Briefe zum Spektakel
1931 geboren, wurde Guy Debord zur maßgeblichen Figur in der Situationistischen Internationale, einem Zusammenschluss von Künstlern und Gesellschaftskritikern, der von 1957 bis 1972 existierte und beispielsweise maßgeblich zum Aufruhr im Pariser Mai des Jahres 1968 beigetragen hat. Der wohl bekannteste Text der SI »Über das Elend im Studentenmilieu« erschien in Massenauflagen und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Debords 1967 publiziertes Hauptwerk »Die Gesellschaft des Spektakels« ist bis heute einer der wichtigsten Versuche, radikale Gesellschaftskritik jenseits und gegen den ebenso stalinistisch wie
sozialdemokratisch erstarrten Traditionsmarxismus zu betreiben.
Die nun publizierten ausgewählten Briefe aus den Jahren 1957 bis 1994 bieten einen Parforceritt durch die Geschichte der revolutionären Erhebungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob Algerien, Spanien oder Portugal: Debord stand stets in engem Kontakt mit anarchistischen und linkskommunistischen Zirkeln, um sich über den Stand der revolutionären Sache zu informieren und in die Umbrüche wenn möglich zu intervenieren. Man erfährt einiges über die Verwandlung Italiens in »ein europäisches Labor der Konterrevolution« und über die Arbeiter-streiks im Polen der 1980er Jahre, die Debord zu den »wichtigsten Ereignissen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« zählte. Man liest über den damaligen Studentenaktivisten und heutigen Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, »der die Rolle als spektakuläres Starlet akzeptiert hat« und über den »unfähigen Gorbatschow«. Debord äußert sich zur Anfang der 1980er-Jahre aufkommenden Debatte über »Integration« und Migration ebenso wie zum Zusammenbruch der Ostblockstaaten, die er stets als »konzentriert spektakuläre« Gesellschaften kritisiert hatte.
Über die Marxisten spottete er: »Das Proletariat ist ihr heimlicher Gott.« Anstatt seiner Anbetung forderte Debord die »Selbsterziehung des Proletariats«. Er hielt es für unerlässlich, dass »die Mehrzahl der Arbeiter Theoretiker werden«. Keineswegs nur Stalin, sondern auch Trotzki und Lenin, dessen »positives theoretisches Erbe gleich null« sei, werden bei ihm attackiert. Gegen den antikommunistischen Unsinn des aufkommenden Poststrukturalismus betont Debord, der an anderer Stelle gegen die »ideologischen Auswüchse des Professors Lyotard wettert«: »Der Begriff der Totalität ist das methodische Zentrum des dialektischen, revolutionären Denkens.« Und über das Ziel einer befreiten Gesellschaft notiert er: »Weder Paradies noch Ende der Geschichte. Man hätte andere Übel (und andere Freuden), das ist alles.«
Anhand der Briefe lassen sich die Geschichte der SI und die Positio-nierung Debords in ihr rekonstruieren. Grundbegriffe der »Kritik des Spektakels«, also einer Kritik an Wesen und Erscheinungsformen der modernen kapitalistischen Produktion und an den Modifikationen staatlicher Herrschaft, werden in Auseinandersetzung und Diskussion mit linken Gruppen in Japan und anderen Ländern dargelegt. Dabei treten auch zwei der Grundprobleme der situationistischen Kritik zu Tage, die zugleich die Differenzen Debords zur Kritischen Theorie Theodor W. Adornos verdeutlichen, mit der sie oft verglichen wurde. Erstens findet an keiner Stelle die Erfahrung von Auschwitz Eingang in die revolutionstheoretischen Kategorien der Situationisten. Zweitens formuliert Debord eine Absage an die Kunst, anstatt in ihr eine Statthalterin des Nichtiden-tischen zu sehen. (Auch wenn er Filme drehte, sah er sich doch stets als »Anti-Künstler«, und gerade dieser Aspekt führte zu zahlreichen Ausschlüssen aus der SI, in der anfänglich deklarierte »Künstler« noch eine wichtige Rolle gespielt hatten.) Nicht dialektische Aufhebung, die sich stets eine gewisse Skepsis gegen den revolutionären Furor bewahren müsste, ist das Programm, sondern Tabula rasa, wodurch der Furor stets noch befördert wird. Im Politischen schlug sich das in einer fast schon naiven Begeisterung für spontane Aufstände nieder, die stets in einem merkwürdigen Widerspruch zu Debords Forderung stand, die Arbeiter müssten Dialektiker werden.
