"Heimat" bedeutet widerspruchsfreier Raum. Für mich ist ein solcher eine absolut nicht erstrebenswerte Zone; für andere ein Grund, Kriege zu führen. "Heimat" ist das, was man nicht hat, nicht haben kann, und dennoch, als Trugbild, in Form einer einigermaßen homogenen Nachbarschaft, einer ethnisch definierten Notgemeinschaft etwa, gegen außen verteidigen kann, gegen die gröberen auffallenderen Widersprüche des unverhohlen rassistishen Kapitalismus. Insofern darf im afroamerikanischen HipHop okay sein, was im deutschen Pop nicht gelten kann. Wer, ohne in höchster existentieller Bedrängnis zu sein, den Begriff "Heimat" ins feld führt, ist ein Idiot, der entweder schon morgen in einer faschistischen Wehrsportgruppe landen wird oder gleich heute nacht in einem zwar subkulturell abgeschmeckten, aber industriell kontrollierten Freizeitknast. (Ihr wißt, wovon ich spreche.)
Das allgemeine Gefasel von "Identitäten" (geschlichtlicher wie nationaler Strickweise) ist im gleichen Sinne reaktionärer Bockmist. Fliehen wir genauso wie die "Heimat". "Politisch und sexuell anders denkend": - die grandiose Blumfeld-Losung (aus dem Song "2 oder 3 Dinge, die ich von Dir weiß") bringt es bestens auf den Punkt. Während sich die Bands des innovativen englischen Too Pure Labels (Stereolab, Pram, Moonshake, Laika) am deutschen Kraut Rock der sechziger und siebziger Jahre üben und damit allem rest-anorakigen, Post-C-86-Weekly-Wimp-Hype-Inseltum entkommen, ja die englische Popmusik nach all den öden Jahren wieder hochinteresant und aufregend werden lassen, ist es auch für deutsche Bands nach wie vor unerläßlich, fremdzugehen, sich das mitunter entlegenste anzueignen, sich gleichzeitig dessen, was zum eigenen geworden ist, zu entledigen, und immer so weiter.
Die permanente Kulturrevolution des Großen Vorsitzenden Mao im tiefen Vertrauen auf die Positive Power des Diederichsenschen "Produktiven Mißverstehens". Die HipHop-Elemente in der neuen Musik der sensationellen Goldenen Zitronen etwa, zu hören auf ihrem jüngsten Album "Das bißchen Totschlag", - wie wohltuend unterscheiden sie sich von den peinlichen Versuchen des Gros deutscher Kitsch-HipHopper, das amerikanische Original zu kopieren (oder gar zu übertreffen). Wie klasse auch das neue Album "Hauptsache Musik" von Mutter aus Berlin, die sich durch den Genuß der bürgerlich-popistischen Platten der Mamas & The Papas aus der allzu vertraut gewordenen Geräuschheimat ewiger Kiez-Berliner Endzeit katapultieren und dabei, einem revolutionären Abfallprodukt aus der Weltraumforschung gleich einen supertollen, hochwillkommenen neuen Bastard geschaffen, nein, feingeschliffen haben: Radikalen Easy Listening Underground Pop deutscher Zunge. (Aber eben nicht deutscher Nation.)
Schon tief im neunzehnten Jahrhundert begab sich ein preußischer Kapellmeister aus Berlin an den Hof von Honolulu. Der damalige hawaiianische König hatte ihn gerufen, die reichhaltige Folklore seines Landes zu Papier zu bringen. Da nun aber der Berliner nicht nur der Notenschrift mächtig war, sondern auch ein leidenschaftlicher Kapellmeister, übertrug er die, mit verlaub, monotonen Trommeleien der Polynesier in die romantische Polyphonie mitteleuropäischer Funktionsharmonik, stellte eine mitreißende Hofkapelle zusammen und beglückte König und Volk mit einer völlig neuartigen Musik. Statt Trommeln und "primitiven" Chants gab es die "elaborierten" Gitarren der portugiesischen Seefahrer zu hören, Schubertsches Blech, Beethovensche Chöre undsoweiter. Was die Südseeinsulaner nur noch ein bißchen ihrerseits zu manipulieren brauchten, mit Taschenmessern oder Kämmen etwa, die sie über die Saiten ihrer auf die Oberschenkel gelegten Gitarren gleiten ließen, und schon hatte man, das, was heute alle Welt als "Hawaii-Musik" bezeichnet: Eines alles andere als "echte" Volksmusik, sondern ein verantwortungsloses Gebräu von größter Schönheit, "volkstümliche Musik" (zu der Du "Pop" sagen darfst), - nicht zuletzt durch einen preußischen Kapellmeister begründet, der den verlockenden Mißverständnissen der Südsse in konstruktivster (gleichzeitig dekonstruktivistischer) Weise aufgesessen war. Wie kurz nach ihm Gauguin. Oder hundert jahre später Martin Denny.
