Ludwig Laher

Mich vollstopfen, bis ich endlich leer bin


Die folgende Rede hielt Ludwig Laher im Rahmen des literarischen Nachmittages der "OÖ Kulturvermerke 1995", die unter dem Titel "SPEKTAKEL - KULTUR - TOURISMUS" vom 13. bis 19. November 1995 in Gmunden stattfanden.
Ludwig Laher wird anläßlich der Präsentation seines neuen Buches "unerhörte gedichte" am 20. 2. 1995 um 19h30 im Adalbert-Stifter-Institut in Linz lesen.

Wenn man gegen Ende eines so umfangreichen Symposions an die Reihe kommt, etwas zu sagen, läuft man immer Gefahr, vieles von dem, was andere ähnlich, vielleicht besser, vielleicht schlechter schon umrissen haben, zu wiederholen. Nun wurde dem heutigen Nachmittag, der - was immer das heißen mag - ein literarischer sein soll, als Klammer die Überschrift "Auf und davon" vorgesetzt. Das klingt nach Eskapismus und kanadischer Waldeseinsamkeit, suggeriert von vornherein eine Gegenposition zu allem, was Spektakelkultur sein könnte, und paßt so schön zum gängigen Bild des Schriftstellers, des Dichters, daß ich gar nicht anders kann, als entsprechende Erwartungshaltungen zunächst zu erfüllen. Ich lese Ihnen also jetzt einen Text aus meinem neuen Buch "unerhörte gedichte" vor:

vor
     in der klangskulptur stehe ich
trinke ein glas sekt
höre gewaltige musik
pink floyd oder doch bruckner
sehe strahlen laserlichts
die schwüle nacht durchqueren
denke an den regieplatz
und die software hinter dem abend

ameise bin ich unter tausend
und brei im ohr
und brei am himmel
und brei wir alle hier
und brei mochte ich nie essen nie

zwischen den einzelnen löffeln
für die tote großmutter
und für das rotkäppchen
ließ sich eine kurze
eine köstliche pause herausschinden damals
still war es für sekunden
wie jetzt

          in diesem gedicht
über ein schlaraffenland
das keine wünsche offenläßt
mich vollstopft bis ich endlich leer bin

Ich konnte erst seit gestern mittag hier sein und habe dennoch in dieser kurzen Zeit von verschiedenen Referenten und Diskutanten die so typische Argumentation vorgefunden, keiner werde gezwungen, sich im Linzer Donaupark von der Klangwolke, in Bregenz von Seebühnenbildnern, demnächst in Schärding von Karl-Moikschem Charme erschlagen zu lassen. Und was dem toten Bruckner nachweislich wurscht ist, wird mir auch nicht schaden.
Dem ist vieles entgegenzuhalten. Zunächst wohl, daß ein Rezipient vorausgesetzt wird, der, von den audiovisuellen Medien an Tempo und lächerliche Superlative gewöhnt, in virtuellen Welten zuhause und in dieser unserer oft genug wenig heimisch, mit Kunst anders umgeht als mit anderen Angeboten der Freizeitwirtschaft; der nicht nach Schlagzeilenträchtigkeit, nach In und Out, nach Da-sollte-man-gewesen-sein entscheidet. Das ist eine kleine Minderheit, die, weil kontinuierliche Kulturarbeit, Kulturvermittlung weder bei Politikern noch bei Sponsoren, auch nicht bei den Journalisten sonderlich beliebt ist, weiter schrumpft. Für ein Festival ist zumeist wesentlich mehr Geld da als für eine Jahresreihe an Veranstaltungen, für Seitenblicke ist wesentlich mehr Geld da als für Blicke - dies darf durchaus als Vorhalt an den öffentlich-rechtlichen ORF verstanden werden - , für Veranstaltungsankündigungen ist Platz, für Berichterstattung im nachhinein nicht, es sei denn, der Event-Charakter wäre evident.

