DIE MÖRDERISCHEN FLÜGE DER PARADIESVÖGEL

eine heimstückische Kriminalgroteske erste Arbeitsfassung Juni 95
Harald Gebhartl, Sommer 95
1 BORSKI EINS
Swar kalt. Swar Nacht. Swar nass. Swar Regen. Wie eben in schlechten Romanen kniete er auf Asfalt, auf nassem, auf dreckig nassem Trottoir, was er zu spüren begann, weil sich die Nässe, die Kälte, langsam in sein Beinfleisch, seine Knie, in seine Knöchel saugte, frass, hinaufzupochen begann bis ins Gehirn.
Das war vermutlich der Grund, warum sich die Schleier, die kosmischen, die dichten nebligen in seinem Kopf, kopfzentralenzufolge auch vor seinen Augen, verzogen.
Irgendwie ebenso, als würde er alltäglichensinns in seinem Bett aufwachen, wie oft in seiner Früh, aus seinem tiefen Schlaf, wie immer verwundert, dass die Welt, imfalle die Frühmorgenwelt, die Radioweckerzeit also, die beschissene, sich wieder sotief hineingeätzt hatte in seinen Kopf (zentralenzufolge). Dass er tatsächlich wieder herauswachen hatte müssen aus dieser angenehmen bewusstlosen Schlafestiefe und etwas Arschweltwirkliches spüren musste. Seinen Partnerkörper zumbeispiel, den riechenden, nach eingetrocknetem Schweisssalz (wegen der Palmasnachtsynthetikwäsche). Denjenigen mit dieser ausströmenden Verwesungssüsslichkeit, wegen dem gestern wieimmer misslungen schnell gekochten und genausoeben gegessenen und übernacht schwer und schlimm verdauten Mikrowellenherddrecksessen. Verwundert, dass er tatsächlich wieder etwas sehen musste nach einer um den Verstand geträumten Nacht, diese ganze wirkliche Schlafzimmerscheusslichkeit, in die halt ein jeder hineinschlittert im Laufe der Zeit, wenn er einmal üblichensinns so irgendeinem menschlichen Menschen irgendwann irgendsoein Jawort gegeben hatte, von dem man dann folglich in Wirklichkeit nur mühsam mehr wegkam. Anstatt vernünftigerweise eben wirklichkeitsundmenschenfrei, irgendwo im Tiefschlaf, im Traumkoma, im Weltschatten, im schliesslich warmen und dunklen eigenen Kopfnebel, verblieben zu sein...

