Linz Rand

Ein Glasscherbenviertel ist ein
Glasscherbenviertel ist ein ...

Das Franckviertel als Linz Rand? Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist das Franckviertel am Tag relativ schnell zu erreichen. Der 25er und der 27er fahren durch, der 45er fährt hin. Einmal ausgestiegen, steht man aber schnell an. Eingezwängt zwischen Mühlkreisautobahn, Chemie Linz , VÖEST und den Gleisen der Westbahn steckt das Viertel mit seinen BewohnerInnen in der Sackgasse. Dieser Eindruck wird stadteinwärts durch das Designcenter noch verstärkt, das eine neue Grenze markiert: Ab hier gibt Linz vor, keine Industriestadt mehr zu sein.

Städteplanerisch war das mit dem Designcenter natürlich anders gemeint. Verbindungsglied sollte es symbolisieren zwischen der traditionsreichen Vergangenheit der Stahlstadt und der hoffnungsfrohen Zukunft der - ja was eigentlich? Was gestalterisch durch die gleichsam schwebende Konstruktion von massivem Stahl und viel Glas eingelöst sein mag, hat sich inhaltlich nicht erfüllt. Im Designcenter finden Touristik - und Esoterikmessen statt, Parteiveranstaltungen von SPÖ bis FPÖ und Schmuckausstellungen. Soweit zur neuen Identität von Linz.
Zurück bleibt das Frankviertel mit seiner langen Geschichte als Arbeiterstadt. Im Franckviertel stinkt es seit mehr als 100 Jahren. Zuerst nach Knochenmehl, dann nach der Zichorienkaffeerösterei, später kamen die Schwaden der Stickstoffwerke und VÖEST. Jetzt stinkt es auch noch nach Autobahn, die immer näher an das Viertel heranrückt und schon wieder ein paar Schrebergärten niedergewalzt hat.

Eine objektive Annäherung an diesen Linz Rand ist schwer. Immerhin ist die Großmutter als Eisenbahnerkind direkt neben der Westbahn aufgewachsen, hat die Mutter einen Teil ihrer Kindheit in der Ebenhochstraße verbracht, ist die Urgroßmutter in der Franckstraße gestorben und leben noch immer Onkeln, Tanten, Großonkeln, und entferntere Verwandtschaft in der Gegend. Die eigene Tochter hat von der Urgroßmutter Kinderreime gelernt, die schon die Franckviertelkinder heruntergeratscht haben, als sie noch freien Zugang zur Donau hatten, St. Peter ein Dorf war und ein beliebtes Ausflugsgebiet.

Rotschädli Rotschädli, ging, ging, ging
fahr ma mit der Dampfmaschin
Dampfmaschin is brocha,
fahr ma nächste Wocha
nächste Wocha is scho zspät,
sogt da Papa, des is bled.

Diese familiäre Verbandelung birgt die Gefahr der Verklärung,obwohl das Franckviertel für die gebürtige Urfahranerin nie zu einem Quartier geworden ist, zumal Pflichtbesuche eher Abwehrhaltung provozierten. Andererseit schärft subjektive Vertrautheit den Blick für Neues und unverändert Gebliebenes.
Den 45er verlasse ich beim Europaplatz. Mich zieht es ins Hinterland des Franckviertels, an der KFZ - Prüfstelle vorbei in die Garnisonstraße, wo das Militärkommando auf der rechten Seite die männlichen Kinder der Gemeindebauten auf der linken Seite bald wieder in NATO - Kriege schicken könnte und dabei garantiert keinen Unterschied zwischen in - und ausländischen Kindern machen wird.

Das Franckviertel ist ein Glasscherbenviertel mit Tradition. Bereits in den dreißiger Jahren war es verschrien. Damals ging es den Bürgerlichen darum, proletarische Kultur und Lebensweise zu denunzieren. Ein "Glasscherbenviertel" ist es geblieben, aber den Franckviertlern ist das Selbstbewußtsein abhanden gekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Hier leben auf engem Raum vor allem jene, die in den Sozialschmarotzerdebatten der letzten 15 Jahre als Minderleister angeprangert wurden. Eisenbahner mit ihren einzigartigen Privilegien, Beschäftigte von VÖEST und Chemie Linz mit den unverschämten Sozialleistungen, Arbeitslose und AusländerInnen sowieso, FrühpensionistInnen, die am Budgetdesaster schuld sind, Kinderreiche, die sich wegen der Familienbeihilfe durchs Leben pudern, ledige Mütter ,die sich mit dem Karenzgeld ein schönes Leben machen ... und immer das Unbehagen, wer wird als nächster ausgestellt. Sieht man sich derart lange und gezielt Verleumdung und Verhöhnung ausgesetzt, ohne daß irgendjemand das Bild zurechtrückt, geht das selbstbewußte Wir - Gefühl zugunsten eines defensiven "Wir nicht, aber die anderen" verloren.
In den letzten Jahren wurde auch im Franckviertel viel saniert. Eine begehrte Wohngegend ist es deswegen noch lange nicht. Die Gemeindebauten zwischen Garnisonstraße und Planckstraße wurden in den dreißiger Jahren gebaut, als die Stadtverwaltung kein Geld mehr für Vorzeigeobjekte des sozialen Wohnbaus hatte, aber trotzdem billigen Wohnraum für viele Menschen schaffen mußte. Das sieht man des Häusern noch heute an. Klo am Gang, zum Teil auch noch das Wasser, winzige Wohnungen mit Wohnküchen gleich hinter der Wohnungstür, die Stiegen aus Holz, das Vorhaus hinbetoniert und voll muffiger Luft aus dem Keller. Die aufgebrochenen Briefkästen zeigen, daß es nicht einfach ist, hier zu leben, die vielfältig hallernden Fernseher hinter den Wohnungstüren, daß es auch recht eintönig sein muß. Aber die Wohnungen sind relativ billig.