In einer Zeit, zu welcher in den Zentren des subkulturellen Fortschritts an allen Ecken Parties mit "Incredibly Strange Music" unterfüttert werden, scheint mir auch im deutschen Underground ein popistisches Experimentieren möglich, wie man es seit den frühen Tagen der Neuen Deutschen Welle nicht mehr gesehen und gehört hat (und es auch in den U.S.A., etwa auf dem grandiosen Drag City Label, floriert, - nicht selten unter transatlantisch-historizistischer Bezugnahme auf den noch zweistelligen, ganz frühen Katalog des Londoner Rough Trade Labels). Irrelevant geworden, ja vergessen die verklemmten Rückzugsgefechte derer, die 1990 noch glaubten, ausschließlich auf Englisch singenzu können. Nicht dadurch sind diese Leute entkräftet worden, daß es sich auf Deutsch leichter, gar selbstvertständlicher singen ließe, weil einen dann endlich auch die eigenen Nachbarn im Haus verstehen könnten (wie Bernd Begemanns Argument lautete), sondern dadurch, daß der Einsatz der deutschen Sprache im traditionell und immer noch angloamerikanisch dominierten Pop eine willkommene Reibung erzeugt, die ihn zur schwierigen Sache, zur größeren Herausforderung, ja gerade zum Anti-Identifikations-Unternehmen macht. "Heimat", "Identität" war gewesen, ununterscheidbar von einer kalifornischen Post Punk Band klingen zu wollen. Oder wie Sonic Youth. Gelernt wurde auch, aus dieser Erkenntnis nicht dem verhängnisvollen Irrtum anheimzufallen, nun eine "eigenständige deutsche Popmusik" entwickeln zu müssen. (Leider abermals mit unrühmlicher Ausnahme einiger hiesiger HipHop-Zombies. Vor deren Hintergrund sich die anderen, interessanteren Ansätze natürlich klasse wedefinieren ließen.)
Wie die Neue Deutsche Welle (bereits diskurs-popistisch) auf Kurt Schwitters und Kurt Weill rekurrierte und deren fröhliche, im Dalischen Sinne "kritischen" Fehlinterpretationen der internationalen Modernen Welt, können heute aufregende Bands wie Motion, eine Schraubendrehung weiter, auf den stilistischen Treibsand von Fehlfarben und Freiwillige Selbstkontrolle bauen und intelligente, eklektisch-innovative Alben wie "Ex-Leben (Land, Meer)" vom Stapel lassen. Der Größte Anzunehmende Unfall (G.A.U) in Deutschland liegt weniger in der Gefahr, immer wieder ins bewußtlose Kopieren angloamerikanischer Vorbilder zu verfallen (was immerhin lustige Slapsticks, wenn etwa in der Dunkelheit der falsche gefickt wurde, sowie manchen dialektischen Aufschluß hervorgebracht und mitunter sogar die Gechichte bewegt hat), sondern in der ständig erneut aufkeimenden Suche nach den "Wurzeln" (im blutigen Boden) unserer Kultur.
Dieses Unternehmen hat die einzigen beiden Weltkriege entfesselt; sein kitschiger Gegenpart mit seinen bis heute im Folk-Idiom grassierenden Regionalismen ist nur die andere Seite derselben chauvinistischen Medaille "Heimat". - Lernen wir lieber von den ungestümen "Chicken Skin" Polka Combos der Native Americans in Süd-Arizona, oder von den soulvollen, böhmischen Blaskapellen in Texas, den funky treibenden, polnischen Big Bands in Chicago, den schrillen Cajun-Tanzkapellen in Südwest-Louisiana oder den jodelnden Cowboys der großen Ebenen des Mittleren Westens: Luftwurzel-Kulturen! (Hierhin wollen wir unseren Hut hängen.)
Aber ich renne ja offene Türen ein.