Bedeutet Internet Verlust der Identität?

Das Informationslab: Die Natur und die Informationstechnologie (IT) – ein Laborgedanke zum Wirkungsquant der Information.

In unserem Jahresprogramm der Stadtwerkstatt beschäftigen wir uns mit der Frage nach dem Kunstkontext im Zeitalter der digitalen Medien1. Der Begriff Kunst kann vom Abbild der Natur hergeleitet werden - er handelt vom Entstehen des Künstlichen. In der Neuzeit kommt zwar die Utopie als ein wichtiger Faktor dazu, aber im Prinzip geht es um das Abstrahieren der Natur. Der Wunsch Natur in einen vom Menschen gestaltbaren Kontext zu stellen und ihr dadurch eine neue Bedeutung zu geben, wurde im Lauf der Zeit immer größer. Mit dem Aufkommen der digitalen Medien wird die gesamte Welt in einem virtuellen Raum gespiegelt. Dies ging aber dann doch zu schnell und löste einen Kunst- und Kulturschock aus. Als sich in den folgenden Jahren das Internet in alle Bereiche unseres Lebens ausbreitete, tauchte gleichzeitig eine Orientierungslosigkeit auf. Seit diesem Kunst- und Kulturschock entstehen in meinem Umfeld von KünstlerInnen und HackerInnen immer mehr Labore2. Anfangs war es der Wunsch in diesen Laboren Kunst und Technologie zu vereinen, in Folge war es die Auseinandersetzung mit der Spiegelung der Natur im digitalen System. In diesen Laboren wurde der Arbeitsprozess mit in den Kunstkontext einbezogen. Kunst kam nicht mehr von Können sondern vom Nicht-Können. Vom Wunsch etwas Neues zu schaffen und vom Weg dorthin. Nach Marshall McLuhans »Das Medium ist die Botschaft« entwickelte sich nun die prozessorientierte Kunst - der Schaffungsprozess gehört zum Werk. Der Prozess des Entstehens ist Teil davon.

In Weiterführung der Hack- und Fablabs haben wir 2014 das Infolab initiiert. Ein Labor das sich mit den Grundlagen der Information und ihrer Technologie beschäftigt. Mit Hilfe von drei Projekten 2015 wollen wir die Frage erörtern, warum gibt es eigentlich Information? Wie ist der Stand der Technologie? Und worum es geht dabei eigentlich? Information gibt es in der organischen Chemie der Evolution genauso wie im anorganischen Bereichen mit dem Streben der Moleküle zu Symmetrien – der Chiralität3. Diese interessante Tatsache einer Information in der anorganischen Chemie bietet eine neue Frage: Ist der Sinn von Information nur in der lebenden Natur zu suchen oder ist sie ein physikalischer Grundbaustein?

Bei so schwierigen Fragen kann meist ein neuer Kunstkontext eines Labors schnell helfen. In der Analyse von Kunst und Information haben wir schon oft den Begriff der sinnfreien Information verwendet. Gemeint ist eine Information, die nicht in einem rationalen, kausalen Kontext zur Evolution steht. Ähnlich wie die chirale Information in der anorganischen Chemie ist es die Information, die im Menschen selber zu finden ist. Man findet in dieser Betrachtungsweise auch schnell eine konservative Kunstdefinition. Die Kunst als Vermittlung von Gefühlen mit nicht rationalen Bildern, Tönen, Handlungen, Gebilden und Argumenten. Wenn wir in der Evolution weit zurückblicken, sehen wir eine ähnliche Welt, in der die meisten Entscheidungen emotional getroffen wurden. Vielleicht ist die Kunst nun endgültig überholt und es gibt eigentlich nur noch die Sehnsucht nach diesen prähistorischen Gefühlswelten. Der Wunsch, emotional Entscheidungen zu treffen, bringt uns im Zeitalter der modernen IT in einen Argumentationsnotstand. Sicher ist nur, dass wir Informationen brauchen um Entscheidungen zu fällen.
»Sinnfreie« Information ist vielleicht der falsche Begriff. Um Verwirrung im Sinn der rational, logischen Information zu vermeiden, sollten wir eher von akausaler Information sprechen.

Also kurz zusammengefasst: Um Entscheidungen treffen zu können, steht uns die rational, logische vereinheitlichte Information, die zunehmend aus der IT kommt, und eine akausale Information aus dem unterbewussten ICH zur Verfügung. Die lebende Natur kann normalerweise akausale Informationen nicht verwerten, sie erfindet nichts neues, setzt nur folgerichtige logische Entwicklungsschritte und hat dadurch sehr viel gemeinsam mit unserer IT. Klassifizierungen von Information funktionieren in der lebenden Natur und in der IT nur über kausale Zusammenhänge.

Bei persönlichen Entscheidungen steht oft die Information der IT der Quersumme aus Lebenserfahrung und prähistorisch gespeichertem genetischen Wissen gegenüber.

