Mythos im mythischen Epos

Paulette Gensler über die Utopie der Unsterblichkeit im Werk J.R.R. Tolkiens.

Als ich das erste Mal die Worte Adornos las, laut denen keine Utopie eine solche sei, ohne die Abschaffung des Todes, war dies wie ein völlig einverständiges Wiederlesen und weckte zugleich eine lang vergessene Trauer. Erst nach einiger Zeit fiel mir auf, dass meine erste kindlich-„intellektuelle“ Auseinandersetzung mit dem Tod und der Sterblichkeit im Universum Tolkiens stattgefunden hatte. Zwar hatte ich zuvor schon langsam durch den Tod von Verwandten ein Verständnis dafür entwickelt, dass geliebte Menschen sterben, aber lange noch Scham über meine mangelnde, aber offensichtlich erwartete Trauer empfunden, da die Ansicht noch zu stark war, dass sie doch bald zurückkommen werden. Auch im Märchen oder anderen Geschichten ist der Tod oftmals angebliche Erlösung im Alter oder gerechte Strafe. Vor allem aber man bezieht man den Tod als Kind lange nicht auf sich selbst. Selbst wenn man die Endgültigkeit des Todes irgendwann akzeptiert hat, meint man, ihm selbst auf irgendeinem Wege von der Schippe springen zu können; lange ist er etwas Äußerliches und keineswegs Universales. Erst zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr beginnt sich das Verständnis dem erwachsenen anzunähern. In den frühen Beginn dieser Zeit fiel meine Tolkien-Lektüre. Wie vor den Verfilmungen noch üblich, begann man mit dem „Hobbit“, den Tolkien als Geschichte für seine eigenen Kinder konzipierte, was der Sprache des Werkes deutlich anzumerken ist. Der „Herr der Ringe“ hingegen dürfte eher als Pubertäts-Epos gelten. Für die Mehrzahl der Leser endete hier auch schon die Reise.
An „Herr der Ringe“ ließe sich unzähliges kritisieren: ein meist im Blut verankertes Schicksal, ein Ideal vom feudalen Sozialismus (Marx), alte Kleinbürgerlichkeit und -bauerntum, Naturverehrung und Zivilisationsfeindschaft sowie Prüderie.[1] Vielleicht war meine frühe Lesart des „Herr der Ringe“ eine korrupte; denn ich meinte und meine immer noch, dass es etwas gäbe, das über jene Dinge hinausweist. Aus irgendeinem Grunde war mir die Gemeinschaft des Ringes ziemlich gleichgültig und schienen mir die Elben die wahren Träger der Geschichte zu sein, obwohl sie in den beiden Werken nur als Randgestalten vorkommen. Doch verweist jede Geschichte, jede Erinnerung zumindest als Andeutung auf sie. Sie formten den Unterton, fast schon den Mythos im mythischen Epos. Die Elben sind uralt, ja potenziell  unsterblich, und „kein Zeichen des Alters war an ihnen, es sei denn in den Tiefen ihrer Augen.“ Laut Aussagen der Sterblichen gleichen sie sowohl Königen als auch Kindern, sind alt und jung, traurig und fröhlich zugleich. „Ob sie das Land gemacht haben oder das Land sie, ist schwer zu sagen.“ In diesem Sinne stehen die Elben durchaus sinnbildlich für eine Versöhnung von Natur und Mensch, welche sowohl die „Naturalisierung des Menschen“ als auch die „Humanisierung der Natur“ umfassen muss. Elben sind nicht einfach selbst bloße Natur, wie es Daniel Sanin ausdrückt,[2] sondern heben die Natur. In erster Linie repräsentieren sie die Schönheit und mehr noch das Erhabene. Betont wurde immer wieder, dass ihre Stimmen und ihr Gesang, der schönste Klang ist, den man in Mittelerde vernehmen konnte. Auch die Schönheit ihres Antlitzes lässt die Menschen erschaudern. Gleichzeitig stehen sie aber für die Versöhnung von Vergangenheit und Gegenwart, denn „für sie ist Erinnerung der wachen Welt ähnlicher als einem Traum.“  Dabei kommen sie ganz ohne heideggersche „Entwürfe“ in eine Zukunft aus, wie sie das Tausendjährige Reich als Kollektiventwurf darstellte.
Schon zu Beginn heißt es kryptisch: die Elben „verließen Mittelerde und nahmen keinen Anteil mehr daran“ oder dass „Elbenschiffe ihre Segel setzten, um niemals zurückzukehren.“ Später zeigt sich immer mehr, dass der Erfolg der Hobbits – also die Zerstörung des einen Ringes – bedeuten würde, dass „viele schöne Dinge verblassen und vergessen sein werden.“ Eine Elbin drückt es im weiteren Verlauf mit den Worten aus: „Wenn du Erfolg hast, dann wird unserer Macht gemindert [und das Reich der Elben] wird vergehen und die Fluten der Zeit werden es hinwegspülen. Wir müssen nach dem Westen ziehen.“ Obwohl also die Heldentat der Geschichte strikt notwendig erschien, war meine Sympathie für ihren Erfolg begrenzt. Ein paar hundert Seiten voller Abenteuer später, verkündet der Zauberer Gandalf letztlich: „Das Dritte Zeitalter der Welt ist zu Ende, das neue Zeitalter hat begonnen. Es kommt die Zeit der Herrschaft der Menschen, und die Ältere Sippe wird dahinschwinden oder von dannen gehen.“ Obwohl es sich mehr oder weniger um ein Happy End handelt, gab es keine Versöhnung für mich. Zu deutlich war, dass nun endgültig die Banalität Einzug hält oder die Oberhand gewinnt, dass die Zeit der Menschen unsere Zeit ist, diese ewige Vorgeschichte der Menschheit. Erst in den Anhängen, die in vielen Ausgaben gar nicht enthalten sind, wird das ganze Grauen des Todes noch einmal offenbart. Tolkien bedient sich hier einer sehr merk- und fragwürdigen Konstruktion. Eine unsterbliche Halbelbin entscheidet sich aus Liebe zum sterblichen menschlichen König notwendig oder automatisch für die Sterblichkeit, „doch war es nicht ihr Los zu sterben, ehe alles, was sie gewonnen hatte, verloren war.“ Ihre Artgenossen und Verwandten verlassen Mittelerde auf Nimmerwiedersehen. Als ihr – äußerst langlebiger - Ehegatte nach 120 Jahren Ehe schließlich bemerkt, dass nun die „Zeit der Bezahlung“ nahte, sprich der Tod,[3] „erfuhr sie die Bitterkeit der Sterblichkeit, die sie auf sich genommen hatte.“ In diesem Moment erkennt sie, was ihr und ihrem unsterblichen Volk über die Menschen verborgen blieb, die sie als „mutwillige Narren verachtete“, und empfindet plötzlich unendliches Mitleid mit ihnen: „Denn wenn dies wirklich die Gabe des Einen an die Menschen ist, wie die Elben sagen, dann ist es bitter sie zu empfangen.“ Es war klar, dass dieses Mitleid auch mir galt, vor allem da auch ich partout nicht verstand, wie der Tod eine „Gabe“ sein sollte.[4] Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Menschen und alles, was sie schaffen, über alle Maße hässlich ist und warum. Wie es der Zwerg Gimli ausdrückte: Egal was die Menschen tun, es „kommt am Ende nicht mehr dabei heraus als Schall und Rauch.“ Dabei geht es nicht darum, zwanghaft ewige Werke zu schaffen, sondern welche von höchster oder gar unbekannter Qualität und vor allem Schönheit.
