Meine Jahre mit »konkret«
Im Sommer des Jahres 1986 saßen zwei Herren im besten Mannesalter auf der Veranda einer Gemeindewohnung in Groß-Jedlersdorf, dem nördlichen, an das berühmte Stammersdorf angrenzenden Teil des Wiener Großbezirks Floridsdorf, der mehr Einwohner als Klagenfurt oder Innsbruck oder Salzburg hat, aber im Gegensatz zu diesen Städten weder über einen See, eine Sprungschanze noch eine Hohenfestung verfügt. Wohl aber verfügt Floridsdorf über einen Badeteich, eine steile Kellergasse und unzählige Heurigen. Und immer wieder lassen sich auch illustre Gäste im Bezirk nieder. An jenem strahlenden Sommertag des Jahres 1986 beherbergte der Bezirk zwei der bedeutendsten linken Schriftsteller der Gegenwart: den realistischen Essayisten, Romanautor und Filmemacher (»Die Kameraden des Koloman Wallisch«, »Eine Heimkehrerlegende«) Michael Scharang und den Herausgeber der wichtigsten deutschen linken Autorenzeitschrift »konkret«, Hermann L. Gremliza. Anstatt sich in der Sonne zu räkeln und einem milden Brünnerstraßler zuzusprechen, widmeten sich die beiden ihrer angestammten Arbeit; sie korrigierten einen siebenseitigen Text, ein politisches Reisetagebuch von und über Zypern. Der Text war von mir, und es sollte mein erster Text in »konkret« sein.
Der Reisebericht beruhte auf eingehenden Recherchen, die ich in jenem Jahr in Zypern angestellt hatte. Am 1. Mai war ich mit meinem Rollstuhl Josef I. bei der großen Demonstration der Kommunisten aus Larnaca und Umgebung als Ehrengast mit dabei gewesen, in der dritten Reihe, zwischen Parlamentsabgeordneten und Gewerkschaftsführern, dem kommunistischen Bürgermeister von Larnaca und verdienten Genossen und Genossinnen des Politbüros und des ZK der »Partei des werktätigen Volkes« (AKEL). Dazu ist zu sagen, daß die AKEL die linke Massenpartei im griechischen Teil Zyperns ist, ihre Wahlergebnisse pendeln bis heute zwischen dreißig und sechsunddreißig Prozent, derzeit wird der Staatspräsident Dimitris Christofias von der AKEL gestellt. Die Partei stützt sich auf ihre starke Gewerkschaftsfraktion PEO und große Kooperativen im Zitrus- und Weinanbau sowie Hafen- und Industriearbeiter. Westlich von Larnaca befinden sich mehrere einwohnerstarke und reiche Dörfer, deren Bewohner in ihrer überwiegenden Zahl an der Mai-Demonstration teilnahmen. In Pervolia, Meneou, Kiti und einer Reihe benachbarter Ortschaften verfügt die AKEL über einen stabilen Wähleranteil von sechzig bis achtzig Prozent, die Gegend wird daher auch »red belt« genannt. In jedem Dorf gibt es ein Parteiheim und Kulturhäuser, in denen neben den sozialistischen Klassikern und lokalen Veteranen des Klassenkampfs immer wieder auch Bilder eines schnauzbärtigen Herren aus Gori in Georgien anzutreffen sind. Und doch ist die AKEL keine stalinistische Partei, sondern eher eine sehr linke sozialistische Volkspartei. In den siebziger Jahren hätte sie von ihrer Ausrichtung her durchaus als Exponentin des sogenannten eurokommunistischen Flügels der internationalen kommunistischen Bewegung gelten können.
