Siebenunddreißig Jahre »konkret«
Am Anfang stand eine Wette. Im Sommer 1971 verbrachte ich, damals in Krems-Lerchenfeld neben der Hütte Krems lebend, einige Ferienwochen bei meinem gleichaltrigen Cousin in Salzburg-Parsch. Wir waren vierzehn Jahre alt, hörten Uriah Heep und Rolling Stones, bestaunten die ersten erfolglosen Gehversuche Niki Laudas in der Formel 1 und stellten Betrachtungen über den Vietnam-Krieg1, die Haltbarkeit von Blausiegel und Olla-Kondomen sowie der Minderheitsregierung Kreisky an.
Jeden Tag zogen wir mit den Fahrrädern durch die Salzachstadt, erfreuten uns am Sprachengewirr der Touristen und den scharfen Bosna Würsten aus einem Verschlag nahe der Getreidegasse. Solcherart gestärkt, fuhren wir auf den Mönchsberg, legten uns im Schatten eines ehemaligen Klosters in den Wald und bestimmten den Einsatz für den Sieger des anstehenden Wettwichsens. Als Unterlage diente uns ein buntes Magazin, das neben elend langen politischen Artikeln auch wertvolle Kost brachte: ganzseitige Fotografien vollbusiger nackter Mädchen. Der Name des Magazins lautete: »Konkret«. Den hormonellen Wettkampf an jenem Sommernachmittag im Schatten des Mönchsbergs habe ich verloren, weil ich auf der Rückseite des nackten Mädchens einen Text über die RAF vorfand. Während ich mir den Kopf zermarterte, warum die »Royal Air Force« in Deutschland derart leidenschaftliche Diskussionen auszulösen vermochte, verlor ich entscheidendes Terrain im Wettstreit mit meinem Cousin. Der siegte, von keinem Artikel abgelenkt, mit einem für mich beschämenden Minutenvorsprung. Daß ich damals mit »konkret« nicht gebrochen habe, rechne ich mir heute noch hoch an.
Seit meinem vierzehnten Lebensjahr fühle ich mich dieser Publikation somit nicht nur geistig verbunden. Durch siebenunddreißig Jahre lese ich »konkret« regelmäßig und habe mehrere Dutzend Artikel und Glossen für diese Zeitschrift verfasst. Mit einiger Überraschung und leiser Wehmut stelle ich fest, daß es sich um meine längst andauernde Freundschaft handelt, denn sie währt immerhin schon siebenunddreißig Jahre, was bei einem Mann im einundfünfzigsten Jahr eine Menge ist. Es ist dies eine Zeitspanne, die viele gute und nur wenig schlechte Zeiten umfasst und ich wünschte, meine Bilanz in sonstigen Liebes- und Freund-schaftsbeziehungen würde ähnlich positiv ausfallen. Wenn »konkret« nun den fünfzigsten Geburtstag feiert, so möchte ich dem Jahrgangskollegen2 einige Geschichten und Schnurren überreichen, die nicht chronologisch angeordnet sind, doch einer inneren Logik folgen, die man früher wohl dialektisch genannt hätte. Es ist unvermeidlich, dass ich damit auch an einige glorreiche Taten und viele Irrfahrten der außerparlamentarischen Linken in Deutschland – und Österreich – erinnere.
