HUNGER

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Die Schönheit Ilfracombes wirkt, als nähme alles hier die Gegenwart nur unwillig zur Kenntnis. In wenigen Orten Englands ist der viktorianische Baustil so gut erhalten wie in dieser Stadt an der Nordküste Devons. Noch heute ist erkennbar, daß hier früher ein Ferienort reicher Bürger und Aristokraten gewesen ist. Auf den Küstenklippen im Westen des Ortes steht das letzte, noch geöffnete Hotel aus der großen Ära Südwestenglands, die bis nach dem Ersten Weltkrieg gedauert hat. Die Suiten sind in viele kleinere Zimmer unterteilt worden. Dank der Spielhalle im Erdgeschoß gehen die Geschäfte des Hauses nicht nur während der Sommermonate gut.
Noch deutlicher sichtbar ist der Glanz vergangener Tage an den Hotels, bei denen die Verkleinerung ihrer fürstlichen Zimmerfluchten nicht rechtzeitig gelungen ist. Von den brüchigen Fassaden blättert der Putz ab, nachdem die einst vornehm hellen Farben erst zu verschmiertem Grau verwaschen, dann wie Schmutz weggespült worden sind. Die zerbrochenen Fensterscheiben in den verfallenden Mauern sind nicht mehr erneuert worden, Makler, die diese Liegenschaften zu Spottpreisen erwerben, lassen die Fensteröffnungen nur mit Brettern vernageln, um den Regen abzuhalten.
Pensionisten, Männer mit tätowierten Unterarmen samt ihren grell gekleideten Frauen und Kindern verbringen heute ihren Urlaub hier und sichern mit dem von ihnen umgesetzten Geld das matte Weiterglänzen der alten Häuser. Arbeitslose aus den Großstädten Englands leben neben den rund zehntausend Einwohnern hier, weil sie für ihr Arbeitslosengeld, vierzig Pfund pro Woche, in der Provinz mehr bekommen. Sie mieten in Gruppen die während der Herbst- und Wintermonate leerstehenden Ferienwohnungen, in der Großstadt könnten sie sich ein Dach über dem Kopf nicht leisten. Manche haben Drogen mitgebracht, wenig später sind Drogenhändler nachgereist.
Alle Wege und Straßen dieser Stadt führen zur Promenade entlang der Küste hinunter. An schönen Tagen ist am Horizont, auf der anderen Seite des Bristol Channels, die Küste von Wales zu sehen. Am Abend beginnen auf dem einen Ufer des Meeres die Laternen entlang der Promenade zu leuchten, drüben am anderen Ufer die Lichter von Cardiff. Der Blick nach Westen, hinaus auf den Atlantik, ist frei.

