Düstere Helden aus dem Untergrund
Es gibt zwei Vergangenheiten: eine davon ist offiziell. Die Geschichtsbücher strotzen vor Namen und namhaften Persönlichkeiten. Wer könnte sich alle merken! In verschiedensten Schriften sind sie zusammengetragen und verewigt. Unter ihnen finden sich neben dem Obenauf von Häuptlingen, Kriegern und Herrschern allerdings auch andere, die sozusagen einem geschichtlichen Untergrund angehören – Schriftstellerinnen, Künstlerinnen, Forscher, Ärzte und Denker. Die ersten landen in der Schullektüre, die letzteren letztlich in der Fachliteratur. In der Regel sind nur die riesigen Unterfangen, Werke unübersehbarer Nachwirkungen, und die großen Gedankengebäude, monumentale Systeme von Ideen, ins kollektive Gedächtnis der Menschheit aufgenommen worden. Die Tradierung normierend, hat jede Kultur eine solche Kanonisierung des Wissens unternommen.
Aus der gewünschten Norm verdrängt, überleben unzählige andere Namen als blasse Erinnerungen mündlicher Überlieferung, als mythische Figuren ohne Biographie, als Legenden kerniger Aussagen oder kühner Taten, und leben manchmal namenlos weiter als dem Zahn der Zeit entronnene Anonymi, die keine Institution, kein Kanon, kein kultureller Schnickschnack haben tilgen können. Wenn sie das Vergessen überdauern, so nur deswegen, weil sie inhaltlich leben, als ihr eigener Inhalt und Summe ihrer Gedanken. Der Gegenwart haben sie immer noch etwas zu sagen. Die Markantesten unter ihnen stellen die antiken Pessimisten dar.
Oft sind diese intellektuellen Helden aus dem Untergrund in aller Tiefe hoch über ihrer Zeit gestanden, sind unverstanden und in Trauer gewesen. Ja, traurig! Denn, Traurigkeit heißt Unverstandensein. Abseits von Politik und Mode haben sie nach der Stellung und Rolle des Menschen in der Welt gefragt, ohne Zuflucht zu nehmen im Etablierten, wo Bräuche, Meinungen und Gesetze jeweils ein Handeln vorschreiben. Aus der gebräuchlich fertigen Antwort über den Sinn und Zweck des Daseins haben sie wieder eine offene Frage gemacht und das menschliche Wesen und seine Bestimmung neu ergründen wollen. Ihre Originalität ist gleichzeitig nicht auf Kosten universeller Empfindungen und der allgemeinen Wahrnehmung gegangen. Angetrieben worden sind sie meist von gesellschaftlichen Verunsicherungen, in Abschnitten immer deutlicher werdender Umwälzungen.
Diese Erosionen, wodurch Menschen einander und sich selbst fremd werden, sind natürlich an bestimmte geschichtliche Bedingungen geknüpft. Auffällig ist aber, dass die Unruhen in einer Gesellschaft sich stets auf ihre Atmosphäre niedergeschlagen haben und so auch den Geist unruhig werden lassen. Die Betroffenen neigen dazu, den Menschen überhaupt als Problem zu fixieren, unabhängig von seinen gesellschaftlichen Bedingungen. Diese überzogene Abstraktion sei den Armen verziehen! Es entstehen in der Antike so genannte Klagelieder, klassische Produkte einer breiteren Verfallserscheinung, wenn Solidargemeinschaften auseinanderbrechen und eine Abkehr von anerkannten Glaubenssätzen einsetzt.
Solche kritischen Phasen – kritisch einerseits im Sinne von »problematisch«, weil die Gesellschaft innerhalb ihrer selbst und ihrer Ordnung nicht das Problem sieht; kritisch andererseits im Sinne von Kritik, wo der innere Konflikt des Ringens um seine Erkenntnis und Lösung nach außen getragen wird –, solche Zeiten sind das Merkmal geschichtlicher Übergangsphasen. In ihnen verdichten sich die Zweifel bis zur Verzweiflung und die Klagen bis zur Anklage, während die Gesellschaftsordnung stetig, viel langsamer als ein Einzelleben, vor sich hin fault, niedergeht und weiterbröckelt.
