urbane grooves am hafen

Christian Wellmann, Oktober 95
Kenner der Tanzboden-Kultur(en) werden laut (und genußfroh) mit ihren Zungen schnalzen, verweht doch der melancholische Monat Oktober einige bunt-schillernde Groove-Sperrspitzen zum Stelldichein in den Linzer Posthof. Die englische Tanzmusik, die sich in diesem hüftenbewegenden MusikMosaik-Monat (siehe Programm in dieser Ausgabe) vorwiegend präsentieren darf, erlebte ja in diesem Jahr einen unglaublichen BOOM und trat einen Siegeszug an, der nun auch bei uns weitergeführt werden soll. Neben unzähligen Sub-Genres, die sich (heuer) durchsetzten/etablierten wie z.B.: Jungle, Breakbeat, diverse Dub-Spielarten, der Bristol-Sound (auch als "Trip-Hop" verschlachtet) oder der immer wieder stattfindende Innovationsschub beim UK-House, brachte die britische Musiklandschaft auch klingende Namen wie Prodigy (endgültig Superstar-Status auf der Insel), Portishead, Moby oder eben Tricky, der im Rahmen dieses Programms auftritt. Dancefloor ist in England nichts anderes als das tägliche Leben, der Spiegel der Gegenwartsgesellschaft; ein Ende dieser (sich immer untereinander anstachelnden) Stile in weiter, weiter Ferne. Alles vermischen, anstatt Berührungsängste auszudrücken. Dort entsteht eine der spannensten Musikarten, die zur Zeit aus Computern/Instrumenten herauszukitzeln ist. Als weitere Exponenten seien Goldie (der Jungle-König), Underworld, Drum Club, Earthling, Chemical Brothers, More Rockers, Transglobal Underground und wie sie alle heißen, genannt.

Das Programm ("Urban Groove" ist ein zu effekthaschender Titel - mit Marketing-Vergangenheit) bietet neben großen Namen (Tricky, The Shamen) geschätzte und immer gern gehörte Heroen (Stereolab, Young Gods), großkotzigen (zu boykottierenden) RapCrossMetal-Waschlappen (H-Blockx,AD) dankenswerterweise auch einen Abend (leider nur einen ...) heimischer "Grooverider" (Wipe Out, Schönheitsfeler). Wie man sieht, ist das Spektrum breit gehalten und hat für jeden Nörgler etwas zu bieten. Auschecken kann man dies sicher am 7.10. anläßlich eines "Danube Raves" (ein versalzener Geldkuchen in dem man herumfischt) feststellen, wo größtenteils englische DJ's (u.a. Steve Mason (Yeah!)) ihre neuesten Schätze präsentieren werden. Fun-Da-Mental, die Hip-Hop, Industrial, Bangrah (sie sind in der indischen Comunity und wie Cornershop stolze Vertreter einer Minderheit Englands, für die (nicht nur) Kultur kein Honiglecken ist) gekonnt verarbeiten, darf man sich zweifellos auf schweißtreibende Noise-Attacken freuen. (Leider sind Fun-da-Mental kurzfristig ausgefallen, stattdessen spielen Papa Brittle (GB), Something Completely Different und N-Factor Anm. d. Red.) Die eidgenössischen Young Gods dürften live abermals in "Götter"-Sphären vorstossen und ihr unwiderstehliches, tanzbares Gebräu versprühen. Der vielversprechenste Abend dürfte der Auftritt von den Shamen und Renegade Soundwave werden. Wer schon das Linz-bereichernde Gastspiel der Birminghamer Rockers Hi-Fi sehen durfte, wird von den Dub-Pionieren Renegade Soundwave hin- und hergerissen sein. Live begeistern sie mit extravaganter Lichtshow besonders "gutgelaunte" Party-People und mir wurde ein Abend beschert, den ich mir gern ins Gedächtnis zurückrufe. The Shamen: Mit Acid-House begannen die Schamanen bereits vor 8 Jahren, nach Hitsingles (z.B.: Ebeneezer Goode, Move Any Mountain,...) eigentlich alles Ansehen in der Dancefloor-Szene verloren (die Stereo MC's des UK-"House"), doch live eine Augenweide.
Der Abend mit Wipe Out, den Techno/Pop/Industrial/Metal-Terroristen und arschkickenden Live-Combo, HipHopFinger und den Reim-Meistern Schönheitsfeler (of Oberbank-Clip fame) verspricht sich nahtlos in die Qualität der restlichen Konzerte einzufügen.
Stereolab kann man sich als musikalische Umsetzung eines wolkenbehangenen Herbsthimmels vorstellen. Die Farfisa(Orgel)-lastigen Klangmalereien werden von Françoise Hardys entzückender Stimme unterstützt. Die geniale Monotonie von Spacemen 3 läßt grüßen. Loop Guru darf im Vorprogramm seine (meisterliche) HipHop-Definition präsentieren. Überraschend ist das einzige Ö-Konzert von Tricky. Ein kahlköpfiger, Ex-Massive Attack'ler, der "Trip Hop" (nennen wir das der Einfachheit halber so) zu neuen Höhen und Höhepunkten führte. Seine relaxten, extravaganten, verschrobenen und atemberaubenden Beats mit einem Unberechenbarkeitsfaktor und britischer Kühle sorgten dieses Jahr mit "Maxinquaye" für eine der progressivsten Neuerscheinungen.

So gesehen ist die Verpflichtung dieser Acts eine mittlere Sensation. Hier darf der Begriff Zeitkultur (am Hafen) wieder aus dem Keller geholt werden. Doch darf man in aller Euphorie nicht vergessen, daß dies MTV/Viva-gespeißten Köpfen vorgesetzt wird und dieser Sektor der (Populär)Musik hierorts sträflichst vernachläßigt wurde - doch das Startzeichen wurde nunmehr gesetzt. Hoffentlich bleibt kein schwarzes Loch über und die Gastspiele keine einmalige Angelegenheit. Mehr!