Frank Stronach und die direkte Demokratie
An einem schwülen Augusttag standen Groll und der Dozent an der Ausfahrt des Ennshafens an der Donau.
Während Groll mit seinem Fernrohr die Donau nach Schiffen absuchte, berichtete der Dozent von einem Symposion über die direkte Demokratie, welches am
Vortag in Grein zu Ende gegangen war. »Geschätzter Groll! Wie Sie wissen, ist die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen politischen Personal groß. Es heißt, eine derart mittelmäßige, phantasielose und unbegabte Politikertruppe habe das Land noch nie gehabt.« »Ich bin mir da nicht so sicher«, erwiderte Groll. »Die Herrschaften in den sechziger und siebziger Jahren waren auch keine Lichtgestalten. Selbst wenn der Befund zuträfe, was folgerte daraus? Woher sollen kluge, kommunikative und ehrliche Politiker denn kommen? Eine derartige Spezies laicht nicht in Altarmen und rodelt nicht auf
Lawinen ins Tal.«
Er bitte um Erläuterung, sagte der Dozent. Groll setzte das Glas ab und seufzte. Noch immer lag die Donau einsam und von Schiffen verwaist.
»Ich denke, es handelt sich um eine Parallele zum Abschneiden der heimischen Olympioniken in London. Da spielen Kanzler und Minister sich als enttäuschte Gönner auf, faseln von Olympiatouristen und meinen nicht sich, sondern Sportlerinnen und Sportler, die tun, was in einem kleinen Land mit einer inferioren Organisation des Sports, in dem Turnstunden gekürzt, Sportplätze geschliffen und Bäder geschlossen werden, möglich ist – sie erringen einige achtbare Ergebnisse.«
»Aber den feudalen Fürsten beim Olympischen Komitee und dessen Handlangern von den Lotterien ist das zuwenig«, führte der Dozent den Gedanken weiter. »Ebenso wie es zuwenig ist, wenn ein Außenminister unfallfrei eine Gangway heruntersteigen kann. Und wie immer, wenn Politik auf Personen mit Defiziten reduziert wird, ertönt der Ruf nach mehr direkter Demokratie.«
»…auf daß noch mehr Personen mit Defiziten in Machtpositionen kommen«, unterbrach Groll. »Ich sehe darin aber nichts Verwerfliches, immerhin trage ich als behinderter Mensch ja auch ein Defizit mit mir herum.«
Der Dozent widersprach. Es komme doch sehr wohl auf Art und Weise der Defizite an. Prinzipiell müsse gerade eine menschliche Veranstaltung wie die Demokratie mit Defiziten ihres Personals zu Rande kommen. »Um es auf den Punkt zu bringen, geschätzter Groll. Nur eine behinderte Demokratie ist eine Demokratie. Eine makellose Demokratie ist gleichbedeutend mit einer Diktatur.«
Groll setzte das Fernglas an, er hatte flußabwärts einen Schubverband ausgemacht. »Sprechen Sie weiter«, sagte er zum Dozenten.
»Zu den größten Einschränkungen der bürgerlichen Demokratie gehört, daß sie dazu übergeht, Staatsbürgerinnen und Bürger in ihren Freiheitsrechten mehr und mehr einzuschränken. Die direkte Demokratie könnte in diesem Zusammenhang ein Mittel sein, dieser Verengung des Politischen entgegenzuwirken.«
»Verengung des Politischen«, wiederholte Groll und setzte das Fernglas ab. »Klingt gut, ist aber Unsinn. Das Wesen des Politischen ist dessen Verengung – durch die Ökonomie, die Natur, die Zeit und so weiter. Wenn ich bei einer gegebenen reaktionären Einstellung der Bevölkerung in vielen Fragen des Sozialstaats und der Menschenrechte auf direkte Demokratie setze, bekomme ich keine Verengung des Politischen sondern eine Abschaffung des Humanen.«
Groll sehe das zu eng, meinte der Dozent und berichtete vom Referat des französischen Philosophen Jacques Rancière (1,) der fordere, den gesellschaftlichen
Anteil deklassierter Personen zu erhöhen. »Das kann nur dadurch geschehen, daß diese Leute sich ihrer Position bewußt werden und für sozialpolitische Rechte eintreten. Indem sie sich selber befreien, räumen sie blockierte demokratische Strukturen frei.«
»Und wie soll die Bewußtwerdung erfolgen? Durch den Heiligen Geist oder durch Aufklärungspillen?«
»Darüber schwieg der Philosoph«, entgegnete der Dozent. »Dennoch glaube ich, daß man neuen politischen Instrumenten eine Chance
geben muß.«
Groll schüttelte den Kopf. »Auf einem reaktionären Boden gedeihen keine weltoffenen Orchideen. In Österreich wird die direkte Demokratie von
Herrn Stronach verkörpert, er kauft sich Mandatare und mediale Aufmerksamkeit und erklärt seine bornierte Sicht der Welt zur allgemeinen.