Da ich nun mehr erfahren wollte über diese Wesen und das, was mit ihnen die Welt verließ, musste ich zum eher enzyklopädischen Teil des Werkes übergehen - dem „Simarillion“, den „Büchern der verlorenen Geschichten“ und ähnliche Werke, die mir meine Eltern verschaffen mussten, wollten sie nicht selbst sich den Fragen stellen, die sie selbst fürchteten und auf die sie keine Antwort wussten. Diese Werke sind neben einer Kosmo- und Theogonie tatsächlich die Geschichte der Elben.[5] Ich kann mich gut daran erinnern, damals den Eindruck gehabt zu haben, dass Tolkien wirklich einen adäquaten Mythos entworfen hatte, oder eher, dass man gerade selbst einen solchen enträtselt. Der kindliche Forschungsdrang nahm Tage und Wochen ein – immerhin schien es, als ginge es um die Mysterien des Lebens.[6] Es handelte sich um meine erste Mythen- oder Geschichtsforschung; die Trennung zwischen beidem war noch nicht ganz existent, aber weder war ich noch naiv genug, um zu denken, ich könnte eine Elbin werden, noch um nicht zu begreifen, dass dies, was ich dort gerade erforschte, längst unwiederbringlich verloren gegangen war. Der allmähliche Exodus der Elben begann lange vor der erzählten Zeit des Herrn der Ringe, kommt hier aber zu ihrem Abschluss. Die Zeit danach, also jene der Menschen, interessierte auch Tolkien kaum noch – sie spielt in seinem Oeuvre schlichtweg keine Rolle.
Im Silmarillion – dem eigentlichen Hauptwerk Tolkiens, in dem sich auch die Grautöne finden lassen, welche die anderen Werke so vermissen lassen[7] – umfasst die Geschichte des Ringkrieges nur ein kleines Unterkapitel von 20 Seiten. Es wird schnell deutlich, dass die Elben zu jener Zeit schon nur noch ein Schatten ihrer selbst sind, mehr Erinnerung als Realität – die wenigen noch in Mittelerde wandelnden sind eher eine Verkörperung von Nostalgie und Depression – ein Schatten ihrer selbst. Tolkien verewigt in seinem Werk gewissermaßen den Übergang vom Heidentum zum christlichen Monotheismus, wie er als Sujet in der Nibelungensage oder dem Beowulf auftritt. So existiert vorerst Der Eine – ein Schöpfergott, der die „Valar“ erschafft, die irgendwo zwischen Engeln und den heidnischen Elementargottheiten angesiedelt sind.  Ihnen eröffnet er ein Thema, das sie interpretieren und musisch spielen sollen. Aus dieser Musik schließlich entsteht die Welt. Elben und Menschen hingegen sind die „zwei Kinder“ des Einen Gottes.  Die Elben erwachen als erste außerhalb des von den Göttern bewohnten Segenreiches, werden von ihnen dorthin geführt – einige fliehen später aus dem Paradies und werden aufgrund der ersten Taten einer bibelähnlichen Verfehlungsgeschichte, zu deren Taten sie vom „gefallenen Engel“ verführt wurden, verflucht und verbannt. Das Segenreich ist Teil der Welt, auch wenn es ihr in der Geschichte mehr und mehr entrückt wird.[8] Sie verlassen das Paradies in die ersehnte Freiheit und nehmen mit sich die „Erinnerungen, an das Glück, von dem sie sich abwandten.“ Elben können sterben – aufgrund zweier Phänomene, die vor allem außerhalb des „Segenreiches“ auftreten: Kummer und Gewalt. Eben dies ist Teil der göttlichen Verfluchung. Die Elben sind dem Namen nach germanischen, dem Wesen nach aber (insel-)keltischen Ursprungs.
Tolkien verfasste weite Teile seiner Entwürfe zu eben jener Zeit als Freud das Postulat des Todestriebes aufstellte, in dem ich die Entwürfe Tolkiens als Erwachsene noch einmal wiederentdeckte. Elben sterben nicht aus Altersschwäche und werden von keiner Krankheit befallen. Sie leben so lange, wie die Welt besteht – was auf eine gewisse Endlichkeit hindeutet – für sie gibt es keinen „Himmel“, sondern nur ein streng irdisches Leben. Ihr Leib ist zwar verletzbar und potenziell sterblich. Im Falle, dass ihr Körper zerstört oder aufgebraucht wurde, wandert ihre Seele zurück ins Gesegnete Land und wird dort neugeboren.[9] Die Reinkarnation der Elben ist eher eine Auferstehung, die aufgrund der extremen Langlebigkeit nicht allzu oft vorkommen dürfte. Der Tod gilt hier als äußeres und äußerstes Unglück. Die leibliche Neugeburt ist ganz deutlich die Verlängerung des konkreten Lebens. Sie erinnern sich langsam wieder an ihr vormaliges Ich – das Leben geht weiter und beginnt nur bedingt von vorn. Eben deshalb ließ Tolkien seine Elben ein Tabu über das Rad verhängen, immerhin eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit, da es ihnen als Symbol für die „Gleichförmigkeit und Wiederholbarkeit“ gelte. Dieses Tabu ist ganz klar gegen das fernöstliche „Gesetz des Rades“ (dharmacakra) gerichtet, welches immer auch für individuelle Vergänglichkeit steht, und im Swastika, Sonnenrad oder ähnlichen Motiven die Wiederkehr des Immergleichen und den Fatalismus zelebriert.