Armseliges Winterpaket
Die jährliche Diskussion um diese Maßnahmen – das sogenannte Winterpaket – wurde zusätzlich durch Meldungen von Polizeiaktionen gegen Obdachlose im Wiener Stadtpark eingeleitet. Wie berichtet, kam es im Oktober zu mindestens zwei Aktionen der Polizei gegen Obdachlose im Stadtpark. Dabei wurden im einen Fall die Habseligkeiten eines Obdachlosen von der Polizei entschädigungslos entsorgt und auch Strafen nach der Kampierverordnung verhängt. Die Obdachlosen des Stadtparks sind Sozialarbeitern und Streetworkern der Wohnungslosenhilfe bekannt. Oft sind es eher ruhigere Individuen, welche sich bewusst von den obdachlosen Subkulturen oder den sozialen Einrichtungen abgrenzen wollen. Manche der Obdachlosen schlafen bereits seit Jahren unbehelligt im Park und trinken wenig oder keinen Alkohol. Dessen unterkühlende Wirkung kann die Übernachtung im Freien im Winter lebensgefährlich werden lassen.
Umso unverständlicher erscheinen die Polizeiaktionen, welche Obdachlosen nun in der kalten Jahreszeit das Leben offenbar grundlos erschweren. Noch scheint es offen, ob die Aktion ein Einzelfall war oder ob die Polizei den Stadtpark tatsächlich von Obdachlosen säubern will. Besonders im Winter wird jedoch ersichtlich, wie sehr Obdachlose in Österreich vom guten Willen der Behörden und Institutionen abhängig sind. Exemplarisch dafür sind die Strafen nach der »Kampierverordnung«. Denn diese richtet sich eigentlich gegen Personen, welche im öffentlichen Raum campieren, statt die vorgesehenen Campingplätze zu benützen. Mit anderen Worten: Sie richtet sich an Personen, die über eine Unterkunft verfügen und, aus welchen Gründen auch immer, sich freiwillig entschlossen haben, wild zu campieren. Zweckwidrig gegen Obdachlose angewandt wird daraus ein Angriff auf die existenziellen Grundlagen eines Menschen mittels einer Verordnung, insbesondere wenn, wie bereits geschehen, Habseligkeiten und Schlafmaterial der Obdachlosen eingezogen und entsorgt werden.
Willkür und Duldung bedingen hier einander, im Bereich der Wohnungslosenhilfe betrifft dies vor allem die Obdachlosen aus den neuen EU-Ländern, welche intern auch als »Nicht-Anspruchsberechtigte« bezeichnet werden. Nicht anspruchsberechtigt ist diese Gruppe nach dem Wiener Sozialhilfegesetz, welches den Zugang zu den Sozialleistungen der Stadt Wien regelt. Um eine Anmeldebescheinigung von der MA 35 zu erlangen sind u.a. eine Hauptwohnsitzmeldung in Wien und eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit notwendig. Dies ist Voraussetzung für den Anspruch auf die Leistungen der Stadt. Die Wirtschaftskrise in vielen Staaten Osteuropas, die weitgehende Abwesenheit eines sozialen Netzes in diesen Ländern und der Versuch, in anderen EU-Staaten irgendeine Form eines Einkommens zu finden, treibt Männer und Frauen aus Rumänien, Bulgarien, Polen, Slowakei, der Tschechischen Republik und aus Ungarn nach Wien. Im ungarischen Parlament erließ zuletzt die nationalistische Fidesz-Regierung ein Gesetz, das die geschätzten 30.000 - 50.000 Obdachlosen in Ungarn unter Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen aus dem öffentlichen Leben verbannen soll. Das ungarische Stadtparlament verbot Obdachlosen den Aufenthalt im Umkreis von Schulen, Kindergärten, Friedhöfen und Sehenswürdigkeiten. Kein Wunder also, dass Menschen versuchen, derlei Repressionen und der erdrückenden Armut zu entfliehen. Sozialarbeitern und Betreuern ist die Situation dieser neuen Obdachlosen aus Osteuropa seit mindestens drei Jahren bekannt. Da diese Gruppe einen großen Teil der tatsächlich auf der Straße lebenden Menschen darstellt, war diese Entwicklung auch kaum zu übersehen. Hunderte Armutsflüchtlinge und Wanderarbeiter aus dem Osten Europas leben in Wien, um einem noch schlimmeren Schicksal in ihren Herkunftsländern zu entgehen, viele von ihnen sind obdachlos oder leben in prekären Wohnverhältnissen.