Doch im besagten Untergrund bekommt das Ausgeliefertsein des Menschen, seine gekränkte Natur, auf einmal eine menschliche Stimme, welche das erlauchte Obenauf entweder gerne überhört oder am liebsten gleich zu zerstören wünscht. Sie mag leiderfüllt und bitter sein, diese Stimme, ironisch und scharf unter Umständen, doch sie ist unerbittlich ehrlich. Außer Zweifel steht, dass es sich um schwierige Phasen handeln muss, und zwar nicht nur für jene, die ihrer Zeit überdrüssig und vielleicht voraus sind. Was sich den Geschichtsschreibern im Nachhinein als Blüte einer Kultur anbietet, kann den Zeitgenossen schon als Anfang vom Ende gelten. Erreichen die Veränderungen ein Ausmaß, das unvereinbar ist mit den bestehenden Verhältnissen, verschieben sich nämlich der Blick und die Gesinnung. Entwicklungen wie diese gipfeln in der Stiftung neuer Religionen und Weltanschauungen oder im Ausbruch von Aufständen und Revolutionen. Sind wiederum diese erst mit ihren Werten etabliert, geht das üble Spiel von vorne los, unter anderem Vorzeichen und auf einer höheren Ebene.
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Jene menschliche Stimme indessen, die immer selten und am Einfluss gemessen immer schwach gewesen ist, überdauert trotzdem. In Form von Textfragmenten überlebt sie die Staaten, Herrscherhäuser und die großen ideellen Systeme. Dabei überlässt sie, zweifelnd, trauernd, anklagend, der Nachwelt einen Denkstoff für Jahrtausende. Mit seiner Behauptung zum Beispiel, dass die Annahme einer göttlichen Gerechtigkeit der Erfahrung der Ungerechtigkeit in der Welt widerspreche, gibt der nahezu vergessene Diagoras neuerdings Anlass zu unterschiedlichsten Auseinandersetzungen, insbesondere seit dem Holocaust als einem tragischen Wendepunkt der Geschichte.
Zuweilen klingt die menschliche Stimme ausgesprochen düster. Sogar in die Erlösungsreligionen hat sie sich eingeschlichen, wie im Falle Kohelets im Buch des Predigers, das in seiner Weltverneinung nun die Bibel überschattet, als literarische Besonderheit. Er sagt: »Eitelkeit über Eitelkeiten, alles ist eitel.« Und fragt: »Welchen Nutzen hat der Mensch von all seiner Mühe, mit der er sich abmüht unter der Sonne?« Sein Schluss: »Denn in der ganzen Weisheit ist viel Verdruss, und wer die Erkenntnis mehrt, der mehrt die Sorgen.« Dieser Talmudabschnitt ist umso erstaunlicher als er nahelegt, dass die Menschen »nichts Anderes als Vieh« seien, und behauptet, Gott habe alles gemacht, »damit man sich vor ihm fürchte«. Den »Menschenkindern« habe Gott ein »Geschäft« gegeben, um »sich damit abzuplagen«. Aus diesem Grund sei auch besser »der Tag des Todes als der Tag, da einer geboren wird«. Da wird man einfach sprachlos.
Vor des Poeten Gericht steht eine verkehrte Welt. Wenn man so eigenbrötlerischen Texten von einst eine gewisse Negativität zuschreibt, weil sie Diesseitsklagen anstimmen – also: Quintessenzen menschlicher Erfahrung –, tut man ihnen Unrecht. Man kann sie ruhig pessimistisch nennen. Wahrscheinlich entstehen sie, wie gesagt, aus intellektueller Einsamkeit heraus, welcher eine enttäuschte Menschenliebe vorausgeht. In der wörtlichen Verurteilung, dass der Mensch nichts habe von seinem Tun und Treiben unter der Sonne, verbirgt sich ein humaner Kern, eine unerfüllte Erwartung ans Leben in seiner Gänze. Es ist insofern kein Zufall, dass der Humanismus in der Geschichte zunächst in Form eines Pessimismus auftritt.