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In Ilfracombe gibt es zwei Arten von Fischern, deren Köder an Angelschnüren im Wasser des Bristol Channels treiben. Die einen sitzen entspannt auf den Felsen unweit des Weges entlang der schroffen Küste, mit Wohlstandsbäuchen, auf niedrigen Klappstühlen, so weit als möglich draußen auf den Kanten der Felsen, gemütlich. Sie tragen Hüte und bunte Kappen, sie lassen die Zeit gleiten, so wie die Köder an ihren Angelleinen beim Einholen durch das Wasser gleiten. Manche rauchen Zigaretten, andere schmauchen ein Pfeifchen.
Viele von ihnen sitzen alleine da, manche mit ihrer Familie, die dann auch still dasitzen muß. Selbst kleine Kinder sind ruhig im Angesicht des gegen die Felsen rauschenden Meeres. Manche Familien, Vater, Mutter, Großvater, Großmutter, Enkelkinder, Kinder, fahren jeden Sonntag zum Fischen an "ihre" Stelle auf den Küstenfelsen Ilfracombes, zum Picknick am Ufer des Meeres. Während die Väter beim Anblick des Meeres zu meditieren scheinen, gehen die Frauen mit den Kindern in die Stadt, ins Pier Cafe, ins Cure the Blues, ins Sandpipers Inn und holen Fish & Chips.
Auf Plakatständern im Bereich des Hafens kleben Angebote von Angelkursen. Väter lernen ihren Söhnen das Angeln. Ein Junge fängt seinen ersten Fisch aus dem Meer, er hat ihn unter großer Mühe aus dem Wasser gezogen, Vater ist daneben gestanden und hat ihn angefeuert, aber seinem Sohn nicht geholfen. Der Fisch liegt auf dem Felsen, zappelt, der Sohn hält die Angel weit von sich gespreizt, Vater springt zum Korb, holt die Kamera heraus, fotographiert, macht erst dann den Fisch vom Haken los und wirft ihn ins Meer zurück.
Während sich die Frauen der meisten Fischer an den Wochenendtagen mit den Touristen in den Souvenirläden und den Fish & Chips Buden des Hafens drängen, gibt es eine Frau, die immer windgeschützt zwischen zwei Felsen sitzt und liest.
Die alleine schweigend dasitzenden Fischer nicken einander auch über größere Entfernungen zu, heben manchmal die Hand. Selten steht einer auf, geht langsam zu einem andern hinüber. Sie reden, nach einer Weile geht der eine wieder zurück, setzt sich und sieht wieder auf das Meer hinaus, über den Bristol Channel nach Wales hinüber, nach Westen auf den Atlantik hinaus. Manchmal holen sie ihre Leinen ein, um die Köder zu erneuern und wieder auszuwerfen.
Die Leinen zweier zu knapp nebeneinander stehenden Fischer verheddern sich. In der Aufregung stößt einer der Fischer einen Anglerkoffer ins Wasser, da er sich mit seinen klobigen Stiefeln nicht leicht genug bewegen kann. Sie schreien einander an, dann versuchen sie beide, mit ihren Angeln durch oftmaliges Auswerfen ihrer Haken den Koffer zu treffen und wieder an Land zu ziehen, laufen ihm entlang der Küste nach, doch vergeblich, der Anglerkoffer treibt in das offene Meer hinaus.
Die erste Art von Fischer steht auch im Hafen von Ilfracombe, auf der weitläufigen Betonkonstruktion, die an der linken Seite der Hafeneinfahrt auf den Fels gebaut worden ist. Sie stehen an der Brüstung, rauchen und starren aufs Meer hinaus. Sie holen mit einem satten Ausdruck im Gesicht zügig die ausgeworfenen Köder ein, erneuern sie und genießen den Zug des durch die Luft rauschenden Köders beim neuerlichen Auswerfen, um schon bald wieder mit dem langsam gleitenden Einholen zu beginnen.
Sie reden miteinander über ihre neuen Angelruten, von denen jeder einige mitgebracht hat, sie diskutieren Vor- und Nachteile einzelner Modelle. Manche fischen mit einem Dreibein, in dem sie besonders schwere Ruten befestigt haben, oder sie fixieren ihre Angeln mittels einer an der Brüstung angeschraubten Haltekonstruktion, die es nur in wenigen Fachgeschäften zu kaufen gibt.
Manche jagen die mit Blei beschwerten Köder weit ins Wasser hinaus, holen dabei aus, stoppen die Wurfbewegung abrupt und fangen den Schwung, der durch die oft bis zu drei Meter langen Angeln zurückbebt, gelassen mit dem Handgelenk ab. Andere werfen, ohne auszuholen, aus dem Handgelenk. Kleine und mittelgroße Fische geben sie dem Meer zurück, sie fischen zum Vergnügen, nach bemerkenswerten Fischen.
Am Ende des Tages werfen diese Fischer ihre kleinen Köderfische, Heringe, Makrelen, auf die Felsen im Hafen. Sie füttern die Möwen mit ganzen oder fast ganzen Fischen, aus denen sie nur kleine Köderstücke herausgeschnitten haben. Die Möwen schreien, stürzen sich auf die Fische, das Meer spült bei der nächsten Flut die Reste weg.
Diese Fischer stehen auch bei Nacht gut ausgerüstet an der Hafenbrüstung, selbst bei Regen und Kälte im Winter, in wasserdichtem Ölzeug im Sturm, in Plastikstiefeln, mit Kapuzen. Die Zigaretten glimmen in der Finsternis, an den weißen Masten entlang der Brüstung hängen grün leuchtende Lampen.