Nun war es aber über die Grenzen seiner Gehirnschale hinaus kalt und nass und trottoirmässig bis tief ins verwöhnte Beinfleisch hinein asfaltrauh, also alles noch schlimmer vermutlich als sein Schlafzimmer, als irgendetwas bekanntes Vertrautes, aber ordentlich Verachtetes halt... Wieauchimmer, diese Nebel in seinem Kopf lichteten sich jetzt ähnlich wie in irgendeiner Frühe im eigenen Schlafzimmer und entliessen ihn jetzteben in eine unschlafzimmermässig nachtschwarze Kälte hinein, in eine ihm völlig unbekannte fremde Umgebung, auf irgendsoein Dutzendtrottoir hin, neben einer unbefahrenen nassspiegelnden üblichen, nach Scheisse und Urin dampfenden Stadtstrasse, die ein paar einsame unbedeutende Lichter müde reflektierte. Weit und breit kein Mensch, gottseidank, kein Leben, keine Schritte, nichts, nur tiefe menschenleere seelenlose Nacht... und eine zwischen zwei dreckig überladene Mülltonnen hingestreckte alte Frau. Regenwasser ging in Bächen durch die tiefen Furchen in ihrem alten Gesicht und nahm aufgeweichtgelöste Schminke über ihren Hals hin mit, in den Kragen ihrer irgendwann einmal weisser als weiss gewesenen Bluse hinein. Mehr Schminke, als für eine Frau dieses Alters, auch vor dem zwischen zwei Mülltonnen hingestreckten Zustand, hätte schick gewesen sein können, und jetzt erst recht schon gar nicht, umstandshingestreckt, im nunmehr allgemein auseinanderrinnenden Nachhineinzustand...
Nun: Mülltonnendreck und Regenwasser und also vielzuviel Schminke und Blut und wohl stadtstrassenübliche Pisseundscheissereste vermischten sich zu einem nachtschwarzen Brei auf Asfalt, in dem sie dalag und übel roch.
Mit der rechten Hand hielt die Alte starrverkrampft eine viel zu grosse schwere schwarze Lederhandtasche festgekrallt, deren metallumrahmte Lederhandtaschenverschlussklappe wie ein mageninhaltspeiendes Maul offenstand. Demzufolge war der gesamte Inhalt der grossen alten Lederhandtasche grossflächig verstreut hingespien. Zwischen zwei Mülltonnen, zwischen allerhand tatsächlich in Wirklichkeit Gespieenem und Abfall und Müll und dem Altenkörper. Die Haare der Alten waren nicht mehr nur altenblauspülungsmässig friseurschadenfroh violett und klatschnass, sondern stumpf nachtgrau und verklebt wie in Aspik vom gestockten Rentnerblut. Man hatte ihr den Schädel wuchtig zertrümmert und seltsamerweise beide Ohren abgeschnitten.
Borskis Nebel lichteten sich also und er begann augenblicklich, als er nun diese im allgemeinen unschlafzimmermässige, diese sozusagen wirkliche Aussenweltsituation begriffen hatte, seinen Kopf auf die Brust der Alten zu pressen, so als müsste er bürgerpflichtig noch einkleinwenig Leben aus ihr heraushören wollen, um sie zivilisiertensinns selbstverständlicherweise zu retten, die Alte, sie wiederzubeleben, anstandsgerecht. Borski. Der RetterBorski. Das österreichische Herz Borski. Der ganz normale SuperBorski. Aber da war nichts mehr in der Alten. Scheisse sagte Borski noch ein wenig abwesend schlaftrunken aus seinen abhebenden Kopfnebeln heraus in dieses wirkliche Leben hinein. Wahrscheinlich abgeklatscht und ausgeraubt von diesen konsumverpesteten jungen Menschen, die sich so gar nicht mehr auskennen tun in dieser Heutzutagewelt da, keine Ahnung mehr was man tun darf und was nicht, alles fernsehbrutal schmerzundgefühllos, verlassen von allem bürgerlebendigem Menschsein. Schluchz. Diese armen kleinen Schweinekinder, diese liebeskranken channelhoppenden Hirnundzeitsurfopfer. Borski spritzte seine sozialfeuchten Gedanken in die nachtschwarze Luft. Diese verlassenen verlorenen Elternparadiesjäger, da zwischen hundert Weltprogrammen, grausam überzeitbelichtet und imgrunde schuldlos an allem. Die sozialträumende Körperschaft Borski. Der unerwachsene Einheimische. Der mitfühlende Borski, der Paradiespolitiker. Mein Gott, in meiner Zeit gab es zwei Programme, um in die Ferne zu schauen. Das reichte grundsätzlich auch schon, um einen gesunden Menschenverstand völlig zu ruinieren. Schwarz und weiss... Möglicherweise dürfte es nur ein Programm geben. Das wäre das Entscheidungsparadies. Schwarz oder weiss...
Borski stand auf. Mit der alten Vettel war es längst vorbei. Arme alte Oma sagte Borski, wärst auch lieber vor dem Fernseher gestorben. So ein Unglück. Borski war aufgestanden wie gesagt... kniete aber jetzt nocheinmal nieder und küsste die ohrenlose Leiche leidenschaftlich lippengepresst fest auf den totalten fischkalten Mund. Pfui Teufel, egal, das musste sie wohl verdient haben in ihrem vermutlich gar nicht so einfachen Nachkriegsleben, die Alte, bestimmt. Borski, die brave Geschichtssumme. Denkbar dankbar österreichisch. Das war ja alles nicht so leicht gewesen damals. Der Wiederaufbau, den Grundstein zu setzen für so eine Welt dahierjetzt... Er würde ja wahrscheinlich gar nicht so gut leben können dahierjetzt, ohne so einen bravgewesenen Menschen. Er küsste die Leiche dankwissend solange bis er ihren zersetzten fauligen Speichel spürte. Dann entfernte er seine Lippen von den ihren und wusste gleichzeitig, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte... Er klappte in der Folge den Verschluss der grossen alten Lederhandtasche zu und stand wieder auf. Er nahm den Altenkorpus ganzkörpermässig im vielseits bewährtundbekannten Rautekgriff. Ein hierzulande zuhauf angewandter Griff, der heimischen Rotsowieschwarzkreuzhelfern, das Heben fettschwerer Leichenkörper leichter macht. Borski hob ihn also hoch, den fettschwer nassen Altenkörper, und knickte ihn mit einiger Mühe, knochenkrachend zerberstend gegen die Totenstarre, aber mit schliesslich erfolgbringender weil muskelkräftiger Vehemenz, im Unterleib so zusammen, dass das gesamte Körperfleisch ein eingesessenes EL ergab. Diesen elförmigen Fleischbuchstaben setzte er nun schliesslich aufrecht gegen eine der Mülltonnen, sodass der Altenkörper, vorher stocksteifgerade und flach wie ein Brett und leblos und würdelos in den eigenen endgültigen Ausscheidungen vermodernd gewesen, jetzt etwas Aufrechtes, Würdevolles, Ordentliches, beinahe Lebendiges bekam. Weiters richtete Borski dem Altenkörper den schiefhängenden Kopf ohne Ohren gerade und drückte ihm die weitoffenen starrstaunenden toten Augen zu. Die vom Totenkörper weggestreckte linke Hand, die taschenlos zusammengekrallte, hob er vom Boden weg und drückte sie, so wie die Rechte es schon totenstarr tat, um den Griff der grossen alten Lederhandtasche. Die Lederhandtasche stellte er nun, jetzt am Griff rentnerinnengerecht von zwei braungefleckten Händen festgehalten, auf den Schoss des Altenkörpers hin. Es sah jetzt beinahe so aus, als würde eine alte Dame während einer nächtlichen langen einsamen Busfahrt, übers Land zu ihren seltenbesuchten Kindern und Enkeln in die ferne Stadt hin, auf ihrem Sitz eingenickt sein, nicht ohne wohlweislich ihre mit Schokoladenschätzen gefüllte Handtasche zu sichern. Einzigundalleine die obdachlos rinnenwollende Nässe, die das alte tote Gesicht ab und aufschwemmende, und sicherlich auch die fehlenden Ohren, störten dieses Bild. So schnappte Borski sich also gutherzig einen weggeworfenen, halbwegs trockenen Hochglanzzeitschriftenfetzen aus einer der Mülltonnen heraus und machte in müheloser Bastelarbeit, ein grosses, die aufgemachten Gehörgänge des Altenkopfes zur Gänze verdeckendes, durch den Lackhochglanz praktisch wasserabweisendes Hochglanzzeitschriftentütenhütchen daraus, welches er gutmütig auf den zerschlagenen zerschnittenen Kopf des Altenkörpers setzte. Dem so behüteten Kopf drückte er mit seinen beiden Daumen noch ein Lächeln ins Gesicht, das blieb. Dann sagte er leise, Adios, Oma Ohrnlos! und salutierte ein bisschen nationalmenschenverliebt dabei und malte darüberhinaus, Adios, Oma Ohrnlos, mit einem vermutlich beim Raubmord aus der Lederhandtasche herausgespieenen und jetzt von rasenden Regentropfen angetrieben, sinnlos in einer Lache herumtanzenden Altenlippenstift (nachdem er denselben zu einer Funktiontüchtigkeit geöffnet hatte), malte also laut und deutlich auf das Hochglanzhütchen, welches jetzt bis weit über die blutkrustigübriggebliebenen dunklen Ohrenhöhlen gezogen war (und auf dem kaputten Kopf der Alten soziallieb Wasser abhielt), Adios, Oma Ohrnlos.