Nein, die Stadt hat sich aus diesem Gebiet nicht zurückgezogen: Ein Integrationskindergarten in diesem Gemeindebau stellt ebenso eine Notwendigkeit dar wie das städtische Brausebad im Volkshaus Dorfhalle ganz am anderen Ende des Viertels. Die Garnisonstraße entlang, in der Stiegelbauernstraße an Gemeindebauten mit viel neuer Sachlichkeit vorbei, steht in der Ing. Sternstraße ein neuer Prunkbau kommunaler Fürsorge: Das Seniorenwohnheim Ing. Sternstraße. Auf dem Weg dorthin geht der Blick immer wieder hinauf zu den Dächern der GWG- Häuser, denn seit vor rund einem halben Jahr ein AIDS - Kranker in seiner Wohnung einsam und unbemerkt verstorben ist, ist die Linzer Berichterstattung um eine lüsterne Wortschöpfung reicher: Die "AIDS - Mansarden im Franckviertel".

Das neue Seniorenwohnheim müssen seine BewohnerInnen erst in Besitz nehmen. Noch wirkt es steril. Planerisch hat man sich allerhand überlegt. Eine geschwungene, über alle Stockwerke reichende Glasfassade gibt den Blick auf Autobahn, Pfenningberg und Himmel frei, heitere, fröhliche Farben sollen keine Depressionen aufkommen lassen, die geräumigen Zimmer der PensionistInnen gehen auf die ruhigere Ing. Sternstraße Bei der Planung wurden auch die Arbeiten zahlreicher oberösterreichischer KünstlerInnen integriert, deren Werke als Orientierungshilfe dienen und jeder Etage eine eigene Identität verleihen. Wie gesagt, noch haben die Alten ihre neue Umgebung nicht in Besitz genommen. Im Dezember bastelten sie Weihnachtsschmuck und auch die Olivenbäume in der Eingangshalle waren mit Lichterketten geschmückt.
Das Franckviertel hat also ein neues schönes, Seniorenheim. Bei seiner Eröffnung war es ein bißchen wie mit des Kaisers neuen Kleidern: In vielen Reden und Berichten wurde der große, zum Heim gehörende Park gelobt, das darinliegende Kinderfreibad und der angrenzende Kinderspielplatz, der alt und jung zusammenbringen wird. Ja sieht denn niemand, hört niemand, riecht niemand, daß Spielplatz, Park, Freibad und Pensionistenheim direkt an der Mühlkreisautobahn liegen? Oder ist das nur die Empfindlichkeit einer Fremden, die nicht mit Gasometern, Schloten und Hochöfen vorm Aug und Zügekreischen im Ohr aufgewachsen ist?
Architektonisch knüpft die geschwungene Glassfassade des Heims an den geschwungenen vierstöckigen Mittelteil der gleich ums Eck liegenden Wimhölzlsiedlung an. Mit dieser Siedlung hat auch Linz sein Paradebeispiel kommunalen Wohnbaus der Zwischenkriegszeit. In der Trafik des Gemeindebaus liegt der hillinger auf, im Gasthaus "Union" daneben, gibt es um 65 Schilling ein Menü mit Suppe, freie Wahl zwischen Schöberl und Backerbsen und Schnitzel mit Petersilerdäpfel. Außer mir sind nur der Wirt und zwei Männer, die das Telefon reparieren, da. Das Schnitzel ist gegessen, das Telefon ist repariert, jetzt will man wissen, ob es funktioniert, aber keiner ruft an. Soll ich? Der Wirt schreibt mir die Telefonnummer auf. Auf der Suche nach einem Telefonhüttel gehe ich zum Lonstorferplatz. Aus der "Dursthütte" fällt mir ein Mann entgegen. Als ob nicht ein Klischee genug wäre: Er hat kaum mehr Zähne, ist tätowiert und betrunken. Er stützt sich auf mich und lallt. "Und desmoi wähl i an Haider." - "Den Schutzpatron der Tüchtigen und Fleißigen", sag ich. - "Genau", sagt er. Das Franckviertel verlasse ich mit dem 27er. Mit mir steigen ein paar ältere Frauen ein. Sie scheuen das Umsteigen. Deshalb fahren sie mit dem 27er direkt zum Taubenmarkt und nehmen dabei den Riesenumweg über "die Höh" - den Bauernberg - in Kauf. Zeit haben sie, eine Pensionistenkarte auch. Vielleicht kommt das dem Mascherlträger oder dem Taferlzeiger zu Ohren. Sie werden "Mißbrauch, Mißbrauch" schreien. Ich verlasse den 27er bei der Blumau und ruf im Gasthaus Union an. Das Telefon funktioniert. Der Wirt bedankt sich herzlich.