[10] Jenes Tabu erscheint durchaus als ideologische Abwehr[11] der befürchteten und oftmals mit der Unsterblichkeit verknüpften Langeweile.[12] Die Angst vor der Langeweile bezieht sich jedoch auf eine Zeit, die „vertrieben“ werden muss, und gleichzeitig sinnvoll gefüllt gehört, da sie Mangelware ist. „Leben, das Sinn machte, fragte nicht danach“ heißt eben auch, dass Leben, das Zeit hätte, vermutlich nicht über diese zu sinnieren hätte. Und so stehen die Elben gewissermaßen über oder neben der Zeit. Nachdem die Ring-Gemeinschaft eine gewisse Zeit in dem elbischen Wald Lórien verbracht hatte, wunderte sich ein Hobbit, der dachte, nur drei Tage dort verbracht zu haben, wobei der Besuch in Wirklichkeit einen Monat gedauert hatte[13]: Es käme ihm so vor, „als ob wir in dem Elbenland überhaupt keine Zeit verbracht hätten[, …] dass Zeit dort überhaupt nicht zählt.“ Eben dies erinnert eindringlich an das kindliche Zeitgefühl, für das ein Jahr eine halbe Ewigkeit darstellt. Insbesondere das Kleinkind beginnt irgendwann, von der Zeit zu wissen, erfährt sie aber noch nicht und kann sie erst recht nicht reflektieren. Der Elb Legolas klärt auf: „Die Zeit verweilt niemals. Aber Wandel und Wachstum sind nicht bei allen Dingen und an allen Orten gleich. Für die Elben bewegt sich die Welt, und sie bewegt sich sehr rasch, und dennoch sehr langsam. Rasch, weil die Elben selbst sich wenig verändern, während alles andere dahineilt: Es ist ein Kummer für sie. Langsam, weil sie die verstreichenden Jahre nicht zählen, nicht für sich selbst. Die vorübergehenden Jahreszeiten sind nur sich immer wiederholende Wellenschläge auf dem langen, langen Strom.“[14] In gewisser Weise wird hier mit dem Konflikt der klassisch-physikalischen Zeitkonzepte gespielt: zum einen die absolute Zeit Newtons[15] und zum anderen die relative Leibnitz´[16]. Der lange Strom der absoluten Zeit ist hier einfach ein Faktum, dem aber nur bedingt Relevanz zukomme. Nach Leibnitz beschreibt die Zeit Beziehungen zwischen Körpern und vor allem Ereignissen; aber diese Relativität ist objektiv und nicht zu verwechseln mit der bloß psychischen Wahrnehmung der Zeit. Gegen Hegel, der „Zeit als das Sein des Subjekts selber“ beschrieb, wäre darauf zu bestehen, dass Zeit immer gebunden ist an konkretes Zeitliches, das in ihr sich vollzieht. Zeitlichkeit ist nur die barbarische Vermengung beider Seiten. Zeitliches ist der Mensch wie auch seine Umwelt – die Zeit misst Regelmäßigkeiten der Veränderung; es ist die relative Größe in Bezug auf die Geschwindigkeit der Veränderungen. Die Elben leiden an der Zeit aufgrund der Vergänglichkeit der Umwelt in Mittelerde. Nicht die abstrakte Zeit ist das Problem, wie es manche Vulgärmarxisten meinen, sondern das, was in ihr sich ereignet: Ausbeutung und Lohnarbeit. Erlösung von der Zeit kann nur erlangt werden durch Umwälzung des Zeitlichen, heißt: Zeit kann nur im und am Zeitlichen praktisch geändert werden. Magie „heilt die Wunden der Zeit“ bei Tolkien, in der Realität muss der Mensch es selbst tun. Unsterblichkeit verändert die Zeit qualitativ.
Die Elben haben keine astronomische Zeitrechnung, bzw. nicht primär[17], sondern rechnen in extrem langen Zeiträumen. Ein Elbenjahr umfasst 144 Menschen- oder Sonnenjahre und überschreitet somit jedes einzelne Menschenalter. Es ist ferner streng arithmetisch. Nur in Mittelerde haben sie auch einen astronomischen Kalender zwecks Ackerbau[18] – dieses Jahr heißt „Sonnenrunde“. Aber die Elben erwachten unter den Sternen. Zu jener Zeit gab es noch keinen Mond und keine Sonne: „die Sonne nämlich wurde als Zeichen für das Erwachen der Menschen und das Vergehen der Elben gesetzt, während der Mond ihr Andenken bewahrt.“ Eben jene Sonne wurde menschheitsgeschichtlich oft als Wagen oder Rad darstellt und verehrt – sei es Helios im Sonnenwagen oder auch bei den Germanen. Was Tolkien aber zu fassen bekam, war der Zusammenhang des Aufkommens von Sonnenkalendern mit jenem der Angst vor dem eigenen, nicht mehr von außen kommenden Tode, wie er sich in den Totenkulten des Alten Ägyptens ausdrückt. Bei Tolkien scheint dies in dem Sinne auf, dass vor allem die von Menschen forcierte Zählung der Jahre nach der Sonne die Welt verändert habe: „Hastiger und kürzer waren sie als die langen Jahre“ im Segenreich; „das Wechseln und Altern aller Dinge beschleunigte sich über die Maßen.“ Die Zeit änderte sich im Mythos Tolkiens qualitativ. Die Elben aber schleifen ihre Vorsonnenzeitrechnung und die ihr wie ihrer Unsterblichkeit entsprechende Zeitwahrnehmung mit und leiden daran.