Mit dem Internet steht uns Informationen zur Verfügung, mit der wir schnell zu den »richtigen« Entscheidung kommen. Und die »Humans« greifen gerne auf diese vorgekauten Informationen zurück, weil sie sich mit diesen scheinbar »rationalen« Argumenten in ihrer Entscheidung sicherer fühlen. Dies stärkt und potenziert leider die Information der einheitlichen Ratio und des kalkulierbaren einheitlichen Menschen. Die Gegenwart fordert und fördert durch die IT eine »wahre« Welt ohne individuelle Meinung. Ganz stark ist dies auch bei der Tagespolitik zu sehen. Die Politik ist zurzeit unfähig Entscheidungen zu treffen, weil unterschiedliche Wahrheiten über das Kapital der Wirtschaft geschaffen werden. Wer mehr zahlt, hat die besseren Argumente in dickeren Gutachten, die für die Entscheidungen letztendlich ausschlaggebend sind. Entscheidung über Gefühle herbeizuführen ist in der Politik unmöglich. Auch im Bereich des Individuums kommen der Intellekt und der konservative Kunstbegriff in einen Argumentationsnotstand. Durch das Internet wird die Sucht nach einer rationalen Einfriedung des Seins gestärkt. Kapital, Ratio und Logos bilden die Werte einer »sinnhaften« Welt. Es entsteht eine deterministische Weltsicht, die intellektuelle Personen und KünstlerInnen an einen Randbereich unserer Gesellschaft drängt. Mit unserem Informationslab wollen wir Argumente finden, wie wir dieser Situation entgegen steuern können, um das Recht des Individuums zu stärken. In dieser scheinbar »wahren« Welt der lebenden Natur und IT spielen logische Zusammenhänge eine wichtige Rolle, die leicht von marktwirtschaftlichen Überlegungen gesteuert werden können.

In einer Gemeinschaft gewinnen rationale Argumente bei einer Konfrontation mit einer gefühlsmäßig, spontan getroffenen Entscheidung. Aber trotzdem dürfen wir nicht vergessen: Der Ursprung, der Motor aller Zusammenhänge ist der Zufall, die Entropie und der Augenblick. Eine der unwirklichsten Entropiequellen ist die Kernfusionsstrahlung der Sonne. Sie ermöglicht mit ihrer Energie die lebendige Natur - und in Folge auch die IT. Im System der »rational« »richtigen« Entscheidungen der lebenden Natur und der IT hat Chaos, Spontanität und Entropie keinen Platz – wir streben nur nach der Ratio. Entropie und Chaos gehören dadurch auch zu den wichtigsten, aber unerreichbaren Faktoren in dieser IT, wie sich das in Fragen der Kryptografie zeigt. Da Information normalerweise im Netz überall und gleichzeitig verfügbar ist, haben Daten nur einen Mehrwert, wenn sie durch Verschlüsselung geschützt werden. Information im Netz wird erst durch sichere Verschlüsselung politisch wichtig und privat(individuell). Es ist aber nicht möglich, in unserem momentanen Computersystemen Zufall zu erzeugen, da wir diesen in einem deterministischen System programmieren. Die Schwierigkeit dabei ist es, einen »echten« Zufall weitgehend automatisch zu integrieren. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, über die Grenzen der Naturgesetze zu blicken. In den Micro- und den Macrokosmos, sowie in Parallelwelten, in denen der echte Zufall eingesammelt werden kann. Es sind Bereiche, in denen unsere Naturgesetze der Realität keinen mehr Sinn machen. Zu Micro- und Macrokosmos können wir über den atomaren Zerfall, Quanteneffekte und das Urknallhintergrundrauschen inzwischen ohne Probleme Schnittstellen schaffen. Damit können wir dann Zufallsgeneratoren für die Verschlüsselung betreiben. Im erweiterten Sinn arbeiten wir (Pamela Neuwirth, Markus Decker, Franz Xaver) in unserem Infolab seit 2011 an der Kunstinstallation »Ghostradio«, in der wir eine erweiterte Schnittstelle zu Parallelwelten zeigen. Der Vorteil dieser Schnittstelle zu einem Parallelraum liegt in der Bandbreite einer ganzen Welt.

Die Information der Kunst

Nun weg von den technologischen Utopien, mit der wir unsere IT im Sinn der Menschlichkeit retten möchten. Es gibt ja da auch noch den Begriff des »freien Willens« eines Individuums, mit dem wir glauben, Entscheidungen beeinflussen zu können. Ob es nun Fiktion ist oder nicht, individuelle Personen haben leider in einer deterministischen, logischen Welt keinen Platz. In einer logisch, rationalen Welt wäre jeder Gedanke an eine freie Entscheidung sinnlos, da wir nur ein Rädchen im Kalkül eines Systems wären. Um nun Entscheidungen über die Gefühlswelt und dem freien Willen herbeizuführen ist es notwendig, dass wir eine Entropiequelle in unserem ICH besitzen. Und diese gehört gepflegt, denn nur sie gibt uns das Selbstvertrauen um gegen die rationalen Entscheidungsargumente des weltweiten Netzes und der lebenden Natur zu bestehen.
Sei es die Sturheit der/des KünstlerIn oder ein gut funktionierender interner Zufallsgenerators als Motor, fest steht: Ohne Zufall gibt es keinen freien Willen4 - und ohne freien Willen keine neuen Ideen. Die Kunst hat trotz IT nach wie vor diese Freiheiten sich um diese Fragen zu kümmern.