Die Lebensumstände der Antike sind vergleichsweise beschwerlich gewesen, die Kenntnisse durchaus dürftig. Auf dieser Entwicklungsstufe erleben die Leute Leid und Übel des menschlichen Daseins – von der Knechtung bis zum Krieg, vom Hunger bis zur Zwietracht – als verhängnisvolles Schicksal und Strafe des Himmels. Parallel vermehren und verstärken sich aber auch die Zweifel an der Rechtsordnung, am Götterglauben und an der Landverteilung. Das antike Elend am häuslichen Herd hat selber das Murren um so ein Los, das Aufbegehren gegen derlei Besitzverhältnisse, den Unglauben an eine solche göttliche Vorsehung genährt.
Phaleas aus Chalkedon, der gesagt haben soll, dass um des Vermögens willen alle zum Aufruhr schreiten, wagt es seinerzeit, eine Gleichheit des Besitzes und der Erziehung vorzuschlagen. Man höre und staune: was für ein Gedankengang in einer intakten Sklavenhaltergesellschaft! Mit der Richtigkeit des Bestehenden und ähnlichen Überzeugungen ist es offenbar vorbei und dahin. Aus Gründen der Weiterentwicklung ist die Tradition mit ihren ordnenden, aber alternden Gedanken immer wieder als Unordnung und Widersinn empfunden worden, als etwas, das der natürlichen Verfassung des Menschen zuwiderläuft.
Es gibt da Berührungspunkte zwischen Hippias, der meint, dass die Gesetze den Menschen tyrannisieren und gegen seine eigentliche Natur zwingen, und Yang Tschu, der versichert, dass das Leben in Familie, Kirche und Gesellschaft nicht viel Angenehmes zu bieten habe und deshalb der Einklang mit dem Tao, seinem Urgrund, nötig sei. Beide lehnen traditionelle Erklärungen und Verhaltensmuster grundlegend ab und suchen nach einer Art Wiedervereinigung mit der Welt und sich selbst. Hegesias hat, um seiner Übersättigung mit der Gesellschaft Ausdruck zu verleihen, den Standpunkt vertreten, dass alles in allem der Tod dem Leben vorzuziehen sei. Hat er, ein Selbstmordprediger in Alexandria, denn nicht zu den Freien anstatt zu den Sklaven gehört? Was hat er sich nur dabei gedacht!
Der Pessimismus erscheint als ein sozialer Störfaktor, zum Teil als bewusste Provokation. Man kann ihn nicht ernst nehmen in seiner konsequenten Form, muss es aber seinem reflektierten Charakter nach. Seine rhetorische Frage nach dem Verbleib des Menschen in alledem, nach dem Sinn und Gewinn all dessen, kurz, nach dem Witz im Leben, ist in Wirklichkeit an seine Gesellschaft gerichtet. Die Reaktionen darauf fallen absonderlich aus: König Ptolemaios Philadelphos, der den ersten Syrienkrieg geführt hat, ehe er mit dem Leuchtturm von Alexandria das siebente Weltwunder vollendet, muss die Reden eines Hegesias offiziell verbieten lassen.
Indem der Pessimismus in aller Deutlichkeit seine Gegenwart verurteilt und sein Diesseits ablehnt, kritisiert er zugleich eine Ordnung, die eben dies hervorzubringen imstande ist. Man möge sich von der Überspitztheit seiner Schlussfolgerungen bloß nicht täuschen lassen! Oft trifft er eine wunde Stelle; er weiß, wovon er spricht. Denn er ist niemals über Nacht gereift, sondern hat viele dunkle Stunden und Tage am Grübeln und im Widerstreit mit sich selbst verbracht.