Es gibt also eine Wechselbeziehung zwischen dem Spektakel und dem Rest der Kulturwelt, eine ökonomische, eine solche der öffentlichen Relevanz, aber auch eine, die weit in den Alltag hinein reicht:
Als ich vor ein paar Wochen von Frankfurt zurückreiste, wo ich anläßlich der Buchmesse nicht nur dieses neue Buch, sondern auch ein Filmprojekt vorstellte, von dem noch zu reden sein wird, stand ich am Bahnsteig, erschlagen von dem Monsterspektakel, dem ich übrigens ein gewisses Faszinosum gar nicht absprechen möchte. Der ICE hatte Verspätung, und unbarmherzig wurde über das wartende Reisepublikum James-Last-artige Musik geschüttet, nach einer solchen Vielfalt an Reizen für Aug, Ohr und andere Sinne eine doppelte Qual. Im Zug dann, ich hatte gerade an meinem Note-Book zu arbeiten begonnen, um für eine Kulturzeitschrift eine Geschichte über meine Buchmesseneindrücke zu schreiben, die am nächsten Tag fertig zu sein hatte, im Zug dann also verwöhnte mich der Zugbegleiter über den Abteillautsprecher mit folgenden Worten: "Meine Damen und Herren, sehr verehrte Reisende, soeben hat in den Bundesligastadien die Pause begonnen. Als Service für unsere Reisenden nun die Zwischenresultate: Bayern München liegt im Olympiastadion nach 45 Minuten überraschend ..." und so weiter und so fort.
Thomas Rothschild brachte gestern im Zusammenhang mit Spektakelkultur das Bild vom Kind, das von der Oma in die Konditorei eingeladen wird und dort essen darf, soviel es will. Die köstliche einzelne Süßspeise wird Teil der Schlemmorgie, und wenn dem Kind auch nicht wirklich schlecht wird, so ist ihm doch nicht ganz gut nachher. Eine subjektive Befriedigung der Bedürfnisse jedenfalls stellt sich durch Überfülle schwerlich ein.
Mit etwas Selbstdisziplin kann ich Fernseher, Radio und Computer ausschalten, aber was mache ich im öffentlichen Raum des Bahnsteigs, des Zugabteils? Infotainment ist DIE Wachstumsbranche, und wir müssen konditioniert werden. So einfach ist das. Gottgegeben soll zumindest der nächsten Generation die Unmöglichkeit erscheinen, sich sammeln zu können, wo permanente Zerstreuung angesagt ist.

Freilich, was oft genug für den intellektuellen Zweifler angeführt wird, der demokratische Charakter von Spektakelkultur, werden doch unterschiedlichste Menschen aus unterschiedlichsten Motiven an einem Ort zusammengeführt, das hat schon was für sich. Aber nicht dort, wo Erwartungshaltungen brav bedient werden, ästhetisch museale Formen Vertrautheit suggerieren und innovative Elemente höchstens als Dekoration, als Schlagobers dienen, das man ja stehenlassen kann. Ich will Ihnen ein Beispiel geben, lassen Sie mich dazu etwas ausholen:
Als 1842 das unübersehbare Mozartdenkmal im Zentrum Salzburgs in Anwesenheit beider Söhne des Meisters enthüllt wurde, notierte Eduard Hanslick: Wie hat Mozarts Standbild in Salzburg, unähnlich in den Gesichtszügen, unmalerisch in der Stellung, kleinlich im Totaleindruck, widerstimmend dem Charakter der freundlichen, bergumkreisten Stadt, wie hat es so gar wenig innern Bezug zu dem, was uns `Mozart' bedeutet!
Vor nunmehr vier Jahren wurde ebendieses Denkmal, mittlerweile längst sakrosankt, für kurze Zeit nahezu unsichtbar und Teil eines bei den Zeitgenossen noch viel umstritteneren Kunstwerks: Der Salzburger Künstler Anton Thuswaldner umgab die Statue unseres Wolferl mit einem Gerüst, vollbehängt mit silbrig glänzenden Supermarkteinkaufswägelchen. Das sonderbare Gebilde in der Altstadt lockte nicht nur zahllose Einheimische und Touristen an, sondern auch Fernsehteams aus dem In- und Ausland sowie eine Photoreporterschar der internationalen Printmedien.
Welch kostenlose Gratiswerbung für die Salzachstadt und ihren Hauptwirtschaftszweig, den Tourismus, müßte man denken. Aber weit gefehlt. Statt eines Dankschreibens für den Künstler, dessen vermarktungskritische Botschaft sich unter den beschriebenen Vorzeichen als Ausdruck großstädtischen Liberalismus zusätzlich vermarkten hätte lassen, veröffentlichte die Salzburger Handelskammer unter der Leitung der nachmaligen Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler neben einem lautstarken Protest gegen das Werk als solches eine kulturpolitische Grundsatzerklärung, in der folgende dialektische Aufarbeitung des Problems nachzulesen ist: Der Inhalt der Kritik - die vermeintlich schädliche und ungehörige Vermarktung des Genius loci - gehört schon längst zum abgestandenen Repertoire von Kulturschaffenden, die sich ihrerseits einen viel zu engen Kulturbegriff vorwerfen lassen müssen.