Das „Radikale“ am Werke Tolkiens ist, dass er mit den Elben so gut wie alle Stellvertreter und Symbolbildungen des Todestriebes anging. Man sollte nicht vergessen, dass das Unbewusste laut Freud keine Zeit, keinen Tod[19] oder Schlaf kennt – fraglich ist, ob es von Kälte weiß. Es gibt im Segenreich keinen Winter; eher herrscht immer Frühling und Herbst zugleich – ein „Zwielicht“. Auch vollziehen Elben keinen Schlaf im menschlichen Sinne, sondern nur Halbschlaf oder Tagträume, und diese durchaus auch mit geöffneten Augen. Magnus Klaue hat einige wunderbare Artikel verfasst, in denen er den Winter[20] oder aber den Schlaf[21] gegen die gesellschaftlichen Anmaßungen und ideologischen Angriffe verteidigt, welcher diese Repräsentanten und Abkömmlinge des Todestriebes unterliegen. Die falsche Vorstellung von der Abschaffung des Todes zeigt sich exemplarisch sehr gut in der falschen Vorstellung von der Abschaffung des Schlafes, wie sie sich beispielsweise in der krampfhaften Verherrlichung einer ebenso krampfhaft mit gehörigem Speed-Konsum durchgehaltenen Nacht wiederspiegelt. „Man könne ja schlafen, wenn man tot sei“, sagen nur jene, die ein Leben führen, das diesen Namen kaum verdient; die meinen, dass sie als zappelige Untote, dem Tod ein Schnippchen schlagen. Tolkien hingegen entwirft an seinen Elben eine qualitative Veränderung des Schlafes. Auch dieser ist nach wie vor ein Rückzug von der Welt, die aber hier (bzw. im Segenreich) nicht mehr so grauenhaft ist, dass man vor ihr die Augen verschließen müsste[22]: „Glücklicher Schlaf aber ist das Urbild nicht des Todes, sondern der versöhnten Natur. Im Schlaf nimmt das individuelle Leben sich selbst zurück in der lebendigen Ruhe, aus der es als individuelles wieder erwachen kann.“ (Klaue) Der deutsche Tagtraum ist leider begrifflich dem bewussten Zustand und der aktiven Ausführung näher als die französische rêverie. Es gilt auch darauf zu bestehen, dass jenes Schlummern keinesfalls Meditation ist. Dem Dämmern korrespondiert im Segenreich der Konzeption Tolkiens der dortige endlose nur von Dämmerstunden eingegrenzte Tag, welcher ein wenig an den Polartag bzw. die „weißen Nächte“ erinnert, und nichts mit den neobeleuchten zum Tag gemachten Nachtstunden der heutigen Zeit gemein hat.  Das Bedürfnis nach Schlaf, Dunkelheit, Winter im Hier und Jetzt ist vor allem zu verteidigen, da viele Abkömmlinge des Todestriebes eben nicht der Tod selbst, sondern Elemente des Lebens und des Glücks sind. Freud selbst hat dies ausgedrückt, indem er den Todestrieb auch als Glückstrieb bezeichnete. Nicht der Todestrieb ist zu bekämpfen, sondern nur seine Flucht in den realen Tod; dem nach ihm bezeichneten Trieb wäre viel eher endlich im Leben gerecht zu werden. Die Elben Tolkiens stehen dafür insofern ein, als dass sie von einer enormen Meeressehnsucht geprägt sind, welche bei heutigen Menschen leicht als Todessehnsucht sich deuten ließe. Bei den Elben jedoch steht sie nicht für den Tod, sondern die ersehnte Rückkehr ins irdische Segenreich.     
Oben wurde schon erwähnt, dass das Werk Tolkiens vor allem durch eine krasse Prüderie geprägt sei. Im Falle der Elben jedoch ist dies eine konkrete Bestimmung, keine einfach hereingerutschte. Die Elben sind scheinbar prüde, da sie im späteren Alter – nach einer sehr langen Kindheit und Jugend - einer kompletten Sublimierung ihrer Libido unterliegen. Eben diese Vorstellung findet sich auch in einigen Werken Werk Houellebecqs, wo die Unsterblichkeit oftmals an die Sublimierung der Sexualtriebe gebunden ist. So ist die Androgynität der Elben durchaus eine Reaktionsform auf den vermuteten Zusammenhang von Tod und Zweigeschlechtlichkeit (August Weismann). Elben bekommen ferner kaum Nachwuchs, was gerade bei einem britischen Autor zuerst den Gedanken aufkommen lassen mag, dass hier im Sinne Malthus die Überbevölkerung der Welt, die als Frage, wären alle Menschen unsterblich, etwas dringlicher würde, kritisiert würde. Viel bedeutender erscheint jedoch, dass es implizit das Bedürfnis oder den Wunsch nach Nachwuchs als keinesfalls „neutral“ denunziert; und somit nahelegt, dass es einen Zustand der Menschheit geben könnte, in der niemand Nachwuchs benötigt, um sich selbst zu „verwirklichen“, worin jedoch auch keinem der Nachwuchs verwehrt wäre.[23] Denn natürlich ist es kein Glück, nie geboren zu sein; aber es lässt sich mit einiger Bestimmtheit sagen, dass nie geboren zu sein selbstverständlich weniger schlimm ist, als zu sterben. Wer meint, dass es schnell langweilig würde auf der Welt ohne neue Menschen, drückt damit nur unbewusst aus, dass er seinem eigenen Umfeld schon längst den Tod wünscht. Dies ist eine Vorstellung von Austauschbarkeit, welche den Elben, die einmalige Namen tragen, ferngelegen haben dürfte.
Ich muss auch zugeben, dass es mir immer wieder unterlief, die Elben als Menschen im Kommunismus zu betrachten. Sollte das auch hier anklingen, seien ein, zwei Entschuldigungen angeführt, die nicht der inhaltlichen Rechtfertigung dienen, sondern eher dem Nachvollzug dieser durchaus falschen Gedanken, über die man sich leicht lustig machen kann. Zum einen zeigt es, wie sich kindliche Eindrücke des Glücks und der Schönheit festsetzen und wieder aktualisiert werden; dabei sind Verzerrungen durchaus auch Bestandteil früher Reflexionen. Schon als Kind fiel mir auf, dass es unlogisch ist, dass die Elben Könige und Adlige haben, denn ihre Unsterblichkeit und ihr Zugang zur Welt schien sich schwer mit einer Herrschaft über andere zu vertragen. Immerhin wurden sie alle beschrieben als Adlige. Zum anderen entstammt diese Projektionsleistung einer wohl recht bekannten Not: Wir haben nur die Vergangenheit (inklusive der in ihr geformten Mythen), um zu vergleichen, um zu erkennen, was heute (noch) falsch ist – dazu gehört immer auch, die Spuren des Glücks in der Vergangenheit zu erkennen – sei es die individuelle oder menschliche. Dies ins Positive, Idealtypische zu verkehren ist unzulässig, aber es unterläuft einigen: Für Oscar Wilde waren es die Hellenen, welche nicht mehr Menschen, sondern endlich Maschinen versklaven sollten, und auch Marx musste sich von Wolfgang Pohrt vorwerfen lassen, dass er in einer seiner wenigen Ausmalungen des Kommunismus nur „den feudalen Lebensstil eines britischen Landedelmannes für alle“ versprochen habe.[24] Erkennt man solche Projektion als Projektion, ist man dem pathischen Teil des Denkens für den Moment schon halb entronnen. An den Elben kommt dem projektiven Akt entgegen, dass sie eben nicht wirklich greifbar sind - sie sind vermittelt durch die Extreme „Kinder und Könige“ und nicht deren Nivellierung. Darüber hinaus waren die Elben die Einzigen, welche die Überwindung des Todes glaubhaft repräsentierten.[25]
