Der Bierstreit zu Gorenje

Eine Groll-Geschichte von Erwin Riess

Der Dozent traf Groll am Mittellauf der Savinja in einer Raststätte in einem kleinen Dorf. »Für einen Radprofessional wie mich sind die slowenischen Straßen die reine Freude.« Der Dozent schüttelte Grolls Hand und fuhr fort: »Störend sind nur die vielen LKWs auf den hochrangigen Landstraßen. Und die Straßen selbst!« Der Dozent beugte sich zu Groll herab und sagte mit einem verschwörerischen Lächeln. »Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, daß die rot markierten Hauptstraßen einen schlechteren Belag aufweisen als die gelb markierten Nebenstraßen, deren Belag meist neueren Datums ist. Die Mitgliedschaft bei der EU trägt Früchte.« Mit diesen Worten setzte der Dozent sich an den Tisch. Die Wand der Gostilna im Rücken, eröffnete sich den beiden ein weiter Blick auf die steilen Hügel des Mittelgebirges.
»Vieles in Slowenien wurde und wird von der EU gefördert, aber bei weitem nicht alles«, erwiderte Groll. »Es ist harte und konzentrierte Arbeit, welche die slowenische Ökonomie florieren läßt. Es stimmt aber, daß die Slowenen die Hilfe der EU nicht unter den Tisch kehren, um sich, wie es in Österreich von Landeshauptmännern und Bürgermeistern gern gemacht wird, mit fremden Federn zu schmücken. Die Slowenen stellen ihre Verankerung im europäischen Wirtschaftsgebiet in Plaketten und Fahnen stolz aus. Tatsächlich sind die von der EU geförderten Kanal- und Wasseraufbereitungsanlagen keine schlechte Visitkarte einer Union, die sonst nicht zu unrecht mit dem Untertitel ’Gemeinschaft der Konzerne’ gehandelt wird.«
»Der Boom, der dieses Land erfaßt hat, ist in der Tat erstaunlich«, ergänzte der Dozent. »Die vielen neuen Häuser, der moderne PKW-Bestand und Einkaufszentren selbst in Kleinstädten sprechen für sich«, fügte der Dozent hinzu. »Wenn man früher von Kärnten aus die slowenische Grenze überquerte, fuhr man in ein armes Land, jetzt ist es umgekehrt. Wer heute die Grenze passiert, begibt sich von einer Region des Niedergangs in eine des Aufschwungs.« Der Dozent griff nach der kleinen Speisekarte. Groll nahm sie ihm aus der Hand und bestellte beim Wirt eine Auswahl aus Kapi (Teigtaschen), Krajnska Klobasa (fetter Räucherwurst), Potica (Zopfkuchen) und einen halben Liter Jeruzalem. Der Ort sei von Deutschordensrittern, die von einem Kreuzzug heimkehrten, Anfang des 13. Jahrhunderts gegründet worden und gebe einem ebenso leichten wie vollmundigen Wein den Namen, erklärte Groll. »Da Sie, verehrter Dozent, den radelnden Rittern der Landstraße angehören, ist der Jeruzalemski für Sie gerade recht.«
»Wie Sie meinen«, sagte der Dozent und setzte eine skeptische Miene auf.
Wenig später zeigte der Dozent sich von den Speisen und dem fruchtigen Wein derart angetan, daß er eine zweite Portion Klobasa und einen weiteren Krug Jeruzalem bestellte. Groll zeigte sich verwundert, kannte er den Dozenten doch als Anhänger leichter und gesunder Kost.
»Wahrscheinlich schlägt da der Ritter bei mir durch«, meinte der Dozent und prostete Groll zu, der für sich einen Krug »Cviček« bestellte. Einer Frage des Dozenten zuvorkommend, fügte er hinzu, der Wein trage auf Deutsch den schönen Namen »Edelzwicker«, weil er den edelsten Teil des Mannes, die Gurgel, infolge seiner derben Säure recht ordentlich zwicke.
»Wie immer glaube ich Ihnen jedes Wort, wäre aber auch vom Gegenteil ihrer Aussage nicht überrascht«, entgegnete der Dozent und wollte dann wissen, wie das idyllische Dorf heiße, das diese Köstlichkeiten kredenze.
Groll nahm einen großen Schluck, schüttelte sich wie ein nasser Hund und sagte mit fester Stimme: »Gorenje.«
Der Dozent sah Groll entgeistert an.
»Das Dorf heißt Gorenje«, wiederholte Groll.
»Diese großartige Region mit einer rumpelnden Waschmaschine zu vergleichen, stünde einem homo carinticus gut an«, sagte der Dozent. »Aus Ihrem Mund aber, werter Groll, sind diese Worte eine einzige Enttäuschung.«
Die Assoziation von Gorenje mit einer rumpelnden Waschmaschine sei auch nicht ohne, sagte Groll listig, wisse die Welt doch längst, daß Gorenje Küchengeräte höchsten Qualitätsansprüchen gerecht würden. Die rezente Gorenje-Küchenlinie sei sogar vom großen italienischen Autodesigner Pininfarina entwickelt worden. Im übrigen gelte der Satz: Ein Gorenje rumpelt nicht, er schnurrt.
Er bleibe dabei, die lukullischen Köstlichkeiten des Dorfes mit einer Waschmaschine zu vergleichen, sei geschmacklos, erwiderte der Dozent.
Nachdem Groll seinen Bekannten unter Mithilfe des Wirts davon überzeugt hatte, daß der Ort tatsächlich den Namen des bekannten Haushaltsgeräte-erzeugers trägt und dies deshalb, weil die Anfänge der Fabrik in diesem Dorf gelegen waren, wollte der Dozent wissen, was Groll nach Gorenje verschlagen hatte.