An dieser Aussage ist zweierlei bemerkenswert: Erstens: Die Weite des Kulturbegriffs wird von der Handelskammer festgesetzt und umfaßt offensichtlich in ihrem periphären Kern alle Formen der Vermarktung sakrosankter Opfer der Apotheose. So weit, so gut. Zweitens allerdings: Die Handelskammer legt ausdrücklich keinen Wert auf erstens, sofern der Mozartkugel und ihrem wirklich existierenden Pendant, dem Mozartchampignon, Elemente zugesellt werden, die dem Kulinarischen, dem Glatten und Heilen widersprechen.
Folgerichtig kam es zum großen Schulterschluß zwischen Wirtschaft und Kronen Zeitung, dem erprobten publizistischen Flügel des Kulturkampfs. Da wurde zunächst ein britischer Tourist bemüht, der entsetzt, wie die Krone bemerkt, vor dem geschändeten Monument stand und in tadellosem Deutsch wörtlich äußerte: In London ist sicher viel möglich, aber bei einer solchen Verunglimpfung einer berühmten Persönlichkeit würde der zuständige Politiker zum Rücktritt gezwungen.
Und als der Bürgermeister gehorchte und das außergewöhnlich ästhetische Gebilde, auf welches viel von dem Klugen zutrifft, was über Christos Reichstagsverhüllung gesagt wurde, früher als vereinbart demontieren lassen wollte, da bildeten Salzburger Künstler eine Menschenkette um die Installation, um solches zu verhindern. Tags darauf stand im Massenblatt zu lesen, daß Szene-Promis wie H.C.Artmann sich bei diesem Anlaß ungebührlich aufgeführt hätten. Sie hätten nicht auf das Volk gehört, denn Kunst verstehn nur Eingeweihte, / und das sind nur die Linken heute. Und Wolf Martin, der degoutante Reimeschmied, bediente die beschworene Volksseele auch noch mit folgenden Versen: Reaktionäre fänden's nett, wenn Salzburg noch an Waggerl hätt. Einen alten Meister nannte Wolf Martin Karl Heinrich Waggerl bar jeder Ironie, H.C.Artmann hingegen brachte es bei ihm nur bis zum Szene-Promi. Schon damals also die Botschaft: Wollt Ihr Artmann, Thuswaldner etc. oder Kunst und Kultur?
Indes, Zeitungen wie die Salzburger Nachrichten oder auch der ORF mochten von Volkes Unmut nicht so recht was bemerken. Im Gegenteil, sogenannte einfache Menschen philosophierten in je charakteristischer Sprache über Ästhetik und Botschaft des Kunstwerks, kamen auf dem Mozartplatz miteinander ins Gespräch, knipsten fürs Album.
Was in gänzlich anderen Dimensionen rund um den schon angesprochenen Reichstag stattfand, traf auch für Salzburg im Herbst 1991 zu: Kunst, als Spektakel inszeniert, im öffentlichen Raum unübersehbar manifest, als Kontrast zu Sehgewohnheiten unmittelbar erlebbar, bewegte viele, sehr viele Menschen. Es gab ein Angebot, man durfte, sollte sich in Beziehung stellen und Stellung beziehen, so einem danach war.
Dieses so ausführlich erörterte Beispiel lehrt folgendes: Kulturelles Spektakel und kulturelles Spektakel sind zweierlei.