Im Zuge dieser Mai-Demonstration, die durch die Haupteinkaufsstraße Larnacas, die Hermes-Straße, geführt wurde, und am kommunalen Hauptstrand in Sichtweite des Rathauses in einem Konzert von Liedermachern ausklang, lernte ich einen alten, weißhaarigen Mann kennen, der rüstig ausschritt und laut die Parolen skandierte. Genosse Michalis war General der zypriotischen linken Untergrundarmee gewesen, die in den fünfziger Jahren einen langwierigen Partisanenkrieg gegen die englische Besatzungsarmee führte. (Die Insel war von den Briten in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von den Türken gekauft worden, um den Seeweg nach Indien via Gibraltar, Malta, den Suez-Kanal und Aden abzusichern). Dutzende leitende Genossen waren von den Engländern gefoltert und erschossen worden. Kommunisten stellten zwar den Hauptanteil der Kämpfenden, es schlossen sich aber auch viele linksbürgerliche Kämpfer, unter ihnen auch der in mehreren Denkmälern auf der Insel heute noch hochgeehrte Grigori Afxentiou an, der von den Engländern ermordet wurde. Seit 1986 besuchte ich Zypern regelmäßig, manchmal sogar zweimal, im Frühling und im Herbst. Genosse Michalis wurde zu einem väterlichen Freund, der mich immer wieder in die Dörfer des »red belt« mitnahm, um nachmittags auf der Veranda eines kleinen Häuschens Nüsse zu knabbern und Shivania, eine Art Grappa, zu schlürfen. In diesen Mußestunden gab mir der alte General einen Intensivkurs in zypriotischer und britischer Geschichte, denn auch in England kannte Michalis sich sehr gut aus. Er wohnte bei seiner Schwester in einem bescheidenen Häuschen nahe des Archäologischen Museums und der dort befindlichen Ausgrabungen des alten Hafens von Larnaca. Auf dem Gelände des antiken Kition – die Heimat der Stoiker – befand sich der lokale Tennisklub, wo ich frühmorgens bei meinem Tennislehrer Chris Christodolou Technik und Athletik schulte. Abends besuchte ich mit Genossen Michalis und anderen Freunden gern das Klubhaus des linken Fußballvereins ALKI (in Zypern sind alle großen Vereine unmittelbar an politische Parteien gekoppelt). Dort gab es hervorragende Souvlakia, Keftedes und gegrillten Halloumikäse und man konnte alle wichtigen internationalen Fußballspiele verfolgen.
Eines Tages stand wieder einmal der Besuch von Mikis Theodorakis auf der Insel an und alle waren schon in Vorfreude auf die Konzerte des großen Meisters. Ich hatte Theodorakis zu diesem Zeitpunkt mehrfach in der DDR gesehen, sogar ein Interview mit ihm gemacht, und war gespannt, wie »Theo« vor heimischem Publikum spielen würde. Von Genossen Michalis (der später in einem meiner Theaterstücke, in »Adieu Madrid«, porträtiert wurde) und von Mikis Theodorakis handelte mein Reisebericht, von meinen Freunden Stavros, dem Apotheker, George, dem Alltagsphilosophen und erfolglosen Börsenspekulanten, von den beiden Kyriacos, die traditionell zypriotische Tavernen in Pyla und Pervolia führten, von Aroulla und Andreas, die mich in Tagen größter Hitze in die zweitausend Meter hohen Berge des Troodos-Gebirges mitnahmen und vielen anderen – Dimitri, Marios, Eva und Eleni. Es war eben jener Text, den Michael Scharang und Hermann L. Gremliza an besagtem Sommertag in Floridsdorf korrigierten und für den Druck einrichteten.
Warum der längst angenommene und korrigierte Text nie veröffentlicht wurde, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die einen halten dafür, daß der Text in Verstoß geraten sei, andere wieder wollen Vorbehalte gegen die erwähnten Stalin-Bilder für den Nichtabdruck des Textes verantwortlich machen. Es gibt auch Stimmen, die einen STASI-Zusammenhang nicht ausschließen wollen, wobei vollkommen unklar ist, wie der sich im konkreten Fall auswirken sollte.
Wenige Monate später wurde dann doch mein erster Text in »konkret« veröffentlicht. Er hieß der »Aufstieg des Goiserers« und beschrieb Jörg Haiders Aufstieg in FPÖ und Zweiter Republik.
Daß der Text über Zypern und Mikis Theodorakis schon im nächsten Jahrzehnt erscheinen wird, daran besteht kein Zweifel. Zumindest versichern das Hermann L. Gremliza und Michael Scharang in jedem Gespräch. Mich stimmt diese kleine Verzögerung von dreiunddreißig Jahren zuversichtlich, bedeutet sie doch, daß die beiden Herren noch weitreichende Pläne mit »konkret«, der Linken insgesamt und mit mir haben.
Die grandiose Entwicklung, die »konkret« in den letzten Jahren als unsinkbares linkes Zentralorgan genommen hat, ist im Zeichen der in »konkret« seit Jahrzehnten vorhergesagten Wirtschaftskrise für alle Fortschrittskräfte unverzichtbar. Die Analysen und Texte zu Ökonomie und Politik, Kunst und Literatur zählen nach wie vor zu den besten, die im deutschen Sprachraum zu lesen sind. Wie schön, daß diese Einschätzung jedes Monat an den Kiosken überprüft werden kann.