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Am interessantesten unter den antik pessimistischen Texten ist wohl der ägyptische Papyrus Berlin 3024, leider unvollständig, auf die Mitte der 12. Dynastie datiert, sprich, fast vier Tausend Jahre alt. Er beinhaltet ein bemerkenswertes, wenn auch relativ unbekanntes Stück Literatur: das Streitgespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. An eine unbestimmte Hörerschaft und stumme Zeugen gerichtet, wie das so oft bei universellen Botschaften spielt, entfaltet es sich als Klagelied, in der wahre Weisheit steckt. Nicht nur wird versucht, das menschliche Leid als solches zu schildern, sondern auch das Innenleben mit seinen unterschiedlichen Gedanken, inneren Kämpfen und Stimmungswechseln zu verstehen. Unüblich daran ist jedenfalls, dass das Gespräch mit einer Ba-Seele geführt wird, obwohl man diesen Seelentyp – die Ägypter kennen drei, nämlich: Ka, Ach und Ba – ursprünglich nur den Königen zuschreibt.
Ein Mann hat also genug vom Leben und möchte sterben, aber die Seele verweigert ihm die Gefolgschaft. Adolf Erman kommentiert: »Wer die Verderbtheit des Menschen und den Lauf der Welt gesehen hat, für den hat der Tod keinen Schrecken mehr.« Jan Assmann bringt es auf den Punkt: »Was ist schlimmer als der Tod? Nie gelebt zu haben.« Die persönliche Leidensgeschichte könnte einem russischen Roman entstammen. Der sanftmütige Mann erkrankt eines Tages. Seine Brüder verlassen und seine Freunde vergessen ihn schlagartig. Trotz seiner Anständigkeit kündigt ihm jedermann die Treue. Schließlich wird er auch noch beraubt, unrechtmäßig verurteilt und sein Name besudelt.
Die Klage im Wortlaut: »Zu wem spreche ich heute? Die Brüder sind schlecht. Die Freunde von heute können nicht lieben. Die Herzen sind frech. Ein jeder nimmt die Habe seines Nächsten.« Die Erde ist für ihn ein einziges Beispiel von Übeltätern, usw. Die Sklavenhaltergesellschaft Ägyptens kommt hier nicht gut weg. Aus dem Text ersichtlich ist, dass sie keine gerechte Ordnung darstellt. Gier und Gewalt regieren den drückenden Alltag. Überall raubt man und betrügt. Was ist mit den echten Menschen passiert? Ganz recht: mit wem redet man denn da überhaupt! Hinterbliebene hat der Mann übrigens keine, niemanden, wie geschrieben steht, der an seinem Sarg stünde.
Als abergläubisches Kind seiner Zeit bangt er daher um seine Zukunft im Totenreich. Vergebens fleht er die Seele an, ihm mit einer ordentlichen Bestattung den letzten Dienst zu erweisen. Sie weigert sich einfach. Auf der Suche nach dem adäquaten Selbstmord rät sie ihm zum Flammentod. Immerhin verlange die Asche, sehr sauber und vom Winde verwehbar, keine Fürsorge. Als er sich im Augenblick des inneren Schmerzes tatsächlich umbringen will, packt sie jedoch das Entsetzen, und sie entweicht dem Körper.
Die Situation wirkt einigermaßen befremdlich. Der Mann trägt sein Unglück vor, und seine Not ist schwer, heißt es. Währenddessen wendet sich die Seele ständig an andere, ohne ihm zuhören zu wollen. Als er sie bittet, sie solle doch ablassen, einen Traurigen im Leben zurückzuhalten, damit er im Totenreich endlich Recht und Ruhe finde, entgegnet sie ironisch: dann soll er doch alleine hingehen! Bei seiner Aufzählung der Götter, die ihn hören, richten, verteidigen und dergleichen mehr, hat man das Gefühl, er wolle damit sagen, dass die Götter weniger hartherzig sind als die Menschen und verständiger als seine eigene Seele. Diese zeigt keine Lust oder Absicht, mit ins Jenseits hinüber zu schreiten.