Die Reaktion der Wiener Wohnungslosenhilfe auf diese Zielgruppe war verhalten. Tageszentren für Obdachlose wie Gruft und zeitweise auch Josi schlossen ihre Türen für diese Hilfesuchenden. Mitarbeiter im niederschwelligen Bereich werden zum Teil angehalten, Ausweiskontrollen durchzuführen und ihre Kunden in Berechtigte und Unberechtigte zu sortieren. Wo den neuen Obdachlosen der Zugang zu den Einrichtungen geöffnet wurde, wurden bald die Dimensionen dieser sozialen Migration ersichtlich. Im Tageszentrum Josi, das ab 2011 als eine der wenigen vom FSW (Fonds Soziales Wien) finanzierten Institutionen der Wohnungslosenhilfe für die neue Zielgruppe geöffnet wurde, stieg der Anteil der neuen Obdachlosen an den Besuchern des Tageszentrums bald auf 80 - 90 %. Hier können die Obdachlosen grundlegende Bedürfnisse wie duschen, kochen, Schutz vor Regen und Unwetter befriedigen oder sich einfach einmal stressfrei in einem geschützten Raum aufhalten. Der Bedarf nach Unterstützung für diese neuen Obdachlosen ist unübersehbar. Dennoch zieht man es in den Etagen des FSW und der WWO (wieder wohnen/ausgelagerte Abteilung des FSW) vor, diese sozialen Entwicklungen weitgehend zu ignorieren. Als ob Obdachlose im Sommer keine Bedürfnisse hätten, werden die vom FSW geförderten Notschlafstellen für die neuen Obdachlosen im Sommer gesperrt. Von den weiteren Leistungen der Wohnungslosenhilfe, welche Obdachlosen eine Übergangsunterkunft, Hilfe bei der Wohnungssuche und Sicherung eines Einkommens bieten, sind die EU-Obdachlosen praktisch vollständig abgeschnitten. Im Herbst, jedes Mal zu spät, werden alljährlich provisorische Pläne geschmiedet, um zumindest die lebensnotwendige Versorgung dieser Zielgruppe zu gewährleisten. Lange Planungen bringen dabei kaum mehr als Matratzenlager oder die provisorische Aufstockung bestehender Räumlichkeiten zustande. FSW und WWO verpassen keine Gelegenheit sich für diese Wintermaßnahmen zu brüsten, wobei gern übersehen wird, dass der überwiegende Anteil der Betreuung der »Nicht-Anspruchsberechtigten« Obdachlosen nicht von der Stadt Wien, sondern von kirchlichen Einrichtungen (Caritas/Lacknergasse, VinziPort, VinziBett,...) geleistet wird.
So populistisch die Äußerungen der SPÖ-Stadträtin Sonja Wehsely auch klingen mögen, wonach die »Wiener Wohnungslosenhilfe [nur] für Wiener« zur Verfügung stehe und es gelte, »Sozialtourismus« zu verhindern, so muss man jedoch zugestehen, dass eine bedingungslose Versorgung der Obdachlosen aus Osteuropa angesichts der sozialen Zustände dort nicht realistisch ist und damit unauflöslich die schwierigen Fragen des Aufenthaltsrechts von EU-Bürgern in anderen EU-Staaten, bzw. der Erwerbsfreiheit von EU-Bürgern in der EU verbunden sind. Andererseits sind FSW/WWO offensichtlich nicht in der Lage, eine klare und transparente Regelung und Arbeitsvorgabe für diese Menschen zu erarbeiten. Dabei hat eine Arbeitsgruppe der WWO (eine Ausnahme im vom Arbeitsgruppenfetischismus geplagten Sozialbereich) selbst grundlegende Aufklärungsarbeit zu diesem Thema geleistet, welche im Bericht »Obdachlose EU-BürgerInnen in Wien« ihren Niederschlag fand. Dennoch befinden sich weiterhin hunderte Obdachlose in Wien, welche bereits jahrelang in einer rechtlichen und sozialen Grauzone leben. Sie dürfen, formal gesehen, legal in Wien wohnen, aber nur wenn sie eine Arbeit nachweisen können und dürfen in Wien legal arbeiten, wenn sie einen festen Wohnsitz nachweisen können. Real leben sie auf der Straße, an Knotenpunkten des öffentlichen Verkehrs, im Winter besuchen sie Geschäftspassagen und öffentliche Büchereien, um der Kälte zu entfliehen. Ohne klare politische Regelungen bleiben sie allein geduldet, abhängig vom Opportunismus einer Sozialbürokratie. Den realen Anforderungen wird man auf diese Weise freilich nicht gerecht. Eine Armuts-Binnenmigration wird seit Jahren in allen europäischen Großstädten verzeichnet. Ein Bericht der FEANTSA (European Federation of National Organisations working with the Homeless) zu dem Thema schätzt den Anteil an Personen aus Osteuropa unter den Obdachlosen in Paris auf 40% ein, in Spanien seien 50% der Obdachlosen polnische Staatsbürger. In Linz beschloss die Wärmestube der Caritas unlängst ihre Tore für die EU-Obdachlosen zu schließen. Alexandra Riegler-Klinger, Caritas Geschäftsführerin in Oberösterreich, erklärte ganz unbefangen, die Zielgruppe der Wärmestube seien »wohnungslose Menschen«(?). Peter Hacker, Geschäftsführer des FSW, beruhigt jedoch, schließlich habe man eine entsprechende »Arbeitsgruppe beschlossen«. Winter is coming.