Es ist immer wieder die Magie, in der Realität (auch als magisches Denken) eine der dringlichsten Feinde der Aufklärung, die als literarisches Sujet insbesondere in Kinderbüchern den Gedanken an ein Transzendentes und die Sehnsucht nach dem Anderen erwecken kann, ohne dafür Gott einzusetzen oder die Mitgliedschaft in einer Religion zu fordern. Magie wird dabei zum Platzhalter einer nichtexistierenden Praxis. Der Philosoph, Dominikaner und Vertreter des platonischen Utopismus Tommaso drückte diesen Zusammenhang schon im 16. Jahrhundert folgendermaßen aus: „Alles, was die Wissenschaftler in Nachahmung der Natur oder, um ihr zu helfen, mit Hilfe einer unbekannten Kunst vollbringen, wird Magie genannt. Denn Technologie wird immer als Magie bezeichnet, bevor sie verstanden wird, und nach einer gewissen Zeit entwickelt sie sich zu einer normalen Wissenschaft.“ So steht die Magie der Elben blind als Telos einer qualitativen Veränderung der Produktivkräfte, wie sie zum Beispiel eine bestimmte Automation und die Rettung dessen, was der Gebrauchswert versprach, darstellen könnten.[26] Es war mir als Kind schon klar, dass die Unsterblichkeit alles ändern muss, dass sich für sie und in ihr alles ändern muss. Die Unsterblichkeit steht auch dafür, dass Starrheit Dynamik freisetzen könnte, statt der heutigen (Pseudo-)Dynamik, welche gesellschaftliche Starrheit zeitigt. Nun sind die Elben kein utopischer Entwurf, sondern eine Negation bestimmter Anteile des Menschen – für die Tolkien keine positives Korrektiv bereitstellt, das den Elben gerecht würde – die Hobbits sind nur ein fauler Kompromiss. Magie und Entrückung werden zu Symbolen dafür, dass „etwas fehlt“. Die Elben Tolkiens unterscheiden sich von Menschen in den Büchern keineswegs durch spitze Ohren, sondern höchstens eine Aura. Statt der Entfremdung des Menschen von einem Ursprünglichen fasst sie Tolkien als eine von seinen Potenzialen, Idealen. Die von Tolkien erschaffenen Menschen „sollten eine Kraft haben, ihr Leben inmitten all der Mächte und Zufälle der Welt nach eigener Wahl zu leben“ – mit diesem „Geschenk“ aber sei es „eins, dass die Menschenkinder nur für eine kurze Zeit in der lebendigen Welt wohnen und nicht an sie gebunden sind, sondern bald scheiden.“ Sie wurden von den Elben „Gäste“ oder „Fremde“ genannt. Später heißt es wahrheitsgemäß: „Tod ist ihr Schicksal.“ Dieses Schwanken der Betrachtung des Todes zwischen „Geschenk“ und „Schicksal“ zieht sich durch das gesamte Werk Tolkiens. Der Trauer angesichts des Todes wird ein großer Platz eingeräumt. An den ersten Menschen erfuhren die Elben „zum ersten Male das rasche Verlöschen des Menschenlebens und den Tod aus Müdigkeit, den sie selbst nicht kannten; und sie trauerten sehr um den Verlust ihrer Freunde. […] Die Elben indes bleiben bis zum Ende aller Tage: Daher geht ihre Liebe zur Erde und zu allen Dingen mehr ins Einzelne; sie ist stärker und, wenn die Jahre länger werden, auch mehr von Kummer bedrückt.“ Für Tolkien hängt also die menschliche Freiheit, welche menschliche Naturbeherrschung mit umfasst – und dies eben auch in ihrem Destruktivpotenzial – durchaus damit zusammen, dass die Menschen die Welt in ihrem Tod verlassen, zu ihr demnach ein äußerliches Verhältnis pflegen können.[27] 
Was mit den Menschen nach deren Tod passiert, weiß auch in Tolkiens Werk niemand außer der Eine Gott, aber es ist klar, dass sie die Erde (nicht nur Mittelerde) verlassen –  unklar bleibt ob es einen Himmel oder ein Ewiges Leben für sie gibt. Ihnen bleibt nur der vertrauensvolle Glaube, um die Angst vor dem Tode zu mildern, um an ihm nicht zu verzweifeln. Tatsächlich existieren immer wieder Andeutung, dass der Mensch mit dem Tode zu versöhnen sei – mancher hatte „sein Leben willig fahren lassen und war in Frieden gegangen“, was als durchaus vorbildhaftes Verhalten angeführt wird. Gleichzeitig aber glaubt niemand – ob Menschen, Elben oder die Elementargötter – daran, dass der Tod ernsthaft als „Geschenk“ zu betrachten sei – dies zieht sich durch das gesamte Werk. Auf der anderen Seite entfaltet Tolkien die Auswüchse, welche sich aus der versuchten Abwehr des Todes durch die Menschen ergeben. Dabei beruhe die Angst vor dem Tode auf einer Verführung durch das Böse (wie Sauron) und der Tod könne etwas Gutes sein, wenn er anders betrachtet würde. Gleichzeitig kommt immer wieder durch, dass diese Verführung auf ein existentes Bedürfnis trifft.
Manchen menschlichen Elbenfreunden, den Númenóre, wurde gewährt auf einer Insel in Sichtweite des Segenreiches zu wohnen,[28] das sie aber nie betreten durften – sie lebten sehr viel länger und kannte keine Krankheiten – doch mussten sie, wenn sie auch teilweise ein paar hundert Jahre alt wurde, irgendwann aus Altersschwäche sterben. Ihre zunehmenden Bemühungen, dem Tod zu entrinnen, führten zur Mumifizierung, zum Totenkult und schließlich zu Menschenopfern. Letztlich endet ihre Anmaßung den Göttern gegenüber (sie versuchten das Segenreich einzunehmen, in der Hoffnung dadurch zur Unsterblichkeit zu gelangen, weil sie verkannten, dass die unsterblichen Bewohner das Land „segneten“ und nicht andersherum) in ihrer Vernichtung durch eine Sintflut und der Entrückung des Segensreiches aus dem Blickfeld der Menschen. Das „Andenken dessen, was hätte sein können“ war verloren. Nur die beiden Elbenorte, Bruchtal und Lórien, waren im späteren Verlauf noch „Andenken all dessen, was edel gewesen war.“ Auch wenn immer wieder behauptet,[29] gibt es keine Stelle, in der die Unsterblichen die Menschen ernsthaft um ihre Sterblichkeit beneiden würden.
Die Elben ziehen schließlich aus Mittelerde. Die Menschen hingegen müssen die Unsterblichen und damit den Gedanken an irdische Unsterblichkeit unterdrücken und vergessen, um sich mit ihrem endlichen Dasein mehr schlecht als recht zu arrangieren, also nicht mehr in Versuchung zu geraten „die Grenze zu überschreiten, die ihrem Glück gesetzt war.“ Eben dies jedoch wäre als Herausforderung von der Menschheit anzugehen – die Geschichte könnte lehren, wie es nicht funktioniert. Tolkien war weder ein großer Kritiker noch ein großer Literat, aber es ging mir früh auf, dass keine Kritik hinter seine – von ihm eventuell überhaupt nicht intendierte und doch überaus präsente - Klage zurückfallen durfte. Doch erst bei Freud sowie vor allem Adorno und Houellebecq traf ich wieder auf diesen Gedanken, wenn auch in anderer Gestalt.