Das Nachdenken über die Beerdigung bringe bloß Traurigkeit und Tränen, sagt sie. Die Opfersteine der Pyramiden, wo durch schöne Arbeit Schönes geleistet wurde, seien ebenso leer »wie die der Müden, die auf dem Uferdamm sterben«. Die Seele will, im Gegenteil, den Lebensmüden denkbar unpassend überzeugen: »Folge dem Vergnügen, vergiss die Sorge.« Auch diese Ausflüchte stoßen auf taube Ohren. Von Neuem stimmt der Mann an, von der Tiefe seines Leids zu berichten, und davon, dass der Tod nun vor ihm »wie jemand sein Haus wiederzusehen wünscht, nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat«. Im Tod sei man Ra, dem Sonnengott, nahe genug, um Gutes zu fördern. An dieser Stelle willigt die Seele versöhnlich ein und fügt in einem letzten Anflug von Ironie hinzu, der Arme solle sein Jammern doch unterwegs lassen. Die 33 Verse enden mit einer Versöhnung in Form einer Einsicht. Die Symbolik einer solchen Wendung ist sehr mächtig.
Die anhaltende Faszination für solche geschichtlichen Untergrundtexte rührt von ihrem Status des Besonderen, Abweichenden, Selbständigen und Zeitlosen. Kraftvoll ragen sie aus der Masse des Geschriebenen heraus. Die Beschäftigung mit ihnen ist lehrreich und bereichernd. Man kann bedenkenlos behaupten, dass diese Art von Pessimismus fundamental human ist, und zwar insofern, als dieser einen kritischen Beitrag zum Weltverständnis liefert, zur Problematisierung eines Ich, eines Wir, der Welt an sich. Im Grunde genommen braucht es keinen Sophokles, um die Macht des Reichtums als Quelle allen Leids zu identifizieren, und keinen Euripides, um die Übel des Krieges zu begreifen. Ein scharfzüngiger Pessimist in der Nachbarschaft hätte dazu völlig ausgereicht!
Eingehüllt in die Narrenfreiheit der schwarzmalerischen Übertreibung, verhält er sich, wenn er Stellung nimmt, wie ein anonymes Weltgericht: seine laute Klage läuft, wie gesagt, in eine stille Anklage über. Seine Worte schaffen es, den Glanz aller Namen und Dynastien, aller Paläste und Pyramiden mit einem Schlag zu überschatten. Die beklagte Unerträglichkeit bezieht sich ja notwendigerweise auf seine Zeit und Gesellschaft. Wenn das harte Urteil gesprochen ist, sitzt die Erfahrung im Zeugenstand. Kurz, das Unliebsame und »Unlebsame« des Lebens ist es, was dem Lebensmüden zu schaffen macht.
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Selbst wenn man den Pessimismus gemeinhin als Schwarzmalerei bezeichnet und jene Bitternis, die ihn notwendig begleitet, keineswegs teilt, wird es selten passieren, dass man seinen Vertretern jegliche Vernunft abspricht. Diese Peinlichkeit wird den Optimisten schneller widerfahren, aus ihrem Hang heraus, auf einen guten Ausgang der Dinge zu vertrauen, im schlimmsten Fall zwanghaft. Dem vorsichtigen Menschen hingegen, der die anderen vor allzu viel Zutraulichkeit warnt, spricht man seit jeher Menschenkenntnis zu. Dass man lieber auf der Hut sein möge, ist sicherlich kein lockerer Spruch eines Vollidioten!
