Aus den Tagebüchern des Wirklichen Rates und Kulturphilosophen

Ernst Joachim Getter.

Florian Sedmak

15.03.
Der Frühling setzt mir zu. Ständig wechselndes Wetter ("äußerer Zustand der Lufthülle") - Sonne, Wolkenmassen, vom Wind in Fetzen gerissen. Temperaturschwankungen. Es scheint die Menschen fiebrig zu machen. Äußerste Gereiztheit in den Straßen. Die aufgebaute Aggression entlädt sich überall, wo sich die Menschenströme konzentrieren, stauen. Gestern wurde wieder ein Molochier auf offener Straße erschlagen. Wohin soll das noch führen? Konnte lange nach Mitternacht nicht einschlafen. Nicht einmal die Goldberg-Variationen brachten den Frieden, der sich sonst immer einstellt, wenn das Cembalo sanft plätschert wie ein Wiesenbach. Es ist etwas in Bewegung.

29.03.
Zellezitz hat angerufen, ob ich nicht in der "Tribüne" publizieren wolle. Meine Forschungen über den Todestrieb in der Geschichte scheinen endlich auf Resonanz zu stoßen. Allerdings könne er das Erscheinen nicht garantieren - die "Tribüne" sei in Finanznöte geraten und die zuständigen Behörden äußerst vorsichtig geworden, was das Mäzenatentum betrifft.
Nachmittags Spaziergang im Park, fast vorsommerliche Wärme. Die Passanten hasten wie im Gleichschritt. Es ist eine uniformierte Zeit, Individuen sind kaum von einander zu unterscheiden. Auffällig viele grell-gelbe Schals und Regenschirme. Die Parteigänger mehren sich.
Kollege H. hat, wie mir heute bei Lektüre der "Rundschau" aufgefallen ist, einige interessante Quellen betreffs Untergang und Ende des mensurischen Imperiums entdeckt. Anrufen!

24.04.
Ungeheuerliches. H. vor einigen Tagen nach mehrmaligem Aufschieben und Vergessen endlich erreicht. Er schlug meine Bitte, mir Material zukommen zu lassen, rundheraus ab und erklärte, er wolle mich zwar nicht brüskieren und meine es auch keineswegs persönlich, könne es sich aber hinsichtlich seiner anstehenden Beförderung nicht leisten, mir in irgendeiner Weise dienlich zu sein. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit teilte er mir mit, daß es ihm selbst nicht recht sei, auf alte und lang gepflegte Kontakte so plötzlich zu verzichten, doch da er nun einmal Familie habe, dürfe er nichts riskieren und müsse mit der Zeit gehen.
Es läßt mir keine Ruhe. Gehe stundenlang im Salon auf und ab. Nur die Nachbarn im Souterrain unter mir reißen mich aus diesem fast schon rituellen Kreisen, wenn sie mit dem Besen klopfend die Nachtruhe einmahnen. Merke dann, wie erschöpft ich bin, finde aber keine Ruhe. Nächtelang rauchend am Fenster; kann die Dunkelheit, in der ich doch sonst immer am regsten war, nicht mehr ertragen.

13.05.
Wieder Zusammenstöße in der Innenstadt. Mehrere Verletzte, zum Teil schwer. Sollte mich bei einem Kollegen aus der Naturwissenschaft mit dem (angeblichen) Thanatos der Lemminge kundig machen. Der Hausmeister beäugt mich schel. Ist seit kurzem durch den gelben Schal als Parteimitglied ausgewiesen. Vorsicht!
Nachtrag: Zu später Stunde noch ein Anruf. Eine mir unbekannte Stimme herrschte mich an, Zurückhaltung zu üben. Meldung bei der Sicherheitswache gemacht. Ich solle mich nicht darum kümmern, es habe sich sicher nur um einen Jux gehandelt.