Borski schloss den Lippenstift wieder zu und steckte ihn in seine Manteltasche und ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen, fort in den Regen. Wo bin ich da bloss wieder hingeraten, dachte er in die ziemlich unbekannte dunkle Gegend hinein. Erst jetzt spürte er diesen furchtbar trockenen und bleiernen Geschmack im Mund. Einen Geschmack, der wie giftige Pilzfäden bis in alle Fasern des Gehirns hineinzuwuchern pflegt, wenn man Stunden zuvor schweren Alkohol getrunken hatte (und nicht zu wenig wahrscheinlich). Er wusste darüberhinaus keinen Funken mehr von dem, was er Stunden zuvor getan oder getrunken hatte und wollte auch nichts mehr davon wissen. Zwischen dem Hineintreten, dem Wegtreten in so ein kopfeigenes Nebelnichts hinein, und dem Wiederhervortauchen daraus, in diese arschkalte beschissene wirkliche unselige Aussenwelt, wieundwoauchimmer, konnte ja nur ein Stück Glück gelegen haben, ein paradiesisches. Ein himmlisches tierisches Nichts, was letztlich einzigundalleine das wirkliche Paradies bedeuten konnte, weil ja in dem Moment, in dem ein Borski, irgendein so ein Mensch halt, wirklich in die richtige Welt hinein zu denken beginnen muss, ja das Paradies schon augenblicklich automatisch verloren zu sein hat, in dem Moment klarerweise. Borski ging jetzt irgendwie leer und deshalb wieder erleichtert seinen beiden Füssen nach, die ihn ziemlich sicher, wie von alleine, mit dem Instinkt treuer gescheiter Haustiere ausgestattet, in jene Gegend zurückbringen würden, die er kannte oben im Hirn. Dorthin, wo er zuhause war in dieser nachtnassen schlaftrunkenen feindlichen Stadt. Seinen beiden Füssen nach, Lassie und Fury, die ihm Sicherheit gaben in dieser Zeit, in dieser fremden wirklichen Welt. Schliesslich waren die beiden näher an der Mutter Erde als sein Hirn, das er nicht mochte, wenn es so weit oben am Körper, im Kopf ganz oben thronend, am höchsten Gesamtkörperpunkt quasi, ungewollt hineintauchen musste in diese schwarze ekelerregend ätzende Luft dieser heutigen Stadt. Er fühlte soetwas, wieimmer wenn ihn so ein paradiesischmütterliches warmes unerklärbares Nichts zuerst irgendwie eingebettet und weggeholt und dann wieder hinausgeborengespuckt hatte...