Dass der „Herr der Ringe“ wie auch das restliche Werk Tolkiens jedoch vermutlich endgültig verloren ist, zeigt sich nicht nur an den Verfilmungen, sondern auch an den neueren Buchcovern – es wurde vollends von dem durch ihn geschaffenen Fantasy-Genre geschluckt. Der Unterschied ist jener: Tolkien hatte die Mythen studierte, seine Nachfolger studierten Tolkien. Sie verlängerten dabei alle Momente, die ein Mal der Beschädigung trugen, ohne jenen, teilweise sehr randständigen, die darüber hinauswiesen, gerecht zu werden.[30] Anhand jener aber wäre sogar an Tolkien zu zeigen, was Horkheimer in seinen späten Tagen ausdrückt, nämlich „daß der wahre Konservative dem wahren Revolutionär verwandter sei als dem Faschisten, so wie der wahre Revolutionär dem wahren Konservativen verwandter ist als dem sogenannten Kommunisten heute.“[31]
Was den „wahren“ Konservativen mit dem „wahren“ Revolutionär vereint, dürften wohl vor allem, oftmals zufällige, vor allem aber schwer zu rekonstruierende Spuren und Eindrücke aus der Kindheit sein. Ähnlich verborgen wie diese Eindrücke sind oftmals auch die Wege, auf denen man zu ihnen gelangte. Ich denke, dass es Bücher gibt, die man nur in einem gewissen Alter, so hier als Kind, gelesen haben kann oder gelesen haben muss - was nicht heißt, dass man sie überhaupt gelesen haben muss, sondern nur, dass, wer es erst als Erwachsener versucht, gewisse Dinge in ihnen nicht mehr finden wird. Ich für meinen Teil lernte vermutlich an Tolkien, dass alles anders sein könnte und muss; dass der Tod oder die Sterblichkeit nicht als das Wesen des Lebens angesehen werden kann, das diesem erst Wert verleihe, indem es dieses begrenzt. Eben dies scheint mir eine, in meinem Fall der Kindheit entstammenden, Erkenntnis zu sein, die unter späteren depressiven Todessehnsüchten allzu schnell verschüttet wird.

[1] Von daher sind gewisse Kritikpunkte, wie sie von Daniel Sanin „Das Ringen des Wertes“ in Malmoe 9-2002 (http://www.malmoe.org/artikel/erlebnispark/371) und Florian Ruttner (Warum es kein Zufall ist, dass Nazis Matrix und Herr der Ringe mögen. in Karin Lederer (Hg.) Zum aktuellen Stand des Immergleichen. Verbrecher Verlag. 2008) geäußert wurden, prinzipiell gerechtfertigt. Über weite Strecken schießen sie aber über das Ziel hinaus – und dies nicht aufgrund polemischer Übertreibung, sondern aufgrund einer fast diskursiven Analyse des Werkes, die das Auffinden von Schlagwörtern schon für Deutung hält. Zu reflektieren wäre hierbei vielmehr die streng deutsche Lesart einer sehr englischen Schrift. Tolkien wäre höchstens zu charakterisieren als Vertreter wie auch Kritiker der „Englischen Ideologie“, von der aus gutem Grund nicht als einer solchen geschrieben wird. Der Kurzschluss von Wagner und Tolkien funktioniert nur, wenn man weder von Tolkien noch von Wagner eine Ahnung hat. Tolkien war ein scharfer Gegner der Nibelungen-Interpretation Wagners, mit dem er sich gewisse Quellen teilte, sowie des Antisemitismus, weshalb die Zwerge Tolkiens eben dezidiert keine Judenkarrikaturen sind, obwohl sie durchaus die Juden repräsentieren, und weshalb der konservative Tolkien kein Reaktionär wie Wagner wurde. Im Gegensatz zu Heidegger, für den Entfremdung durch Rückgriffe in den geschichtlichen Ursprung rückgängig zu machen war, klagte Tolkien schlichtweg über den Verlust, im Wissen, dass er vorerst endgültig ist. Gegen Hitler hegte er gar einen „heißen persönlichen Groll“, wie er es selbst ausdrückte. Als er anlässlich einer deutschen Übersetzung einen Ariernachweis einreichen sollte, verfasste er folgende Zeilen: »(...) Leider ist mir nicht deutlich, was Sie mit arisch meinen. Ich bin nicht von arischer, nämlich indo-iranischer Abkunft, denn soweit mir bekannt sprach keiner meiner Vorfahren Hindustani, Persisch, die Zigeunersprache oder einen der verwandten Dialekte. Wenn ich Sie aber so verstehen darf, daß Sie wissen möchten, ob ich von jüdischer Abstammung bin, so kann ich nur erwidern, daß ich es bedaure, offenbar keine Vorfahren aus diesem begabten Volke zu haben.« Wer Gollum als Judenkarrikatur charakterisiert, aber nicht über Grendel aus dem Beowulf oder Caliban aus Shakespeares Sturm redet, beweist, dass er von außen her großmächtige Kategorien als Folien an Tolkien heranträgt, ohne auch nur die Komposition des Werkes selbst nachzuvollziehen, was allgemein eine unerträgliche Form der Kritik ist.  
[2] „Elben hingegen bekommen einen Status, der jenen von Waldgeistern ähnelt: Sie haben magische oder ans Magische grenzende Fähigkeiten und ‘schwingen’ mit der Erde, so dass gesagt werden könnte, hier liege keine wirkliche Trennung von isoliertem Subjekt und äußerlichem Objekt (Natur) vor: Sie sind Natur selbst.“ http://www.malmoe.org/artikel/erlebnispark/371
[3] Nahezu jede Verteidigung des Todes bezieht sich auf die Qualen von Unsterblichen und Sterblichen; sei es nun durch Simone de Beauvoir („Tous les hommes sont mortels“) oder Knud Kohr mit Verweis auf Jonathan Swift in: http://jungle-world.com/artikel/2011/51/44576.html Dies bedeutet aber nur, dass die Abschaffung des Todes so universell sein muss, wie vormals der Tod selbst. Für Tolkien hatte der Tod eine enorme Bedeutung. Mit vier Jahren verlor er seinen Vater und war mit zwölf Jahren schon Vollwaise. Der Tod seiner Mutter stürzte ihn in ein mehrtägiges Koma. Bis auf einen wurden alle seine Freunde im Ersten Weltkrieg getötet. Die Trauer über den Tod seiner Frau konnte er nicht überwinden und verstarb zwei Jahre nach ihr.