30.06.
Die Nächte sind mir vergällt. Immer wieder Anrufe, bei denen sich niemand meldet. Gestern beim Einkauf in der kleinen Filiale in der Herzstraße ein Zwischenfall: Ein Angehöriger der Unterschicht, durch seine blauen Leinenhosen als Arbeiter ausgewiesen, drängte sich vor und rempelte mich unsanft. Auf meinen Protest erwiderte er, ich möge "nur mein Maul halten und unsichtbar bleiben". Mit meinesgleichen wäre nämlich bald Schluß. Keine Widerworte der Umstehenden. Vermied aufgrund meiner Konstitution jede Auseinandersetzung und werde künftig woanders einkaufen.

20.07.
Die "Tribüne" hat ihr Erscheinen nun endgültig eingestellt - die Nummer des vorigen Quartals war ohnehin nur mehr 20 Seiten dünn gewesen. Eine Schande, daß dieses verdiente Forum verschwinden muß. Und schlimmer noch, daß es niemanden zu stören scheint.

15.08.
Ministerialrat J. ließ mich brieflich wissen, daß meine Publikation nun doch nicht gefördert werden könne, und bat um Verständnis: "Wie Sie sicher einsehen werden, dürfen wir gerade jetzt kein Risiko eingehen und ihnen so leicht Angriffsflächen bieten." Mein Verleger signalisierte, daß er finanziell "zu schwachbrüstig" sei und die Veröffentlichung nicht allein werde möglich machen können. Empfehlung, einen oder mehrere Gönner zu suchen.

31.09.
Kurz vor der totalen Verzweiflung. Meine Bitten um Unterstützung für die Publikation stoßen auf taube Ohren. Die wenigsten Briefe werden beantwortet, Verleugnungen am Telefon. Nur S. war Manns genug, klar und deutlich abzusagen. Was nützt mir das Verständnis. Zeuge einer Amtshandlung geworden. Bei einer der zahlreichen Kundgebungen dieser Tage, deren Zeuge ich zufällig im Park wurde, griffen sich zwei Ordnungshüter drei junge Menschen, die ein Transparent mit der Aufschrift "Kämpft dagegen an! Nie wieder!" entrollt hatten, aus der Menge und rückten ihnen fast schon brutal zu Leibe. Ich nahm meinen Mut zusammen - wiewohl ich derlei nie werde selbstverständlich tun können, ein Mangel - und versuchte zu intervenieren. Nach rüden Worten wurden meine Personalien festgestellt (ein Glück, daß ich meinen Ausweis in der Brieftasche hatte!), erklärte mir einer der Beamten, unbeschadet meines Titels möge ich mich um meinen "eigenen Dreck" kümmern und verwies mich des Platzes.
Im Weggehen hörte ich Schreie. Als ich mich umdrehte, sah ich eine junge Frau unter einem Knüppelschlag eines Beamten zusammenbrechen.
Die Brutalisierung allethalben verstört mich. Gehe kaum mehr außer Haus.

14.11.
Am Ende meines Mutes. Verfüge nicht einmal mehr über genug Antrieb, Einträge zu machen. Fürchte, daß ich unfreiwillig mit diesen Zeilen zum Zeitzeugen werde. Als mir gestern Abend der Tee ausgegangen war, klingelte ich bei Horvitzka nebenan. Niemand öffnete. Nach mehrmaligem Klingeln kam (zufällig?) der Hausmeister um die Ecke. Hämisch grinsend - was für eine Fratze! Wie aus dem Pandämonium! - eröffnete er mir, die Horvitzkas seien schon längst abgeholt worden. (Daher also der Aufruhr in der Nacht zum Samstag letzte Woche!), und ich werde wohl der nächste sein. Noch nie hat wohl ein Mensch so zynisch "Gute Nacht" gesagt.
Was soll nur werden?

19.12.
Sie haben die Macht. Mein Verleger rief an, um sich zu verabschieden; ich erreiche niemand mehr am Telefon. "Sie gehen freiwillig!", triumphiert ihre Zeitung. Nacht für Nacht Aufmärsche mit Parolengebrüll. Unverbindliche Anfrage bei drei Reiseangenturen. Alles ausgebucht. Eiskalt, verschneit. Weniger erlösende Weihnachten wird es nie gegeben haben.