Harald Gebhartl - Eine kleine Biographie
Geboren am 1. April 1957, bis 1979 Student, Lehrer, Bildnerischer Erzieher, danach über die Bildende Kunst (bild & wort, Performance-Inszenierungen, Comics-Zeichnungen) und über die Rockmusik (Rockmusical-Texte, Sänger) zum Theater gekommen. Spielstatt-Gründungsmitglied. Seit 1979 hauptsächlich als Autor und Regisseur, mit Unterbrechungen auch als Lehrer tätig. 1989 Gründungsmitglied des Theater Phönix, bis 1991 Künstlerischer Leiter des Theater Phönix. Ab 1991 freier Autor und Regisseur. 1992 Dramatikerstipendium für "Robert K.". Preis der Literar-Mechana 1995.

15 Inszenierungen als Regisseur, darunter Goethe/"Faust", Heiner Müller/"Quartett", Rainer Werner Fassbinder/"Preparadise sorry now", Harald Kislinger/"Vom Fleischhacken und Liebhaben", Ars Electronica Beitrag 1992, Harald Kislinger/ "Die Vollblut Stars" im Linzer Kellertheater (1994), Literaturpeepshow "Heute nacht oder Nie" (1994), "Clockwork Orange" / Anthony Burgess (1994) und "PEEPshow 2 - Die Rache der gebrochenen Herzen" (1995) im Theater Phönix.

10 Stücke des Autors Gebhartl bisher uraufgeführt, darunter: "strandzeit" (Schiffswerft Linz), "titanic oder sink positiv" (Theater Phönix Linz), "mein kopf ist ein aquarium" (Ars Electronica Linz), "vatertag" (St. Pölten/Wien), "Was geschah wirklich mit Robert K." (Landestheater Linz), "Lucky Strike" (Theater Phönix, Februar 1995)

"Die mörderischen Flüge der Paradisvögel" (Roman/unveröffentlicht) 1995.