Astrid Bartsch

NUR GEDANKEN SIND FREI

Eine Kritik an der (Literatur-)Kritik.
Oder doch nur eine Betrachtung über das Buch?


Die kindliche Meinung wird geformt, verbogen von der Erfahrung der Erfahrenen, verstümmelt von natürlichen, sowie künstlichen Regeln. Doch genau nach diesen Regeln lebt die Kritik. Es gibt Regeln für Harmonie, für optische und akustische Geometrie. Es gibt Regeln für den Tonlauf der Musik und für den Wortlaut der Literatur. Aber es gibt keine Regel für die Empfindung. Das kann so manches Problem mit sich führen, wenn man versucht rein subjektiv und fern aller Maße Kritik zu üben.
Diese Erfahrung habe ich während meiner Schulzeit im Deutschunterricht gemacht: a b a b / a b b a /..., der vierfüßige Jambus hat mich verfolgt und beinahe gefressen. Jeder Text wurde in seine Sätze zerlegt, jeder Satz in seine Worte, und jedes Wort wurde nach seiner Bedeutung, nach seiner Herkunft und nach seinem Einsatz analysiert. Die Regeln haben für mich damals die Magie des Buches, nämlich seine Zurückhaltung gebrochen. Es hat mich nicht mehr eingesogen, sondern angespieen- mit seinen Regeln, die mir die Kritik so vereinfachen sollten.
Auch konnte ich damals noch kein Interesse für die behandelten Themen der Bücher entwickeln (verlorene Ehren, suizidgefährdete Liebschaften, die Tragik des unehelichen Kindes,...). Sackgasse! ...aber zum Glück mit Umkehrschleife. Denn von der anderen Richtung angegangen, entwickelt das Lesen wieder seinen Sinn. Zuerst war die Problematik da, dann erst der geschriebene Gedanke dazu. Wenn das Thema Begeisterung hervorruft, findet sich auch schon eine Fülle an lesenswerter Literatur dazu. Doch wie sichte ich in dieser Flut an Büchern meine herausragende Welle, in die es sich lohnt einzutauchen? Oft begiebt sich der Suchende in die Hände der Literaturkritiker.
In Zeitungen läßt sich ja manch gutes und böses Wort finden. Doch zumeist wird da Kritik mit den Bestsellerlisten verwechselt (Na wenn´s soviele lesen, kann´s ja nur...). Auch ist es möglich, spät abends zu beobachten, wie das Literarische Quartett zwischen den frischgedruckten Seiten blättert. Doch was ist daran das Faszinierende, das Fesselnde? Nicht unbedingt die Neuerscheinungen. Vielmehr begeistern die von Literatur modellierten Persönlichkeiten. Diese Geister, die ihre mit Worten geschliffenen Gedanken zücken und zum erbitterten Kampf herausfordern. Doch sie schöpfen nicht nur aus ihrem angelesenen Fundus. Sie betrachten auch mit den Augen eines Unbelesenen.
Nur in Gedankenfreiheit passiert auch subjektive Kritik. Der Grat zwischen "guter" und "schlechter" Literatur existiert dann nicht mehr. Jedes Wort ist von gleichem Rang. Wer keine Angst davor hat, einen Klassiker nach der Hälfte wegzulegen, einen Groschenroman vom Trafikstand aber zu lieben und ihn immer und immer wieder zu lesen, der hat das Wesen des Buches erfaßt. Er nützt den niedergeschriebenen Gedanken, um seinen eigenen zu befreien. Zu befreien von der Ansicht, daß die Wiese immer grün, der Himmel immer blau ist.
Ernst W. Heine erzählt von einem Gefangenen, der in seiner Zelle sitzt, seinen Träumen nachhängt und somit gedanklich aus dem Fenster fliegt. Es stellt sich heraus, daß er ein freierer Mensch ist als der Gefängniswärter, der jeden Abend wieder nach Hause geht.
Ein Buch trägt in sich Träume, genauso wie eine Uhr die Zeit. Beide sind ablesbar und zeigen doch nichts ohne den richtigen Gedanken dazu. Doch wo bleibt bei all dieser Individualität noch Platz für den Literaturkritiker? Wenn er sich damit begnügt, aufmerksam zu machen, dann fügt er sich wie die schwarze Tinte zwischen das Buch und den Leser.
Heute, da ich mich schon unzählige Male inmitten Worte gebettet und dort ausgeruht habe, sind mir wohl noch immer gewisse unerläßliche Regeln der Literatur bewußt. Doch meine Wiese ist blau wie ein Himmel aus Kornblumen und rot wie ein Sonnenuntergang aus Klatschmohn. Mein Himmel ist ein artistischer Wolkenzoo. Meine Welt bleibt bunt.