keine Erlaubnis
dazu gibt.“
Auf die Frage, was sie den ganzen Tag machen, antwortet Fatima K.: „Die
Frauen stricken, kochen, bügeln, waschen, sitzen vorm Haus und reden,
was unten ist.“ Und die Männer?: „Die Männer spielen mit den
Kindern Fußball draußen.“
Ibrahim K.: „Von ‘93 bis ‘95 war ich in einem serbischen Lager, ich kam dann über Travnik nach Österreich.“ Ajisa G.: „Die Männer können froh sein, die überlebt haben.“ Ibrahim K.: „Meine Familie wußte zwei Jahre nicht, ob ich noch lebe oder nicht.“
Fatima K.: „Ich bin jetzt 48 Jahre. Was soll ich unten machen,
ohne Arbeit, ohne Haus, ohne Grund. Es gibt keine Fabrik mehr. Ich möchte
gerne hierbleiben, bis unten alles in Ordnung ist. Viele Leute sind kaputt
mit den Nerven, weil sie ständig daran denken müssen, was unten
passiert; sie warten täglich darauf, daß es 10h (abends) wird,
wo sie das Bosnische Fernsehen empfangen können, um zu hören,
was es gibt. Am Morgen wird dann darüber gesprochen. Alle möchten
zurück, aber es geht nicht. Aber ich will, alle wollen, daß
ein Tag kommt, wo es geht.“
„Viele Familien aus Deutschland werden jetzt zurückgeschoben, aber
wohin, in Städte, wo Menschen schon jetzt so dichtgedrängt wie
Ameisen herumlaufen.“
„Wenn alle Menschen unten ein Dach über dem Kopf haben könnten,
wäre die Angst vor einer erzwungenen Rückkehr nicht so groß:
Aber von was sollen wir die Häuser bauen, ohne Baustoffe, ohne alles.
Ich kann nicht mehr im Zelt leben, das kommt nicht mehr in Frage.“
„Ich habe zwei Brüder in Jablanica, auch meine Mutter lebt dort, gebrochen.
Ein Bruder und eine Schwester leben in Banja Luka, in serbischer Hand.
Der Sohn meiner Schwester ist das einzige muslimische Kind in dieser Stadt,
er bleibt zuhause, weil meine Schwester Angst hat, daß jemand kommt
und ihn tot macht. Ich habe keinen direkten Kontakt zu meiner Schwester,
aber sie wird demnächst mit einem UNPROFOR-Transport nach Zenica gelangen
und von dort nach Jablanica. Spätestens nach 10 Tagen muß sie
dann wieder nach Banja Luka zurück.“
„Mein Vater ist vor zwei Jahren im Krieg gestorben, auch meine Oma in Kroatien
ist tot. Von meiner Vater Rente kann ich nicht kaufen in serbischem Land
ein Streichholz.“
„Viele von uns würden, bis wir zurück können, gerne hier
arbeiten, die Jungen weiter zur Schule gehen, eine Lehre anfangen, aber
es ist nicht möglich. Das Leben unten ist teuer, Mehl kostet 40 S
das Kilo, Kaffee kostete, wie ich nach Österreich kam - vor 6 Jahren,
25 S, jetzt kostet Kaffee 100 S.“
„Nach der Schulpflicht fallen die Jugendlichen unter dieselben arbeitsrechtlichen
Bestimmungen wie Erwachsene“, erläutert Martetschläger:
„Zuerst Österreicher, dann Ausländer mit bereits erteilter Arbeitserlaubnis,
dann Leute mit Beschäftigungsbewilligung, abgestuft nach Zeit der
Arbeitslosigkeit und am Schluß die Neuerteilungen. Gerade bei sensiblen
Bereichen wie Lehrstellen ist die Chance auf Erteilung einer Arbeitsbewilligung
nahe Null, weil es dazu eines Lehrherrn bedarf, der seine Ablehnung der
anderen BewerberInnen genau und für die Behörden stichhaltig
begründen muß, weil es eines Arbeitsmarktbetreuers bedarf, der
dahintersteht - dazu kommt, daß gerade im Bereich der begehrten Lehrstellen
der Verdrängungswettbewerb sehr groß ist. Auch im Bereich weiterführender
Ausbildungen sind die Zugänge stark reglementiert.“
Ob sie sich vorstellen könnten, irgendwann wieder mit Serben
zusammenzuleben, wird gefragt. Fatima K.’s Antwort darauf:
„Ich habe Angst davor, wieder in Nachbarschaft mit den Serben zu leben.