[4] Immerhin stimmte er alle traurig, und die Phrase, mit der die Erwachsenen sich im Falle der Älteren versuchten zu trösten, dass jemand ein erfülltes Leben gehabt habe, konnte ich gerade als Kind nie verstehen, denn wenn dem so wäre oder es alle wirklich glaubten, würden sie kaum weinen. Dabei war mir eher klar, dass niemand das gelebt hatte, was mit Fug und Recht ein erfülltes Leben zu nennen wäre, dass ich nicht wusste und nicht weiß, wie ein solches Leben aussähe – und ja, es könnte sein, dass ein solches mit dem Tode versöhnen würde – nur weiß das noch niemand, und solange bleibt es eine Phrase für die Sonntagsrede oder Prophetie.
[5] Tolkien bediente sich zahlreicher regionaler Mythen – vor allem aber nördlicher (insbesondere keltische) – er selbst verabscheute das Wort „nordisch“ - katholischer, babylonischer sowie griechischer und finnischer. Die keltischen Elemente sind in der Regel die unbekanntesten, da die keltische Mythologie äußerst verschüttet ist, für das hier Geschilderte jedoch die bedeutendsten. Vor allem das Buch Lebor Gabála Érenn (Buch von der Einnahme Irlands), selbst schon christo-keltisch, diente Tolkien als Inspiration für die Elben, hierbei insbesondere die mythischen Vorbewohner Irlands, die Túatha Dé Danann. Bis ins 17. Jahrhundert wurde dieses Werk noch als reale Geschichtsschreibung betrachtet. Eben dies scheint kennzeichnend für das vor allem in den keltischen Gegenden Großbritanniens (Irland, Wales und Schottland) noch heute bedeutende christianisierte Heidentum, welches wohl kaum besser zum Ausdruck gebracht werden könnte, als durch die im Nachwort eines 1826 erschienenen Bandes irischer Elfenmärchen (übersetzt von den Brüdern Grimm) zitierte Antwort eines Iren, der – befragt, ob er an Elfen glaube – sagte: „Glauben tue ich an Gott und die Gebote, aber die Elfen sind wirklich da!“
[6] Dem zugute kam, dass das weitere Werk Tolkiens einen recht fragmentarischen, oftmals redundanten Charakter trägt, da sein Sohn den „Mythos“ tatsächlich rekonstruieren musste aus den zahllosen Notizen seines Vaters. Desweiteren besteht dieser Teil des Werkes aus vielen Gedichten, Gesängen und Hymnen.
[7] Es sei aber darauf verwiesen, dass die Tolkien oftmals angekreidete Schwarz-Weiß-Malerei durchaus dem Erzählstil seiner Quellen entspricht.
[8] Schon dies ist eine starke Anleihe bei der keltischen Anderswelt; vor allem Tír na nÓg (Land der ewigen Jugend im Westen Irlands). Ferner wird die Welt, welche ursprünglich eine Scheibe war, vom Einen Gott im späteren Verlauf zur Kugel geformt.
[9] Sie kehren als Seelen in eine Halle ein, die nichts mit Walhalla dafür viel mit einem Sanatorium zu tun hat, um dort zu heilen, und wiedergeboren zu werden.
[10] Dies verkannt zu haben, dürfte Peter Jackson dazu veranlasst haben, die Elben in den Verfilmungen mit einem heftigen Fernost-Kitsch auszustatten (Kleidung, Waffen, Architektur).
[11] Die alltägliche Verwendung Rades war beispielsweise im alten Tibet  verboten – hier aber aus dem gegenteiligen Grund, da diese Verwendung das heilige Rad profanisiert hätte. Dies ist konsequenter Ausdruck der tibetischen mittelalterlichen Feudalbarbarei, welche bis 1950 dauerte und die Friedensfreunde so gern verteidigen.
[12] Insbesondere die Langeweile gilt als weiteres großes Thema Heideggers, welches er streng in Verbindung zum konfusen Existential der „Zeitlichkeit“ zu fassen versucht. Zeitlichkeit ist in Bezug auf die Zeit ebenso aussagelos wie die Persönlichkeit bezüglich der Person. Zeitlichkeit ist nach Heidegger das Wesen der Zeit, das in-der-Zeit-sein oder besser Dasein in der Zeit. Andere nennen es schlichtweg Vergänglichkeit oder Flüchtigkeit. „Sein und Zeit“ bricht jedoch genau dort ab, wo die Zeit wirklich betrachtet werden sollte. So schreibt Heidegger: „Die Langeweile entspringt aus der Zeitlichkeit des Daseins“ und „in gelangweiltwerden sind wir hingehalten, und zwar durch die zögernde Zeit.“ Bei ihm wird also die Länge einer „leeren Zeit“ zum zentralen Merkmal oder gar Wesen der Langeweile - die Erfahrung von Zeit sans phrase: „Das gelangweiltwerden ist eine eigentümliche lähmende Betroffenheit vom zögernden Zeitverlauf und der Zeit überhaupt.“ Das deutsche Wort der „langen Weile“ kommt ihm dabei sehr entgegen, denn es verschiebt den Fokus von dem Zustand der Langeweile auf dessen bloße Dauer bzw. die Angst davor, dass er „lange weilen“ könnte. Für Heidegger ist die Langeweile demnach auch der immer anwesende Grundzug des Menschen, der nur vom Dasein unterdrückt werden kann, jedoch erst mit dem Tod endet.
Nur gilt für jeden seelischen Zustand, an dem wir leiden, dass dieser, umso länger er dauert, umso unerträglicher wird. Dabei ist die Beziehung der Langeweile zur Zeit äußerst sekundär. Langeweile (im allgemeinsten Sinne, dass einem schlichtweg langweilig ist) ist vielmehr Ausdruck der Unmündigkeit, welche sich insbesondere bei sogenannten außengeleiteten Charaktere zeigt. Psychoanalytisch ließe sich die pathologische Langeweile folgendermaßen ausdrücken: „Die Triebspannung ist da, das Triebziel fehlt.“ (Vgl: Otto Fenichel: Zur Psychologie der Langeweile. In: Ders.: Aufsätze. Band 1. S. 297-308) Die Außenwelt soll dieses Ziel bereitstellen. Es handelt sich um die Verwandlung von Aktivität in Passivität aufgrund einer Verdrängung kindlicher Triebziele – „man will durch passives Erleben aus einer Spannung befreit werden, die entstand, weil man Angst vor seinen eigenen aktiven Impulsen hat.“ Keinesfalls ist es verwunderlich, dass die Langeweile in der Pubertät gemeinsam mit Sexualität neu und in nicht gekanntem Ausmaß erwacht. Nun ist es nicht so, dass Jugendliche schlichtweg nichts zu tun hätten, sondern vielmehr so, dass das, was sie am dringlichsten tun möchten, nämlich sich permanent sexuell vergnügen, nicht zugelassen wird, und keine andere Tätigkeit, diesen Impuls ersetzen kann. Die artikulierte Angst, dass das Paradies langweilig sei, verweist vor allem auf die allgemeine Beschädigung aller Menschen heute, die eben lieber Vollbeschäftigung als die Abschaffung der Arbeit fordern. Sandor Ferenczi erläuterte diese Dispositionen als „Sonntagsneurosen“ (Int. Zs. F. Psa. V (1919) S. 46ff.), und meinte dabei jene Workaholics, die es schon am Wochenende oder im Urlaub nicht aushalten. Nicht selten sind dies jene analen Charaktere, die mit ihrer Zeit „geizen“. Langeweile verändert das Zeitgefühl und ist nicht primär selbst Resultat eines veränderten Zeitgefühls. Als wäre dies geahnt worden, hat sich im Deutschen das französische Ennui lange Zeit gehalten, obwohl „lange Weile“ seit dem 12. Jahrhundert und die Zusammenschreibung seit dem 14. Jh. bekannt war. Im älteren Österreichisch gab es hingegen den Begriff der Fadesse. Heidegger beweist schon in seinem Konzept der Langweile, welche Verzerrungen man vornehmen muss, um dem Tod Argumente zu liefern. In diesem Sinne wäre auch die Aversion Heideggers gegenüber der Unsterblichkeit zu betrachten, wie sie Davoli gut auf den Punkt brachte: „Unsterblichkeit ist die uneigentliche Negation der eigentlichen Sterblichkeit.“ (Giovandomenico Davoli: Heidegger und die Frage nach dem Sinn von Sein: das Dasein und das Nichts. S. 182)
[13] Auch dies ein Motiv aus der keltischen Anderswelt.