Erst akausale Information gemeinsam mit der inneren Entropie bringen die Sicherheit für ein Individuum, nicht nur logischen Argumenten ausgesetzt zu sein. Der Zufall im Augenblick des Seins bietet die Möglichkeit neue Querverbindungen zu schaffen und spontane Entscheidungen zu treffen.

Die Realität und auch die Kunst sind abhängig von ihrer Betrachtung, letztere hat ihre Berechtigung erst durch Referenz und Differenz. In der Malerei wurden monochrome Flächen von Kasimir Malevic, Yves Klein oder Ulrich Erben erst in die Kunstwelt aufgenommen, als ein Kontext zu dieser hergestellt wurde. Die akausale Information dieser Werke wird bei verschiedenen BetrachterInnen Unterschiedliches auslösen. Für manche Personen sind diese Bilder eine einfache eine monochrome Farbfläche, für andere ein gewaltiger Schritt in der Kunstentwicklung. Ein wichtiges Beispiel von akausaler Information ist auch die Musik. Mit der Musik haben wir eines der wichtigsten Instrumente der Gegenwart, um der logisch richtigen Information der lebenden Natur und IT etwas entgegenzuhalten. Zwar tritt mit der Vertextung eines Musikstückes meist wieder eine Mischform ein, man kann aber deutlich veranschaulichen, wie akausale Information wirkt und funktioniert.
In der IT kann Kunst in Genres, Länge und Beats-Per-Minutes, in Farben und Formen, oder generelle Werte und Verkaufszahlen eingeteilt werden. Aber eine Klassifizierung nach akausalen Zusammenhängen ist nur schwer möglich, da diese eigentlich genau das Gegenteil von der IT ist.
Wie in der Kunst tritt auch im individuellen Anspruch unseres Seins oft eine Mischung der Informationsformen auf.
Dies ist auch den großen Playern der Informationsanbieter bewusst. Etwa am Beispiel einer Suchmaschinenanfrage »nach einem Haus im Grünen«. In solch einer Anfrage stecken zu viele Utopien und Vorstellung des Individuums. Es gibt keine Anfrage, die präzis genug formuliert ist. Es müssten Vorstellungen der/des NutzerIn schon erraten werden. Deswegen sind Suchmaschinenanbieter bereits übergegangen, individuelle Profile der NutzerInnen anzulegen, um so zufriedenstellende Ergebnisse liefern zu können. Dies bedeutet aber, dass es für jeden Suchmaschinennutzer eine andere Wahrheit gibt. Bruno Latour und Michel Serres sprechen von Objekten, die Rechte haben, ja sogar von einer eigenen Verfassung für diese. Und nun die verschiedenen Wahrheiten der Objekte. Objekte werden über die Quasi-Wahrheiten immer mehr zu Quasi-Objekten.
Wir sollten deshalb in unserem InfoLAB in Zukunft die Frage nach der Quasi-Kunst stellen, da die Quasi-Objekte der Natur auch Quasi-Objekte der Künstlichkeit(Kunst) erfordern. Durch den Kunstschock der digitalen Revolution, in der die Natur mit der IT ihre eigene Referenz geschaffen hat, verliert die aktuelle zeitgenössische Kunst ihre Betrachterposition und dadurch auch ihre Berechtigung. Um neue Beziehungen herzustellen, in denen man die akausale Information einer kausalen Information gegenüberstellen kann, muss es also eine Quasi-Kunst geben. Die Kunst, das Künstliche steht im Zeitalter des digitalen Spiegelbilds und fordert die »Quasi-Kunst«.

Für Informationssuchende muss ich es aber nochmal formulieren, es muss klar sein mit welcher Art von Information man seine Entscheidungen herbeiführt. Bei zu häufiger Nutzung der IT stellt sich irgendwann die Frage, ob mit kausaler Information überhaupt persönliche Entscheidungen möglich sind und ob dafür nicht irgendwann Quasi-Personen notwendig werden.

Die Stadtwerkstatt sieht im Infolab ein Kunst-Biotop in dem natürliche, nichtrationale Information und spontane Entscheidungen gefordert werden. Sie bringt mit allen ihren autonomen Aktionen und Veranstaltungen auch gerade noch genug Chaos und Entropie auf, um als Motor für Intellekt, freien Willen und Kreativität zu funktionieren.

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#106
16

Quasikunst: Fassade STWST, 3. Akt. Das Sperrrad 2015

Ghostradio, Eleonore 2012

Ghostradio, Riga 2014

& Drupal

Versorgerin 2011

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