Die Leute haben viel Streit gemacht. Ein serbischer Arbeitskollege, mit
dem ich lange Zeit zusammengearbeitet habe, gab mir nach Beginn des Krieges
zu verstehen, daß er mit mir nichts mehr zu tun haben wolle. Ich
habe ihn gefragt: ‚Warum?‘ Er sagte: ‚Es ist Krieg.‘“
„Ich habe weniger Angst um mich, als um meine Kinder. Zuviel wurde zerstört,
zuviele Menschen wurden getötet, um jetzt hergehen zu können
und zu sagen, ich vertraue darauf, daß die meisten Serben gute Menschen
sind. Ich kann dieses Vertrauen nicht mehr aufbringen.“
„Vielleicht kommt ein Tag, an dem wir, weil es nicht anders geht, mit kroatischen
und serbischen Muslims zusammenleben müssen, aber wir haben alle Angst
davor.“
Mevla P.: „Ich bin von Visegrad. Ich habe einen Sohn verloren, fast die
ganze Familie ist umgekommen, verbrannt, ermordet. Zwei Söhne habe
ich noch, einer ist in Zepa, er wurde gefangengenommen und hat die Gefangenschaft
überlebt, sein Sohn ist auf eine Mine getreten und umgekommen. Vom
anderen Sohn weiß ich nicht, ob er noch lebt, weil er gefangengenommen
wurde, ich weiß nicht, ob er noch lebt. Ich kann nicht zurückkehren,
weil ich keine Familie mehr habe.“ (Mevla P. kam erst gegen Ende des Gesprächs
in den Fernsehraum, es erübrigt sich, die Verfassung dieser alten
Frau zu beschreiben).
Fatima K.: „Sie ist alleine da in Österreich.“
Mevla P.: „Ich habe Verwandte da, aber die wollen mich nicht aufnehmen.“
Ajisa G.: „Wir können nicht zurückkehren und so tun, als wäre nichts gewesen. Wir werden so behandelt, als ob wir der Aggressor gewesen wären, als ob wir den Krieg begonnen hätten.“ Zwischenfrage: „Bei uns oder in Bosnien?“ Ibrahim K.: „Unten.“ Ajisa G.: „Unten. Es gibt keine Gerechtigkeit.“
Ibrahim K.: „In Srebrenica sind 20.000 Moslems umgekommen, dort heißt
es, daß beide Seiten schuld sind, die Moslems und die Serben. Und
das ist überall so.“
Ein Serbe hat 75 Personen umgebracht und wurde dafür zu 14 Jahren
Haft verurteilt.
Meine Schwester ist umgekommen und jetzt leben Serben in meinem Haus. (Diese
Zitate ohne Anführungszeichen stammen von zwei Menschen, deren Namen
wir nicht in Erfahrung brachten, ich bitte dies zu entschuldigen).
Ibrahim K.: „Serben kommen nach Sarajevo, um zu schauen, ob ihre Häuser noch stehen, sie machen Kreuze auf ihre Häuser: Das heißt, daß sie wieder zurückkehren. Umgekehrt die bosnischen Moslems dürfen nicht einmal schauen, ob ihre Angehörigen noch leben.“
Martetschläger.: „Es gibt auch noch kein funktionierendes
gemeinsames Telefonnetz, keine Kommunikationsmöglichkeit. In vielen
Korridorbereichen hat sich daher, oftmals in Gasthäusern, ein Zwischenhandel
entwickelt, bei dem man von Mittelsmännern gegen Bezahlung in DM Informationen
aus der Heimat oder Dokumente bekommt.
Fatima K.: Mein Mann hat einen Bruder unten, der im Krieg einen
Fuß verloren hat; mit diesem Bruder telefonieren wir manchmal, um
näheres zu erfahren, aber telefonieren ist teuer. Mit Briefen geht
nichts. Bosnisches Fernsehen, jeden Abend, um Informationen zu bekommen.
Wie von Jajce, wo ein Mann in sein Haus ging und kroatisches Militär,
nein, Militär kann man nicht sagen, eine Bande erschießt ihn
im Haus und steckt es in Brand, während der Sohn auf der Straße
auf seinen Vater wartet.“
Martetschläger: „Ebenso wie beim jüngsten Vorfall in Jajce
waren es paramilitärische kroatische Truppen in schwarzen Uniformen.“