Auf diese direkte Demokratie kann ich verzichten.«
Wie meist in weltanschaulichen Fragen agiere Groll ungerecht und begehe den häufigsten aller Fehler, er denke zu kurz, sagte der Dozent. Er denke nicht, sondern gebe wieder, was er höre und lese, meinte Groll kühl. »Der als ‚Sanierer‘ berüchtigte Kärntner Industrielle und Kunstsammler Liaunig (2), der einst die Schiffswerft Korneuburg in den Bankrott bugsierte, sprach neulich davon, daß Wahlen und diverse Beteiligungsmodelle gesellschaftliche Probleme nicht lösten. Die Misere wurzle nämlich nicht in der Inkompetenz der Politiker, sondern in der Inferiorität der Wähler.« Eine bequeme Entschuldigung der Eliten, warf der Dozent ein. »‚Das Übel sind die Wähler‘, beharrte Liaunig, auf die Kärntner Verhältnisse angesprochen«, erwiderte Groll. »Und ich denke, er hat damit nicht unrecht. Obwohl er, bei diesem Herrn kann das nicht überraschen, eine reaktionäre Begründung ins Treffen führt.«
»Ich höre«, sagte der Dozent.
»Der Leistungsgedanke sei abhanden gekommen und eine ‚unglaubliche Banalisierung und Primitivisierung‘ habe sich breit gemacht, meint Liaunig. Es gebe keine Besserung, wenn das politische Personal ausgewechselt werde, man müsse auch die Wähler austauschen, möglicherweise sei sogar das System in Frage zu stellen.«
»Das Konzept für eine sozialdarwinistische Diktatur«, sagte der Dozent.
»Unter gegebenen Bedingungen ja«, sagte Groll. »Dennoch streift Liaunig einen Zipfel der Wahrheit. Nur wer in der Lage ist, sich eine andere Gesellschaft vorzustellen, vermag den zähen Kampf in der bestehenden um eine menschengerechte Lebensform über eine lange Zeit hinweg zu führen.«
»So konstruktiv kenne ich Sie gar nicht«, meinte der Dozent verwundert.
Groll lächelte und setzte das Fernglas wieder an. Die »Ria« aus Bamberg näherte sich der Hafeneinfahrt. Stromabwärts rauschte die »Zvonimir« aus Belgrad heran.
[1] Jacques Rancière studierte wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Bernard Henry-Lévy
in Paris bei Louis Althusser. 1965 war er maßgeblich an den Arbeiten zu Lire le Capital (Das
Kapital lesen), einem Schlüsselwerk der 68er Bewegung, beteiligt. Er überwarf sich 1968 mit
Althusser, der den distanzierten Standpunkt der KP gegenüber den studentischen
Massenprotesten verteidigte und widmete sich in der Folge einer systematischen Erforschung
von Arbeiter- und Deklassiertenaufständen. Im Zuge des »Arabischen Frühlings« und der
»Occupy Bewegung« stoßen seine Arbeiten über die Selbstorganisation von Deklassierten auf
verstärktes Interesse. Rancière weilte im Spätsommer zu mehreren Vorträgen in Österreich.
[2] Kleine Zeitung, 25. 8. 2012