Die bunte kleinformatige Konkurrenz hat mir neulich den Unterschied zwischen Super- und Megastar erläutert. Dem Super- könnte ich rein theoretisch noch beim Einkaufen über den Weg laufen, dem Mega- überhaupt ganz ausgeschlossen nicht mehr. Denn er schließe sich selbst vollkommen von der Teilhabe an der gewöhnlichen Welt aus, sei eben ausschließlich via Medienwelt zugegen oder allenfalls bei einem Megaevent zu besichtigen.
Letzteres hinwiederum, wage ich einmal den Analogieschluß, ist für Täglich Alles ein Ereignis, dem man eigentlich nicht mehr begegnen kann. Und das ist gar nicht so falsch.
Schließlich ist ja das Publikum bei einem solchen Spektakel selbst Teil der Inszenierung. Ob da Laserkitschorgien die Donau in Linz zwingen, sich für Widerspiegelungen herzugeben, ob irgendwo in einer Stierkampfarena oder einem gewesenen Kollosseum drei Tenöre ihre Schmachtfetzen einer alles entscheidenden Aussteuerung anvertrauen, ob der Resopalcharme des Karl Moik brave Bürger dazu nötigt, kreuz und quer durch die Turnhalle marschierende pseudouniformierte Musikanten und -innen rhythmisch zu beklatschen, wie es vor der Aufzeichnung geübt wurde, es ist einerlei. Selbst eine Megaausstellung in Amsterdam oder New York, mit Kartenreservierung und zeitlich limitiertem Dreistundenkunstgenuß, als Pauschalreise buchbar wie der Opernabstecher nach Verona oder der Venedig-Karneval, ist dieselbe Medaille, und nicht einmal ihre andere Seite: Bitte drängeln, jeder nimmt und ist Teil, funktioniert.
Warum ist die Verhüllung des Reichstags in Berlin etwas anderes, warum läßt sich das unter Supermarkteinkaufswägelchen begrabene Mozartdenkmal in Salzburg mit all dem nicht vergleichen?
Zunächst ist das Publikum nicht Teil der Inszenierung, sondern inszeniert mit. Das ist ein großer Unterschied. Es geht nicht auf in der Masse der Schunkelnden, der Schlange vor dem Einlaß, der von einem Bombardement akustischer und optischer Reize Niedergestreckten. Neugierde, der Wille, sich selbst ein Urteil zu bilden, die formale Strenge und karge Präzision der Kunstwerke in ihrer Bezugnahme auf das Ambiente, auf gewohnte Sichtweisen, all das und mehr charakterisiert das Verhältnis zwischen Publikum und künstlerischem Objekt. Zustimmung oder Ablehnung sind mögliche, ja gängige Rezeption. Ein Prozeß der kritischen Auseinandersetzung, der Relativierung ursprünglicher Positionen ist keine Seltenheit. Menschen, viele Menschen kommen ins Gespräch, tauschen sich aus, haben ein Thema.
Der einzelne ist nicht Ameise, Rädchen im Getriebe, Applausautomat, Grinsekulisse. Nicht perfekte Nürnberger Inszenierungen unseligen Angedenkens fallen einem da ein, sondern Shakespearetheaterspektakel im elisabethanischen England, Calypsotents in der Karibik.
Höher, größer, weiter versus tiefer, klarer, weiter, wobei das erste `weiter' dem englischen farther, das zweite jedoch further entsprechen soll. Kulturspektakel versus Kulturspektakel.
Letzteres, das Eingangsbeispiel hat's gezeigt, wird zu Zeiten bis aufs Messer bekämpft, auch von der Tourismuswirtschaft, der es schließlich egal sein könnte, warum der Rubel rollt. Aber ganz ohne Gesellschaftspolitik geht die Chose nicht, ersparen Sie mir einen Exkurs zum Thema Sponsoring.
Gerade der mögliche demokratische Charakter eines Spektakels birgt die Gefahr, daß die verordnete Beliebigkeit, die gebotene Trennung zwischen Kunst und Leben ins Wanken geraten. Und da hört sich der Spaß auf. Da hat er sich immer aufgehört.
Stellt ein Großereignis, ein Monsterspektakel wie die heurige Frankfurter Buchmesse mit ihrem Österreichschwerpunkt einmal Literatur, diese unspektakuläre Kunst, in den Mittelpunkt, entscheiden sich jene Medien, die ihre Existenzberechtigung in der Sensation, in der Skandalisierung und im Infight zwischen sogenannten Persönlichkeiten finden, entscheidet sich etwa NEWS, statt eines langweilig gewordenen Streits zwischen Thomas Muster und dem Tennisverband oder statt der Tumorzellen eines Kleinkindes Autoren aufzubauen, muß es natürlich griffig hergehen, also untergriffig. Und weil Schriftsteller solches nicht gewohnt sind, liest man dann erstaunt halbdumme Sätze, halbrichtige Zitate, Angriffe unter der Gürtellinie gegen Kollegen von einem wie Gerhard Roth.

