Dennoch, wie immer kommt dem filmischen entrée immense Bedeutung zu, vor allem, wenn dokumentarisches Material so positioniert ist.
Noch sind wir in keine erzählte Geschichte verwoben, noch funktioniert die Identifikationsmaschine nicht, während sich DIE Geschichte (die Historie) als Subtext bereits installiert hat, gewissermaßen im Untergrund schlummert.
Erst das Ende des Film offeriert eine allerdings wiederum irritierende Erklärung, deren Ambivalenz zu einem interpretatorischen Kurzschluß führen kann.
Doch dazu später, gehen wir der Reihe nach:
Die Diegese setzt im Sommer 1991 ein, zwei Italiener haben sich in das poststalinistische Albanien begeben, um dort eine Schuhfabrik zu gründen. Die treibende Kraft ist Fiore (Michele Placido), ein zynischer Geschäftsmann, in dessen Fahrwasser der jüngere Gino (Enrico Lo Verso) gerät.
Für ihr Unternehmen suchen sie einen Einheimischen und finden diesen in der Person des achzigjährigen Spiro (Carmelo di Mazzarelli), der dreißig Jahre in einem stalinistischen Straflager verbracht hat. Man hintergeht die örtlichen Behörden, setzt einen Vertrag auf.
Fiore verschwindet wieder nach Italien, überläßt die Geschäftsführung vor Ort dem jungen, unerfahrenen Gino. Doch dann verschwindet Spiro, und Gino macht sich auf die Suche.
Seine Reise in die albanische Provinz führt direkt ins Herz der Finsternis, und Amelios Film schließt indirekt an die großen Dschungelfahrten des Kinos der 70iger Jahre an.
Während allerdings Coppola (Apocalypse Now) , Herzog (Aguirre der Zorn Gottes und Fitzcarraldo) und Boorman (Deliverance) ihre Irrfahrten im außereuropäischen Bereich durchführten, tauchen wir mit Gino in ein Europa ein, das uns fremder als der Dschungel Brasiliens ist, und daran hat sich auch nach der "Öffnung" nichts geändert: Albanien ist nach wie vor auch medial absent.
Was L`America allerdings mit den obengenannten Filmen verbindet, ist die doppelbödige Struktur der Suche, die nicht nur Gegenstand der Narration ist, sondern auch den Produktionsvorgang selbst thematisiert. Da der Film in Direktton, ohne einen einzigen nachsynchronisierten Satz, zu hundert Prozent in Albanien gedreht wurde, könnte man meinen, daß Amelio nur den Spuren des Neorealismus nachgehen würde, wie im Ladro di bambini.
Doch das Normalfoto dieses Films ist dem cinemascope gewichen, der starre Kamera-Blick dem Halt suchenden Panoramaschwenk. Amelio setzt bewußt die epische Breite und Größe des Kinos als Kontrast zum kleinen Format, dessen Träger der Fernsehapparat ist, und der für die Albaner zum großen Verkünder der Lüge wird.
Über das italienische Fernsehen schleicht sich der Traum vom Reichtum, der eine Lüge ist, in die Haushalte der Albaner, während dem jungen Gino, der mit viel Geld ins Land gekommen ist, bei der Suche nach Spiro die Augen geöffnet werden.
Amelio in einem Interview über die Figur des Gino: "Er ist leider von einer extremen Unwissenheit und Ignoranz. Ihm fehlt jedes historische Wissen. So ein Junge von 35 Jahren in Italien heute, geboren in den fetten Jahren, in der Zeit des Überflusses, weiß nicht, was wir gewesen sind, weiß nicht, wer wir sind und was wir sein könnten." Gino begegnet während seiner Suche der Vergangenheit, der Historie , einerseits in der Figur Spiros selbst, der sich als Italiener nach dem faschistischen Kolonialdesaster in Albanien verstecken mußte, andererseits in der Topographie des Landes, das so aussieht, wie Italien nach dem Zweiten Weltkrieg, einige Jahre vor dem Wirtschaftswunder.
Gino wird immer mehr Spiro, so wie der einmal war: er verliert sein Geld, seinen Paß, seine Identität (auch darin ist der Vergleich mit Coppolas Film erhellend, denn auch Willard wird während seiner Suche Kurtz immer ähnlicher). Gegen Ende wird er sich auf einem Schiff wieder finden, das mit tausenden albanischen Emigranten vollgestopft ist, dort begegnet er Spiro/sich selbst: Apocalypse Now .
Am Ende steht das Bild vom Schiff, der Kreis schließt sich, den Rest kennen wir aus den Medien: Bari, August 1991, die Immigranten werden in einem Stadion zusammengepfercht, bei 40 Grad kommt es zu mehreren Auseinandersetzungen, innerhalb von wenigen Tagen wird der Großteil wieder nach Albanien zurückgeschickt werden.
Dieses ausgesparte Ende rückt den Beginn des Filmes in ein neues Licht und bestätigt die Kontinuität einer faschistoiden, allerdings besser kaschierten, politischen Strategie.
L`America ist kein Film über Albanien, sondern ein Film über das moderne Italien.