Daraufhin erzählte Groll eine Geschichte. Ein alter Freund von ihm, Werksportier von Gorenje in Pension und Historiker aus Passion, habe sich in das Dorf zurückgezogen, um an seinem Lebensprojekt zu arbeiten. Der Freund sei alkoholkrank und habe die Sucht nicht im Griff, eher sei es umgekehrt, aber er habe gelernt, mit der Behinderung zu leben. »Wenn er viel arbeitet, geht es ihm besser. Er trinkt dann genauso viel wie sonst, aber er leidet nicht darunter. Seit dem Tod Marschall Titos, also seit dreißig Jahren schreibt Dušan an einem ungewöhnlichen Reiseführer, der die touristischen und architektonischen Sehenswürdig
keiten Sloweniens nur am Rande streift, sich dafür aber auf die für das Gedeihen des Landes wirklich bedeutenden Fragen konzentriert. Mit einem Wort: Er verfaßt einen ’Führer der industriellen Unternehmungen zwischen Porto Roz und Marburg, Krajn und Krsko unter besonderer Berücksichtigung der Lage der arbeitenden Klassen in Stadt und Land.’ Bei den stürmischen Umwälzungen in den letzten Jahren ist es verständlich, daß sein Werk noch nicht abgeschlossen ist. Das macht Dušans Projekt ja auch einzigartig: er strebt nichts weniger als die vollständige Beschreibung aller industriellen Beziehungen Sloweniens in Geschichte und Gegenwart an. Gegenwärtig hält er bei Band 14 c, sieht sich aber immer wieder zu Änderungen in den bereits fertiggestellten Bänden genötigt.«
Er könne sich noch gut daran erinnern, daß Slowenien nach der Ausrufung der Unabhängigkeit einen fatalen Wirtschaftskurs eingeschlagen habe, meinte der Dozent. Wenige Jahre später aber hätten die Slowenen sich von den Diktaten des Internationalen Währungsfonds befreit.
Die Arbeitslosenrate sei zwar noch immer hoch, ein zweijähriges Überbrückungsgeld und eine Koppelung des Mindestlohns an die Inflationsrate sorgten aber dafür, daß die sozialen Verwerfungen sich nicht wie in vergleichbaren Staaten zu politischen Zeitbomben entwickeln, bekräftigte Groll und fuhr in seiner Erzählung fort.
»Mein Freund widmet sich also den materiellen Verhältnissen und ist damit ausgelastet. Nun fügt es sich, daß nicht weit von hier, im Kloster Nazarje, ein Franziskaner lebt, der an einem Konkurrenzprojekt arbeitet – einem Reiseführer, der die materiellen Hervorbringungen des Landes zwar erwähnt, seinen Schwerpunkt aber auf die Geistesgeschichte setzt, dies aber von einem areligiösen Standpunkt aus, dem einzig wissenschaftlichen, wie der Franziskaner nicht müde wird zu betonen. Alle sechs Wochen treffen die beiden Wissenschaftler einander in Laško bei Celje zu gemeinsamer Arbeit und abendlichem Streit. Mein Freund bevorzugt das hopfige Laško Pivo, das seit 1851 in Bad Tüffer – so der Monarchiename des Brauerei- und Thermalbades – gebraut wird, der Ordensmann schwört auf das im selben Ort produzierte Zlatorog Pivo, welches in seinem Namen an einen sagenumwobenen Steinbock mit einem goldenen Horn erinnert.
Der Streit und die unterschiedlichen Biere feuern die beiden Männer zu Höchstleistungen an. Wird ein Großkapitel fertiggestellt, was alle paar Jahre geschieht, werde ich zur Lektüre eingeladen. Meine Anmerkun-gen und Kommentare werden dann beraten und, sofern für gewichtig befunden, in die Texte eingearbeitet. Wußten Sie, daß vier Prozent der Welt-Hopfenproduktion aus der Gegend um Cilli, vom Tal der Savinja, stammen?«
Der Dozent zog seinen Notizblock hervor. »Wenn man bedenkt, wie viele Biere auf dieser Welt gebraut werden, von den berühmten westeuropäischen Bieren in England, Belgien und Deutschland …«
»Bis zu jenen nicht minder gehaltvollen aus Tschechien, Österreich und Polen …«, ergänzte Groll.
»Wenn man dann noch dazu die riesigen Bierproduzenten in den USA und Mexiko ins Kalkül nimmt, sowie jene in China, Indien, Brasilien und Afrika, dann ist das eine Menge«, schloß der Dozent.
»Es ist ungeheuer viel, und Sie werden eine Ahnung vom Ausmaß der Produktion bekommen, wenn Sie am Mittellauf der Savinja entlang fahren, kilometerlang zwischen hohen Stangen und gespannten Netzen, auf denen der Hopfen sich entlang rankt. Goethe hatte recht: ‚Zum Biere drängt, am Biere hängt doch alles’.«
»Ich glaube, der Spruch lautet anders«, meinte der Dozent. »Über Ihren Hang zu Verballhornungen sollten Sie einmal mit einem Psychotherapeuten sprechen.«
Er sei in den Donauauen und in Floridsdorf aufgewachsen, dort konsultiere man keine Psychotherapeuten, sondern Heurigen, sagte Groll und orderte noch einen Cviček. Der Dozent antwortete nicht, er ließ den Blick in die Ferne schweifen.

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