Natürlich hat strukturell Journalismus a la NEWS sehr viel mit Politik a la Haider zu tun. Und ein Schriftsteller, dessen Sprache auch im Interview eine semiliterarische, eine der Zuspitzung sein will, darf sich dann nicht beklagen, benutzt worden zu sein. Daß im Gefolge Leute wie Günther Nenning landauf, landab mit extemporierten seichten Vorträgen zum Thema: Österreich ist kein Mörderland. Wege und Irrwege der österreichischen Gegenwartsliteratur. Körberlgeld machen und nur Sekundärquellen wie NEWS gelten lassen, garantiert aber keines der beiläufig abgetanen Bücher gelesen haben, darüber darf man sich nicht wundern. Und wieder tun sich strukturelle Parallelen auf, wenn Haider im Profil wörtliche Zitate aus Jelineks "Die Kinder der Toten" zum besten gibt, die sich als NEWS-Schlagzeilen entpuppen, als noch griffigere Zusammenfassung eines ohnehin an griffigen Details nicht armen Romans.
Zum Spektakel wird die unspektakuläre Kunst des Schreibens erst durch die Entfernung vom Medium Buch, vom Originaltext, der ja selbst, wenn ein Satz aus einem Jelinek-Roman korrekt zitiert würde, verfälscht wird, weil die Kontextbindung, etwa die formale Ebene von pausenlosen stilisierten Sprachkaskaden, solcherart unter den Tisch fällt.
Zum Spektakel wird Literatur auch durch das Literarische Quartett, das Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt und ähnliche Medienereignisse. Soll sein. Es bleibt jedoch die Frage, geht es nicht auch anders? Müssen Übertreibungskünstler, die Großkritiker also, im Fernsehen Literatur spektakulär ins Gespräch bringen, weil sie selbst keinen Platz mehr findet? Müssen die Spannungselemente eines Schiweltcuprennens, eines Formel-1-Laufs, der Kampf um die Plätze von Klagenfurt die Neugierde auf einen Text, einen Autor notwendigerweise beflügeln?

