Originalgetreu, doch höchst abstrakt
»Mit den Geld-Krümeln, die vom Tisch der künstlerischen Kinematographie fallen, aber manchmal auch gänzlich ohne Mittel, bauen wir unsere bescheidenen Filmchen zusammen.« Was der russische Filmemacher Dziga Vertov 1923 in seinem Manifest »Kinoglaz« (Filmauge) feststellte, könnte durchaus für heutige Veranstaltungen gelten. Vertov hatte mit der künstlerischen Kinematographie das damalige, narrative Mainstream-Kino gemeint, welchem mit einem neuen, experimentellen Film entgegen getreten werden müsse. Dieser Film so Vertov, ersetze das Auge des Menschen durch das Filmauge, das Kinoglaz, welches einen neuen Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge erlaube.
Dass in der Reihe Local Artists im Rahmen des Film-Festivals Crossing Europe ebenfalls die Geld-Krümel im Vergleich zu Mainstream Kino hierzulande verfilmt worden sind, davon können alle beteiligten Filmemacher-Innen ein Lied singen. Wer prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse sucht, findet sie im Filmgeschäft. Dass aber mit den sprichwörtlichen Brot-Krümel, sensationelle Sichtweisen auf gesellschaftliche Zusammenhänge gezeigt und außerordentliche ästhetische Entwürfe entwickelt werden können, dafür hat auch das diesjährige Festival den Beweis erbracht.
Die Linzer Filmkünstlerin Edith Stauber hat den Zeichntrickfilm gewählt, eine völlig andere Form des Kino Auges als jene, die Vertow vorgeschlagen hat, aber doch eine verwandte. Bei ihrem Zeichentrickfilm »Eintritt zum Paradies um 3 Euro 20« kann man von einem scharfen Realismus und höchster Abstraktion gleichermaßen sprechen. Ihr Film knüpft an ihre Vorgängerarbeit »Über eine Straße« an, einem Dokumentarfilm über die Dametzstraße. In dieser Dokumentation sind die Menschen noch selber zu Wort gekommen. Doch wie bei Dokumentarfilmen mit konventioneller Dramaturgie üblich, sind die Originaltöne immer von dem geleitet, was gesellschaftlich erwünscht ist, also dem herrschenden Hegemonie-Diskurs unterworfen.
Mit »Eintritt zum Paradies um 3 Euro 20«, dem Film über das Parkbad, der laut Edith Stauber eine Fortsetzung der vorgegangenen Arbeit ist, hat die Künstlerin diese Klippe elegant umschifft. Die Bilder der Kamera, ersetzt Edith Stauber mit dem zeichnerischen Blick. Was als pure Lust an den Formen und Farben im Parkbad begonnen hat, ist zu einem Dokumentarfilm mit unbestechlichem Blick geworden. Die Speckfalte der älteren Dame, das Fischen nach dem Essiggurkerl im Glas, Bier trinkende Badehosen-Machos, die Pediküre der Chianti-mit-Cola-Lady, der gestrenge Blick der SBL-Kassiererin, das Mikrowellen-Menue im Buffet, das mit Maggi nachgewürzt wird, der Spanner, der den Damen zwischen die Beine spechtelt, der auf den Rasen rotzende Kriegsinvalide, die doofen Schlagzeilen der Boulevard-Presse – all das wird in Staubers Film zu einem etwas erbärmlichen Paradies eingedampft. Der Blick auf das soziale Unterfutter, wie dies der Schriftsteller Franz Kain formulierte, wird geschärft, es treten die Widersprüche einer Gesellschaft zutage, die in anderen, Realismus reklamierenden Formaten, gar nicht sichtbar würden.
Den gezeichneten und animierten Bildern setzt die Künstlerin eine originalgetreue Sound-Kulisse entgegen, welche die Wirkung des Films zusätzlich verstärkt. Der Baustellenlärm vor dem Bad, das Quängeln der Kleinkinder, das Furzen der Sonnencreme-Tube, das La Paloma-Gedudle eines Besuchers und die allgegenwärtigen enervierenden Mobiltelefon-Klingeltöne setzen dem Ganzen die Krone auf. Doch Edith Stauber zeichnet kein trostloses, deprimierendes Paradies, sie bricht ihren Realismus stets ironisch, was dem Film eine Leichtigkeit verleiht, die dem Stoff angemessen ist.
Technisch wie auch formal einen gänzlich anderen Weg hat die Filme-macherin Barbara Musil in ihrem Beitrag »market sentiments« gewählt. Sie hat die Immobilien Hausse in Estland während eines Aufenthaltes selber kennen gelernt und zum Thema ihrer Video Animation gemacht. Der Titel des Films, »market sentiments« meint nicht Gefühle und Empfindungen, sondern eine Übersetzung im Sinne von Stimmungen – Jubel-Stimmungen. Und Markt-Stimmungen, können in Zeiten des neoliberalen Kapitalismus alles andere als empfindsam sein, im Gegenteil: »Für 100 Prozent Profit, stampft es (Das Kapital) alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß. 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens«, wie Karl Marx anmerkte. Diesem radikalisierten Immobilien-Markt, setzt Barbara Musil eine reduzierte, scheinbar höchst abstrakte Bildersprache entgegen, dem Furor des Marktes Luft-Bilder von Landschaften, die zur Veräußerung anstehen. Die Bilder der Landflächen, also der Waren, die zum Handel anstehen, hat Barbara Musil aus Makler-Broschüren und aus Anzeigen aus dem Internet gesammelt. »Die estnischen Gesetze für Immobilien- und Landerwerb sind ultraliberal, kaum Beschränkungen unterworfen und hundertprozentig Investorenfreundlich. Die meist ausländischen Investoren werden umworben, mit günstigsten Kreditbedingungen und entgegenkommenden Steuersätzen willkommen geheißen«, so die Künstlerin. Im Zuge der Recherchen, sei bei ihr zusätzlich das Gefühl entstanden, dass es sich bei Grund und Boden eigentlich um etwas handle, was nicht den Märkten überantwortet werden sollte.
Die Video-Animation arbeitet mit Luft-Ansichten der zu verkaufenden Flächen. Diese Bilder haben ein ganz spezielles Eigenleben, nahezu abstrakte, auf wenige Farbflächen reduzierte Landschaftsansichten werden von künstlich geschaffenen graphischen Grenzlinien überzogen. Das Durchschneiden der Landschaft durch die Katasterlinien ist das bildnerische Thema des Films. Die Grenzziehungen passieren jedoch nicht aufgrund ästhetischer Überlegungen, sondern sie folgen den Markt-Gesetzen. Konterkariert wird dieses graphische Spiel durch die betörend schöne Musik des Esten Arvo Pärt. »Die Musik war für mich von Anfang an eine Art Rückgrat für die Komposition des Bildmaterials im Video aber auch für die komplette Entwicklung der Arbeit«. So hat auch Barbara Musil eine höchst komplexe dokumentarische Arbeit gezeigt, die für sich reklamieren kann, ein Kino-Auge, im Vertovschen Sinne zu führen.
Musil hat für diese außerordentliche Arbeit den Local-Artist Preis erhalten. Allein das zeigt, wie wichtig diese Schiene bei Crossing Europe ist. Dass es auch andere KünstlerInnen mit famosen Arbeiten in dieser Reihe gegeben hat, mit Edith Stauber nur eine zu nennen, zeigt, dass man die Preisvergabe gerade auf diesem Feld durchaus ausweiten könnte.