Die Beziehung zu »konkret« nahm eine dramatische Wendung, als Klaus Rainer Röhl, der für die Mischung aus Sex- und Politmagazin ver-antwortlich war, das Blatt an einen Jungstar der Hamburger Journalistik verkaufte. Hermann L. Gremliza, Innenpolitikchef des »Spiegel«, hatte eine Revolte gegen den alten Nazischützer Rudolf Augstein, der die Zeitschrift im Stil des hitleristischen Panzergenerals Manstein führte, angezettelt – und verloren. Mit der Abfertigung und einigem privaten Geld erwarb Gremliza von Röhl, dessen frühere Frau Ulrike Meinhof sich der Stadtguerilla verschrieben hatte und der Meinung anhing, die Bundesrepublik Willi Brandts sei ein im Grunde faschistischer Staat, dem nur mit den Mitteln des gezielten Terrors begegnet werden könne, die Monatsschrift. (Mittlerweile hatte ich gelernt, dass mit dem Kürzel RAF nicht die englische Luftwaffe gemeint gewesen war). Mit den nackten Mädchen war jetzt Schluß, die Texte indes wurden vielfältiger, schärfer und spannender. Jedes neue Konkret-Heft, das ich im Namen von acht Freunden und Freundinnen von der Kremser Bahnhofsbuchhandlung holte, brachte aufregende politische und literarische Texte von den führenden Schriftstellerinnen und Publizisten der späten siebziger und frühen achtziger Jahre – es war dies die Zeit des »Deutschen Herbstes«, des Höhepunkts und vorläufigen Zerschlagung der Roten Armee Fraktion, es war die Zeit der von Millionen besuchten Latsch-Demos gegen AKW’s3 und die Atomrüstung, und es war, kurz vor dem Auftreten von AIDS, die letzte Hochblüte einer angstfreien und relativ unbeschwerten Sexualität. Acht Freunde und Freundinnen hatten sich zusammengetan, je ein Abonnement von »konkret« – und des »Wiener Forvum« zu betreiben. Jeder hatte zwei Tage Zeit, das neue Heft zu lesen, dann wurde es weitergegeben. Schließlich trafen wir uns am Donauufer und erörterten die wichtigsten Artikel. Selten endeten die Diskussionen ohne Streit und Disput, aber die Hoffnung auf neue Geistesnahrung mit dem nächsten Heft führte uns immer wieder zusammen. So lernten wir früh einige Wesenzüge der hoffnungsfrohen Linken am eigenen Leib kennen: Recht-haberei bis zur Verblödung, Spaltungssehnsucht bis zur Nullifizierung und das Bewusstsein, der Menschheit bei all ihren Unternehmungen, den entscheidenden, den theoretischen Schritt, voraus zu sein. Wir hatten zwar wenig verstanden, durch die Abonnements jedoch die (vermeintliche) Einsicht in die Verhältnisse gepachtet. Das war aber nur die missliche Seite des Widerspruchs, die progressive war der Umstand, dass wir, indem wir die hässlichen Seiten der Linken quasi am Trockendock kennenlernten, auch lernten, damit umzugehen ohne uns umzubringen. Wir durchliefen gleichermaßen in kurzer Zeit die Stammesgeschichte der Europäischen Linken im 20. Jahrhundert.
Im nächsten Heft: Die große Zeit von »konkret«, Gremliza singt Marienlieder, Mikis Theodorakis wartet auf seine Chance
http://www.konkret-verlage.de
Anmerkungen:
1) anlässlich eines in diesen Zeitraum fallenden Besuchs von US-Präsidenten Nixon kam es zur größten und gewalttätigsten Friedensdemonstration außerhalb von Wien seit dem Zweiten Weltkrieg; mit einigem Recht kann die Demo als eine Gründungsakte der außerparlamentarischen Linken Österreichs bezeichnet werden
2) Oder ist »konkret« eine Sie? Immer wieder habe ich Leser von »der konkret« reden hören. Es ist nicht erforderlich, dass dieses Geheimnis je gelüftet wird, es reicht das Wissen um eine offen bleibende Frage
3) ich erinnere mich an die größte dieser Demos in den Rheinauen von Bonn, vis–a–vis vom Regierungsviertel, als Ronald Reagan Deutschland einen Besuch abstattete. Mehrere Hunderttausend Friedensbewegte rannten an einem heißen Frühsommertag hechelnd im Kreis, die wenigsten fanden die Hauptbühne oder auch nur Toiletten; hätten nicht generöse ältere Einfamilienhausbesitzer die Marschkolonnen mit Wasser und essbaren Happen versorgt, wäre es auf der größten Friedensdemo Europas zu einem Massensterben gekommen. Auch von den Reden haben wir nichts mitbekommen, dennoch leitete uns die einer quasireligiösen Inbrunst entspringende Überzeugung, dass allein unsere massenhafte physische Anwesenheit die Verwirklichung des NATO-Doppelbeschlusses – der weiteren atomaren Aufrüstung – verhindern werde