Einige Autoren und Autorinnen haben als Beitrag für die Frankfurter Buchmesse eine literarische Kurzfilmanthologie konzipiert, die vom ORF, nachdem Fördergelder aufgetrieben worden waren, weil sich der Kulturauftrag nicht rechnet, produziert wurde. Nicht die Gesamtausstrahlung in den Kunststücken, die Übernahme durch 3Sat oder den Hessischen Rundfunk sind daran bemerkenswert, sondern die Übereinkunft der mit Salzburg verbundenen Autoren und Regisseure mit dem ORF, die Fünfminutenfilme im Öffentlichen Raum der Regionalnachrichtenschiene "Salzburg heute" einzeln auszustrahlen. Zwischen dem alltäglichen Spektakel der ineinander verkeilten Autos und dem Murenabgang sowie der Party anläßlich eines Anlasses mit Prominentenwortspenden fanden sich plötzlich ungewohnte Blicke auf mögliches Alltägliches, das aber nie Thema einer solchen Sendung geworden wäre: Wie ein braver Fernsehkonsument plötzlich in die fiktiven Geschehnisse eines Tatort-Krimis verwickelt wird und sich daraus befreit; wie eine Museumseisenbahngarnitur von einem Einheimischen auf einer Kreuzung gestellt und am Weiterfahren gehindert wird, weil er sie als inexistent bezeichnet, die Eisenbahner auffordert, sich zu schleichen und sich schließlich in bester Wegelagerertradition bestechen läßt; was einem einfallen kann, wenn man den Mann am Nachbartisch im Gasthaus beobachtet; wie Fan-Sonderzüge eintreffen und die Lyrik-Fans aufgedreht ins Stadion ziehen, wo der Dichter im Leiberl mit der Aufschrift "Du holde Kunst" sich aufwärmt und vor 20.000 Leuten seine Gedichte vorträgt.
Mittlerweile ist eine Videoedition dieses Projekts erschienen, die in Frankfurt präsentiert wurde. Das Singuläre, der Mega-Event Österreichschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse war also Anlaß für ein demokratisches, weil von 140.000 Leuten jeden Mittwoch gesehenes Serienprodukt, bei dem sich die ästhetischen Kompromisse, das Ausstrahlungsumfeld betreffend, in Grenzen hielten. So könnte es gehen.
20.000 Leute werden dem Lyriker zwar nie zuhören, das möchte er wahrscheinlich auch nicht. Aber untergehen zwischen all dem Größeren, Lauteren, Spektakulärerem möchte er auch nicht. Das hat nichts mit Wehleidigkeit zu tun, im Gegenteil. Es gehört durchaus Selbstwertgefühl dazu, in dieser Zeit Gedichte zu schreiben. Hier ist noch eins, als Abschluß meines Vortrags, das Titelgedicht meines Buches:

unerhörtes gedicht
hinausschweigen
in den totenlärm
ermüdlich hinausschweigen
unerhört


Ludwig Laher, geb.1955 in Linz. Dort Schulbesuch. 1974 Übersiedlung nach Salzburg. Studium der Germanistik, Anglistik und Klassischen Philologie. Mag.phil., Dr.phil. Lebte bis 1993 als Lehrer und Schriftsteller in Salzburg, seither in St.Pantaleon/Oberösterreich.

Selbständige Buchpublikationen:

  • nicht alles fließt. Gedichte. Wien 1984
  • Always beautiful. Grenada. Vorstellung eines Landes im Hinterhof der USA. Berlin-Wien-Mülheim/R. 1989
  • Der Genius loci überzieht die Stadt. Berlin-Wien-Mülheim/R. 1992 (als Herausgeber)
  • Im Windschatten der Geschichte. Näherungen und Zuspitzungen. Essays. Salzburg 1994
  • unerhörte gedichte. Baden 1995

    Übersetzung:

  • Jacob Ross: Ein Lied für Simone, Berlin-Wien-Mülheim/R. 1993

  • Zahlreiche Anthologiebeiträge, Publikationen in Zeitschriften und Zeitungen, Arbeiten für verschiedene Rundfunkanstalten. Diverse Literaturpreise und -stipendien.

    Die im Referat erwähnte Videoanthologie BLICKBUCH 1: da schau hör mit Verfilmungen von Arbeiten I. Aichingers, H.C.Artmanns, C. Haideggers, W. Kappachers, M. Kochs, L. Lahers, F. Popps, C. Wallners und W. Wengers ist zum Selbstkostenpreis von 180 ÖS inkl.Versand bei der Salzburger Autorengruppe, Literaturhaus Eizenbergerhof, Strubergasse 23, 5020 Salzburg zu beziehen.