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Die zweite Art der Fischer drängt sich in Gruppen aus fünf bis sechs Leuten um eine der schon sehr gebraucht aussehenden Angeln von John Dexters Angelverleih, der am Ende des Piers seinen kleinen Laden nur mehr öffnet, wenn er darum gebeten wird. Diese Fischer, dürre Gestalten mit bleichen, von fetten langen Haaren umrahmten Gesichtern, werfen ihre Köder ungelenk aus, nicht selten verheddert sich dabei ihre Leine mit der eines Fischers der ersten Art, der mit einem neu blitzenden Messer wortlos seine Leine kappt und sich angewidert abwendet. Die Fischer mit den bleich dürren Gesichtern frieren meist, denn sie tragen auch bei Regenwetter nur hautenge, schmutzige Hosen, knöchelhohe, abgetragene Turnschuhe, kurze Lederjacken, die gerade noch die Nieren bedecken. Manche der Mädchen in weiten Kleidern hüpfen barfuß von einem Fuß auf den anderen.
Aufgeregtes Geschrei ertönt, wenn ein Fisch an der ausgeliehenen Angelleine beißt. Diese Fischer verlieren fast jeden größeren Fisch wieder an das Meer, weil sie in der Aufregung nach dem Biß immer alle durcheinander an der Angel reißen, ohne den Fisch zu fixieren. Diese Fischer werfen selbst die kleinsten Fische nicht ins Meer zurück. Sie nehmen am Ende des Tages auch die schon leicht faulig riechenden Köderfische nach Hause mit.

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Die erste Art der Fischer verachtet die zweite Art. Die Ersten haben eine Unterschriftenaktion gegen die Zweiten gestartet, doch gesetzlich läßt sich gegen die zweite Art nichts machen. Der zuständige Beamte der Fischereibehörde, früher, bevor die zweite Art aufgetaucht ist, selbst ein Freizeitfischer in Ilfracombe, hat allerdings versprochen, sich um die Angelegenheit zu kümmern, denn gegen diese Leute müsse einfach etwas getan werden.
Die im Wasser des Bristol Channels an den Angelleinen treibenden Köder der ersten und der zweiten Art kommen einander sehr nahe. Ein Fischer der ersten Art hat einmal gesagt, daß er es nicht möge, wenn die Köder dieser Leute auf ihn zutreiben.

Aus dem Erzählungszyklus: "NACHTSPIEL"


ANDREAS WEBER, c/o Hildegard Türk
Oidenerstraße 91, A - 4030 Linz,
Tel.: 0732 / 30 55 54

* 24. 12. 1961 in Horn/Nö, Kindheit in Langenlois/Nö, Bundesrealgymnasium Krems a.d. Donau, Studium als Werkstudent in Wien: Germanistik und Geschichte, Arbeit in verschiedenen Berufen, zuletzt als Journalist. Nach dem Studium in Wien beim "Interkulturellen Lernen", Übersetzer (Gebrauchstexte), Journalist, Sprachlehrer in Wien, Nova Goriza/SLO und von September 1992 bis Juni '93 in Ilfracombe/Devon, danach Unterrichtspraktikum in Linz, daneben Realisierung des Filmprojekts "Dear Fritz", derzeit neben dem Schreiben und der Arbeit an einem Film über den Schriftsteller Hermann Gail Lehrer in einem Berufsvorbereitungskurs für Jugendliche in Wels (Teilzeit).

Film: "Dear Fritz - Ein Film über den Schriftsteller Fritz Habeck" (40 min/16mm/SW, Buch, Herstellung, Regie, Prod. NAVIGATOR -Film, 1995)
Herausgeber des Buches: "Gedanken in der Nacht"/Fritz Habeck (Erzählungen 1948-1958, Bibliothek der Provinz, 1995)
Veröffentlichungen: "Der Springer" (Erzählung, in: Die Rampe, 2/95)
"Rudolf Atzbacher" (Erzählung, in: Facetten '95)