Besonders verdienstvoll an dem gewissenhaft edierten Briefband ist die erstmalige Übersetzung von Artikeln, die Debord für die Zeitschrift Encyclopédie des Nuissances geschrieben hatte, mit der in den 80er Jahren in Frankreich versucht wurde, die situationistische Kritik aufzugreifen und mittels einer Enzyklopädie der Schädigungen zu aktualisieren. In seinen Briefen an die Redakteure der Encyclopédie, denen die Artikel für die Zeitschrift wie jener über das Stichwort »Abschaffung« beigefügt sind, werden grundsätzliche Probleme der Kritik in der spätbürgerlichen Gesellschaft angerissen. Debord erläutert beispielsweise Gründe gegen einen inflationären Gebrauch von Ironie, wenn er der Redaktion mitteilt: »Ironie ist objektiv ein wenig überholt angesichts der einseitigen Plumpheit, mit der die Welt ihrem Ruin entgegengeht. Schließlich (…) wird und muss Eure Ironie angesichts der Schädigungen, von denen Ihr sprecht, unvermeidlich bitter sein und riskiert in diesem Sinne, den Feind nicht so zur Verzweiflung zu bringen, wie es vor hundert oder selbst vor zwanzig Jahren der Fall gewesen wäre. Der Feind hat keinerlei gemeinsames Terrain mehr mit Euch, nicht einmal auf der Ebene der formalen Logik.« Dagegen empfiehlt Debord: »Kritik mit der Axt (…), drohende Denunziation, Beschimpfung, Prophezeiung ad hominem.«
In der Briefauswahl finden sich auch eher entbehrliche Dinge wie Rezepte für ein reichlich albernes Revolte-Menü, beginnend mit »wütender Suppe«, endend mit »flambierter Sorbonne«, das nun wohl in jeder zweiten Anarcho-WG nachgekocht werden würde, hätte sich dort nicht schon längst die kulinarische Konterrevolution in Form des Veganismus eingenistet. Debord war in den 1980er-Jahren von der aufkommenden ökologischen Landwirtschaft ausgesprochen angetan, aber nicht auf Grund eines reaktionären Naturromantizismus, sondern aus Gründen der Gebrauchswertkritik: Für die Encyclopédie des Nuissances schrieb er über den »extremen Verfall der Nahrung«. Nicht um einen verzichtsneurotischen Vegetarismus oder gar Veganismus war es ihm zu schaffen, sondern er lobte die Ökobauern, weil bei ihnen Rind, Kalb und Schwein von »ausgezeichneter Qualität sind, wie der erste Bissen bestätigt«. Die »allgemeine Rückbildung der Sinnlichkeit«, die sich gerade im Desinteresse am Geschmack von Essen und Trinken zeigt, sah er mit einer »außerordentlichen Rückbildung geistiger Klarheit« einhergehen. Und er hat Recht: wer nicht genießen kann, kann in aller Regel auch nicht denken.
Das situationistische Unverständnis des Zionismus, das stets mit einer Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus einherging, schlägt sich in den Briefen in kruden Thesen über den Jom Kippur-Krieg des Jahres 1973 nieder. Während Israel sich auf Grund des Überraschungsangriffs der arabischen Nachbarn an einem der höchsten jüdischen Feiertage am Beginn des Krieges an den Rand einer Niederlage gedrängt sah, behauptet Debord allen Ernstes, dass sich die Israelis »am ersten Tag absichtlich haben angreifen lassen«. Allerdings intendiert er – und auch das unterscheidet ihn von großen Teilen der Linken – keineswegs eine plumpe Denunziation des jüdischen Staates. Vielmehr geht es ihm darum, diesen Krieg als »Gipfel des Spektakels« zu beschreiben. Es herrsche ein »offenes Einverständnis zwischen Moskau und Washington – und zweifellos auch allen arabischen Regierungen –, um endlich zu einem Frieden zu kommen, den die kriegslüsterne arabische Bevölkerung akzeptieren kann.«
Die Unfähigkeit zur adäquaten Einschätzung Israels wurde in späteren Jahren ergänzt durch eine Fixierung der Kritik auf die USA, die 1985 für Debord zum »Herzen des Spektakels« mutiert sind. Er jammert: »Wir haben uns zu Amerikanern gemacht« und charakterisiert den »global-spektakulären Verfall aller Kultur« als »amerikanischen«. Gesellschaftskritik verkommt hier zunehmend zum Geraunze über fast food und Hollywood-Kino, das in den späten Texten Debords durch einen gewissen Hang zu verschwörungstheoretischen Spekulationen komplettiert wird.
Seine letzten Jahre verbrachte Debord nicht mehr in Paris, das für ihn eine zerstörte Stadt geworden war. In der Abgeschiedenheit eines Dorfes in der Auvergne sah er die heraufdämmernde Vereinnahmung seiner Person und seiner Kritik durch »Journalisten-Polizisten« und andere Rekuperanten1: »Eine beunruhigende Sache (unter vielen) ist, dass man anfängt, Gutes über mich zu schreiben!« Über die Krankheit, die ihn 1994 dazu brachte, sich das Leben zu nehmen, schrieb er am Tag seines Todes: »Es ist das Gegenteil von der Art Krankheit, die man sich durch eine bedauerliche Unvorsichtigkeit zuziehen kann. Dazu bedarf es im Gegenteil des getreuen Eigensinns eines ganzen Lebens.«
Guy Debord: Ausgewählte Briefe 1957-1994.
Edition Tiamat: Berlin 2011, 353 Seiten, 28,- Euro
-------------------------------------------------------------------------------------------------
[1] Rekuperation meinte bei der SI die Rückgewinnung verlorenen Territoriums durch die spektakulären Kräfte des schlechten Bestehenden: die Wiedereingliederung der Subversion mittels der Simulation von Rebellion.
-------------------------------------------------------------------------------------------------
Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Uni Wien, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bündnisses www.stopthebomb.net, Herausgeber von Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus (ça ira 2006) und Mitherausgeber von Iran im Weltsystem. Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung (Studienverlag 2010).