Hier hält der Pessimismus sein geistiges Schild in der Hand, gewappnet durch den Erfahrungswert seiner Vorsicht. Dadurch wird der Gutgläubige im Handumdrehen zum Narren, zu einem selbstverschuldeten Opfer, zum sehenden Blinden. Im Gegenzug wird pathologisiert: man stelle sich die Unausgeglichenheit vor, die zum Pessimismus führe, und die Verbohrtheit, die damit heranwächst, alles gleich schwarz zu sehen. Denselben Fehler – von seiner Gesellschaft abzusehen und von den konkreten Bedingungen zu abstrahieren –, welchen der Pessimist produktiv begeht, wenn er sein Kollektiv beklagt, macht der Optimist auf destruktive Weise, wenn er im individuell Verletzten nur noch den Nörgler erkennt. Man hat dann weder das Wissen noch die Erkenntnis erweitert. Eine humane Dimension fehlt folglich.
Am Balkan wiederholt sich im feudalen Mittelalter jene Situation, dass der Humanismus zunächst in seiner pessimistischen Ausgabe auftaucht, und zwar als Widerstand gegen die Herrschenden und die ihnen dienliche Tradition. Auf einem Bogomilengrabstein in Hrasno, dem sogenannten Steak, findet sich beispielsweise folgende Aufschrift: »Ihr werdet sein wie ich. Ich kann nicht sein wie ihr.« Ist dieser bogomilische Todeskult bereits Pessimismus, die Sichtweise eines absolutistischen Superlativs? Oder ruft der namenlose, unbekannte Verstorbene den Vorübergehenden nur auf unkonventionelle Weise die Unausweichlichkeit des Sterbens und die Gesetze des Kosmos ins Gedächtnis?!
Andere Bogomilengrabsteine, um nichts weniger einprägsam, sind noch um eine Spur expliziter, wenn sie verkünden, dass »der Himmel existiert, damit du im Glauben, du würdest den Sprung in die Ewigkeit machen, leichter ins Nichts springst«. Umso mehr verwundert es, dass das serbische, bosnische und mazedonische Bogomilentum, welches die materielle Welt mit dem Bösen gleichsetzt, umgekehrt über eine konsequente Ethik des Respekts vor dem Leben verfügt. Auch das ist keine zufällige Fügung, im Gegenteil. Das Entscheidende hierbei ist, dass es im antiken Pessimismus zu einem Perspektivenwechsel zugunsten des Subjekts kommt. Und dies darf nicht metaphysisch als radikal-negative Weltinterpretation, sondern muss historisch verstanden werden, nämlich als Aufbegehren gegen die objektiv verkehrte Welt.
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Die Nichtigkeit, welche in Augenblicken eines Scheiterns oder eines Verlustes unbarmherzig hereinbricht und das gesamte Wesen eines Menschen durchströmt, von seinen Gedanken und Gefühlen bis zur Wahrnehmung, diese völlige Wertauflösung und finstere Zerbröselung des Glaubens an die Menschheit, dieses innere Absterben, diese Auslöschung von ehedem festen Prinzipien und Bedeutsamkeiten, so ein gewaltiges Entwerten des Lebenswegs und seiner Stolpersteine auf einen Abgrund zu – jeder normale Mensch hat solcherlei irgendwann schon gekostet und schmerzlich verspürt oder niemals wirklich geliebt, überlegt und Schlüsse gezogen. Die Seele ist eine feine Saite, und das Bewusstsein formt sich je nach seinen Erfahrungen. Na und?!
All das ist viel mehr als eine bloße Rückschau auf antike Bücher und Texte. Es ist eine Schule abseits des kulturellen Kanons. Gramscis Kombination aus einem Pessimismus des Verstandes und einem Optimismus des Herzens wäre in diesem Zusammenhang der zeitgemäßeste Kompromiss für die Helden eines künftigen Untergrunds.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Drava-Verlags aus dem Buch »Mücken und Elefanten. Essays, Reflexionen, Polemiken«, 2016.
Ebenfalls bei Drava ist mit »Feuer am Dach« soeben ein neuer Band mit Essays, Reflexionen, Polemiken von Mladen Savić erschienen.