Wer die Wahl hat, hat die Qual. Das bewahrheitet sich auf gar wundersame Weise nicht nur zu Zeiten, da sich das Volk mit Hilfe einer Liste ´bekreuzigt`, um seine Meinung zu Formierung und Deformierung der Regierung kundzutun.
Nein, auch im Winter, wenn es schneit, quälen Überlegungen zur Weihnachtsgeschenkfrage: Ob sie wohl Freude damit hat? Kann man es möglicherweise umtauschen? Doch neben diesen weltbewegenden Fragen, quälen uns tagtäglich massive Berge an winzigen, unumgänglichen Entscheidungen: Was ziehe ich zur Dinnerparty morgen an? Rede ich mal mit ihr darüber oder laß ich sie links liegen? Nehm ich den Bus oder fahre ich mit dem Auto? Was soll ich eigentlich studieren?...
Wie oft werden uns Speisekarten vorgesetzt, die eine Entscheidung über das Verhältnis von richtigem Geschmack, verzehrbarer Menge und verkraftbarem Preis zur wahren Mathematikaufgabe ausarten lassen? Kein Wunder also, daß so mancher alles, was er
bekommen kann, bestellt und dann nur davon kostet.
Die Entscheidungsfreiheit ist unter demselben Stern geboren wie die Orientierungslosigkeit. Ihre Eltern heißen Wohlstand und Überfluß.
Als systematisches Chaos würde ich den Roman "In Schwimmen-zwei-Vögel" kurzgeformt beschreiben. Flann O`Brien scheint es Schwierigkeiten bereitet zu haben, aus der großen Speisekarte der Bücher eine literarische Form, sowie einen einzigen Anfang beziehungsweise ein einziges Ende zu wählen. Somit hat er sich für einen gemischten Salat entschieden: Die einzelnen Sorten liegen geordnet nebeneinander, auf einem gemeinsamen Teller. Wenn da einmal umgerührt wird...!
Hinter der ersten Person Singular steht ein nachlässiger Student und Gelegenheitsschriftsteller. Er erzählt (ähnlich einem Tagebuch) über sein Leben und seine schöpferische Arbeit. Inhalt seines Manuskriptes (in Form eines Romans) ist das Leben des Schriftstellers Mr. Dermot Trellis. Verfaßte Arbeiten desselben (größtenteils Märchen), handeln von fantastischen Fabelfiguren, wie zum Beispiel von Mr.John Furriskey, der als Fünfundzwanzigjähriger geboren wird, von dem Riesen Finn Mac Cool, dessen Schenkel so dick sind, wie der Bauch eines Pferdes, aber auch von Unsichtbaren und Verwunschenen. Die Figuren wiederum erzählen Fabeln, oder sprechen in Versen. Wie durch Zauberhand geführt, treffen diese Märchenwesen aus den unterschiedlichsten Geschichten zusammen, um in einem aufgelassenen Kino über ihren Schöpfer Mr. Trellis zu richten. Anklagepunkt ist: der Schriftsteller vervollständigt keine der Erzählungen und unterdrückt somit das Eigenleben der handelnden Personen.
Wie in einem Krimi fügt sich Indiz an Indiz. Sogar eine Erklärung für die Farbe des Buchumschlages findet sich in dem Gewirr an Hinweisen und Erläuterungen. Die Figuren sitzen ineinander, wie die russische Babuschka - selbständig und doch voneinander abhängig. Ab dem Moment, da sich der gordische Verständnisknoten lockern läßt, stolzieren die handelnden Personen, für den Leser mit strahlenden Pfauenfedern geschmückt, durch den Rest des Romans. Die Unentschlossenheit Flann O`Briens entpuppt sich als genialer Narrenstreich.
Bleibt diesmal nur eine Entscheidung offen:
lesen oder nicht lesen?
Flann O`Brien "In Schwimmen-zwei-Vögel", 1989 Heyne