IM VERGESSEN BEWAHRT

Wahnsinn und Liebe in Hiroshima -
ein Erinnerungsgedanke von Astrid Bartsch, Oktober 95

Jede Sekunde erlebt ihr Jubiläum- minütlich, stündlich, täglich, jährlich. So will es die menschliche Zeitrechnung. Danach verlangt unsere Vergesslichkeit. Wer mit Erinnerung begabt ist, der kennt auch das Vergessen.
Die Sekunde der Atombombenexplosion in Hiroshima wurde nicht durch die Hitze verbrannt, auch nicht der Lärm der Schreie hat sie verstummen lassen. Sie ist wieder präsent. Ein halbes Jahrhundert später ist sie erschreckender und aktueller denn je.

Eine Französin in Hiroshima- eine Protagonistin. Namenlos und unbekannt spielt sie sich durch die Filmnovelle Hiroshima mon amour . Sie begibt sich in eine Umarmung, gewöhnlich und alltäglich. Es ist ein Japaner, mit dem sie ein amouröses Abenteuer eingeht- für eine Nacht, an einem Ort. Doch hier hat jedes Wort seinen ganz besonderen zusätzlichen Sinn- hier in Hiroshima. Hier strahlt im Jahre 1957 noch immer der Tod aus jedem Gedanken. Zwei Menschen, konträr in Rasse, Weltanschauung und Geschichte, finden sich, um sich sogleich wieder von einander zu trennen. Ihre Unterhaltungen beziehen sich auf Hiroshima, doch immer wieder siegt ihre eigene kurze Geschichte- ihr Einzelschicksal. Beide finden in ihrer Erinnerung wieder zurück in ihren ganz persönlichen kleinen Tod, den sie im Krieg gestorben sind. Er war Soldat. Sie wurde in ihrer Heimat Nevers wegen der Liebe zu einem Deutschen geächtet, kahlgeschoren und in einem Keller versteckt- aus dem Gedächtnis verbannt. Sie meint, alles über Hiroshima im Museum gesehen zu haben: die Hitze auf dem Friedensplatz, die Verstümmelten, Verkrüppelten, das geschmolzene Eisen, das verbrannte Fleisch. Doch er behauptet, sie habe nichts gesehen. Gar nichts. (´Alles, was man tun kann, ist, darüber zu sprechen, wie unmöglich es ist, über Hiroshima zu sprechen.`) Am Morgen erscheint sie- gekleidet als Rote-Kreuz-Schwester, in der Uniform der offiziellen Tugend. Sie mimt in einem Film, der in Hiroshima gedreht wird, die ´ewige Schwester in einem ewigen Krieg`. Die Französin und der Japaner beschließen, sich nicht wieder zu sehen. Doch inneres Verlangen bringt sie wieder zusammen, bis sie abreist- zurück nach Frankreich. Sie werden ihre Namen nie kennen, sie nennen sich Nevers und Hiroshima.

Ein Rollenspiel, dokumentarisch-dramatisch-romantisch, ein Bildermeer aus Worten. ´Atomwolke. Das Atomium rollt ab. Fischer, von Radioaktivität betroffen. Ein Fisch, nicht genießbar. Tausende von nicht genießbaren Fischen werden eingegraben.`
Hiroshima mon amour ist eine Filmvorlage, die eigentlich keiner Visualisation bedurft hätte. Schwarz-Weiß sind uns die überlieferten Bilder der Atombombenexplosion nur allzu lebhaft in Erinnerung. Schwarz auf Weiß hat Duras ihre Gedanken schriftlich gesammelt und von diesem Kontrast lebt auch der Inhalt der Novelle. Der übelriechende Hauch von Vergessen verfliegt beim Blättern der Seiten. Jedes Wort ein Bild, jedes Bild eine Erinnerung.

Doch das Buch ist kaum zugeschlagen, der Film erreicht gerade seinen Nachspann. Da breitet das Vergessen wieder seinen schwarzen Mantel aus und bewahrt darunter all die verstrichenen Sekunden. Und diese Sekunden bewahren Menschen, Tiere, Pflanzen und Atolle.

"Hiroshima mon amour" von Marguerite Duras, Suhrkamp Verlag, 1961