»Erstmals die Möglichkeit, Dinge zu verändern«
Sie kamen überraschend und breiteten sich wie ein Lauffeuer aus – die Aufstände in den arabischen Staaten, die ihren Ausgangspunkt in Tunesien mit dem Sturz des Diktators Ben Ali nahmen und innerhalb kurzer Zeit zu größeren und kleineren Aufständen in fast allen anderen arabischen Ländern führten. Thomas von der Osten Sacken hat sie vor Ort miterlebt. Der Geschäftsführer der Hilfsorganisation wadi e.V., die seit 20 Jahren im Irak tätig ist und dort für Menschen- und Frauenrechte kämpft, hat für die Zeitungen »Die Welt« und »Jungle World« direkt aus Tunesien berichtet. Auf jungle-world.com ist sein blog »Von Tunis nach Teheran« zu lesen. Am 15. März, wenige Tage vor dem militärischen Eingreifen der westlichen Alliierten in Libyen, kam es anläßlich eines Vortrages an der Uni Wien zu folgendem Interview.
Die Aufstände waren nicht zuletzt von jungen Menschen getragen. Welche Rolle spielt der demografische Faktor bei den Aufständen?
Die Gesellschaften der Region sind extrem junge Gesellschaften. Die absolute Mehrheit der Bevölkerung ist unter 30 Jahren – und diese Mehrheit hat überhaupt keine Perspektiven, was sie dort mit sich anfangen kann. Es gibt keine Möglichkeiten der politischen Partizipation, keine Freiheiten und keine Job-Perspektiven. Deshalb sind diese Revolten auch hauptsächlich von unorganisierten jungen Menschen, auch vielen Frauen, getragen und überhaupt nicht von den traditionellen Oppositionsparteien.
Wie kann sich spontaner Protest längerfristig organisieren, wenn die Strukturen fehlen? Besteht hier die Gefahr, dass bereits recht gut organisierte politische Gruppierungen den Protest für ihre Zwecke instrumentalisieren?
Das Interessante ist, dass diese spontane Form unglaublich effektiv ist. Man kommt gegen sie nicht an und kann auch die Köpfe nicht einfach wegschlagen. In Tunesien geht es ja noch weiter, man hat auch nach Ben Alis Sturz weiter unliebsame Minister wegdemonstriert. Ähnlich ist das auch in Ägypten, wo Leute plötzlich die Geheimdienstbüros stürmen und Dokumente veröffentlichen. Es ist eine neue Form der Organisation, die selber sehr revolutionär ist.
Es ist natürlich ein Riesenproblem, wie man das alles organisiert, wenn es keine Möglichkeiten gibt, in Institutionen aktiv zu werden, weil es solche Institutionen ganz einfach nicht gibt. Soziologisch taucht ein weiteres Problem auf, das nicht spezifisch für den Nahen Osten ist: Parteien büßen ihre Rolle bei der Organisation von gesellschaftlichem und politischem Leben immer mehr ein. Sollte die Bildung neuer, repräsentativer Parteien nicht funktionieren, können natürlich ältere etablierte Organisationen wie die Muslimbrüder in Ägypten davon profitieren. Aber da ist es noch zu früh, sich ein Urteil zu bilden. In Tunesien haben sich mittlerweile 16 neue Parteien registriert.
Die zweite interessante Frage ist, was in anderen gesellschaftlichen Bereichen passiert. In Ägypten wurde gerade die erste freie Gewerkschaft seit 40 Jahren gegründet. Es bilden sich innerhalb der Gesellschaft Interessens- und Lobbyverbände, die es vorher in diesem Ausmaß nicht gegeben hat.
Manche warnen davor, dass in unübersichtlichen, postrevolutionären Situationen langfristig reaktionäre Kräfte als Sieger hervorgehen könnten, wie es etwa 1979 im Iran geschehen ist, als nach dem Sturz des Schahs ein islamischer Gottesstaat etabliert wurde.
Natürlich wird es, um diesen blöden Spruch zu bemühen, ein dorniger Weg. Die Zukunft ist offen, aber zum ersten Mal ist sie überhaupt offen. Es gibt die Möglichkeit, dass sich Dinge verändern. Das heißt nicht notwendigerweise, dass sie sich positiv verändern, aber Menschen mit emanzipatorischen Vorstellungen können diese zum ersten Mal äußern. Es gibt zum ersten Mal eine freie Presse, man kann auf der Straße diskutieren, was vorher alles verboten war. Ich denke, dass das alles überhaupt möglich geworden ist, hat das Selbstbewusstsein sehr stark verändert.
Die Gefahr, dass sich daraus langfristig noch schlimmere Diktaturen entwickeln, sehe ich für Tunesien und Ägypten momentan nicht. Bei anderen Staaten wiederum kann man wenig sagen. Jemen etwa ist de facto ein failed state – das war aber auch vor den Aufständen so. Als jemand, der seit 20 Jahren im Irak arbeitet, weiß ich, wie schwer es ist, wenn alle gesellschaftlichen Strukturen zerschlagen sind. Solche tragfähigen Strukturen aufzubauen sind Prozesse von mehreren Jahrzehnten. Da kann man nicht nach drei Monaten ein abschließendes Urteil tätigen.
Welche Rolle spielt der Islamismus in den Aufständen?
Im Vergleich zu den 90ern hat der Islamismus viel von seiner Austrahlungskraft eingebüßt. Das heißt nicht, dass es nicht sehr viele gut organisierte islamistische Organisationen gibt oder dass keine Gefahr von ihnen ausgeht. Aber was diese Revolten bislang ausmacht, ist, dass zwar Islamisten an ihnen teilnehmen, sie aber nicht dominieren. Das kann sich zwar ändern, aber ich denke, dass diese spontane, von der Jugend getragene Bewegung auch ein starkes kulturrevolutionäres Element hat. Das sind Dinge, die 50-jährige Islamisten auch nicht toll finden – etwa, wenn unverschleierte Frauen auf der Straße demonstrieren. Wenn aber alles schief geht, könnten sie langfristig davon profitieren.
Hätte man aber die Frage vor einem halben Jahr diskutiert, wären die meisten Leute wohl der Überzeugung gewesen, dass, sollte es zu einem Umsturz in Ägypten kommen, dieser von Islamisten angeführt wird. Das ist er nun nicht und diese kleine Differenz empfinde ich schon als sehr erfreulich. So zu tun, als gäbe es keine hochgradig antisemitischen und antidemokratischen Muslimbrüder, ist natürlich auch nicht hilfreich. Es ist unsere Aufgabe, die säkularen emanzipatorischen Kräfte zu unterstützen. Es steht ein klarer Kulturkampf zwischen Säkularen und Islamisten bevor, der teilweise auf Demonstrationen in Tunesien auch schon gewalttätig ausgeführt worden ist. Da treten tausend Konflikte, die vorher unterdrückt waren, an die Oberfläche. Es wird dabei viele Rückschläge geben, einige Fortschritte – aber dass das alles überhaupt möglich ist, ist das Neue.