[14] Es dürfte auch kaum Erwachsene geben, die es nicht verwundert, dass es heute noch lebende Mammutbäume oder Kiefern gibt, die entsprossen sind, als das Judentum entstand, der Palast von Knossos errichtet wurde und man die Steine von Stonehenge aufstellte; oder aber Eishaie, die 400 Jahre alt werden können, was bedeutet, dass einige heute lebende Exemplare zu Beginn des 30jährigen Krieges geboren wurden.
[15] Dies wäre die Konzeption Newtons: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.“ Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre
[16] „Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden. Sie ist somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen, in der nämlich nicht auf die bestimmte Art der Veränderungen gesehen wird.“ Leibniz: „Die metaphysischen Anfängen der Mathematik“ in Handschriften zur Grundlage der Philosophie II. S. 35
[17] Strenggenommen haben wir dies auch mit der Woche als dem einzigen nicht-astronomisch-kalendarischen Zeitbegriff – aber dieser ist explizit kurz gefasst.
[18] Der elbische nicht-astronomische Kalender ist dabei nicht zu verwechseln mit dem Mondkalender der islamischen Zeitrechnung, welche sich als einzige lunare weigert, Schalttage/-monate einzuführen, um wie alle anderen Mondkalender sich immer wieder an den Sonnenkalender anzupassen, was die Landwirtschaft erfordert. Da das Mondjahr noch kürzer ist, „altern“ Muslime strenggenommen schneller. Ein 34 jähriger Muslim wäre nach christlicher Rechnung erst 33. Der französische Revolutionskalender hingegen änderte vor allem die Binnendifferenzierung des Sonnenjahres, war aber streng auf Jahreszeiten und deren Dreiteilung ausgerichtet. Der Gregoianische Kalender gilt zwar als arithmetischer, aber er versucht eher die astronomische Zeitmessung zu perfektionieren. Der einzige wirklich arithmetische Kalender wäre der Teil der „Langen Zählung“ des Maya-Kalender – die höchste Einheit umfasst hier sogar um die 394 Jahre.
[19] „Im Unbewußten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt. […] Dem Todesglauben kommt also nichts Triebhaftes in uns entgegen.“ Würde das Unbewusste den Schlaf kennen – also schlafen – würden wir schlichtweg nicht träumen.
[20] http://jungle-world.com/artikel/2011/02/42418.html
[21] http://www.zeit.de/kultur/2017-07/schlaf-digitale-technologien-kritik oder http://jungle-world.com/artikel/2011/20/43208.html und http://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/klaue-verschenkte.gelegenheiten_lp3.php
[22] „Seine Augen, in denen sich die lebendige Nacht und der tiefe Traum vermengten, waren nicht geschlossen, wie es die Art der Elben war.“
[23] Zu fragen wäre doch auch, ob die Sterblichkeit des Menschen spätestens seit der neolithischen Revolution nicht einfach nur noch evolutionärer Abfall ist.
[24] Vgl. Pohrt: Das allerletzte Gefecht. S. 9f Wobei angemerkt sei, dass Pohrt selbst in seiner „Theorie des Gebrauchswerts“ noch den „Untergang von luxuriösen Lebensformen“ der Aristokratie bedauert hatte, „an denen nichts falsch war als ihre Beschränkung auf wenige Privilegierte.“ (S. 51)
[25] Das unterscheidet sie von den kulturindustriellen Vampiren, die nur ein spiegelbildliches und/oder bloß verdoppeltes Abbild des Existierenden darstellen, was Ideologiekritiker nicht davon abhält in Buffy emanzipatorisches Potenzial zu „entdecken“. Vgl dazu: http://www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web61-3.html
[26] ScienceFiction hingegen malt dies positiv aus und verrät es somit. Die Fantasy-Literatur geht ferner mit nahezu untrüglicher Sicherheit in eine Zeit vor der Dampfmaschine zurück. Damit wird zum einen eine platte und völlig abstrakte Industrialisierungsfeindschaft zum Ausdruck gebracht. Wahr daran ist jedoch zum anderen, dass keine technische Errungenschaft heute verabsolutiert und als „Richtige“ befunden werden kann.
[27] Aus der Phrase, dass wir nur „Gäste auf der Erde“ seien, ließen sich Umwelt- und Naturschutz wie auch die Vorstellung, dass wir „die Erde von unseren Kindern nur geborgt“ hätten, nur ableiten, wenn noch jemand wüsste, was das Gastrecht bedeutet. Gleichzeitig erscheint hier der Tod wie bei Hegel als Rückkehr zur Gattung, was beim Anti-Hegelianer Schopenhauer fast eins zu eins auch auftritt. Nur Gast zu sein, lässt eben auch den Spruch zu: „nach mir die Sintflut“, laut Marx „der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation.“ (MEW 23, S. 285) Der Gedanke von der Überwindung des Todes zielt genau auf und gegen jenes „nach mir“.
[28] Vgl die Anleihen bei Atlantis, Avalon und Lyonesse
[29] So William Davis: “Choosing to Die: Death and Immortality in Middle-earth,” in The Lord of the Rings & Philosophy, edited by Bronson and Bassham (Open Court, 2003).
[30] Dies verkennt, wer Game of Thrones verteidigt: http://versorgerin.stwst.at/artikel/jun-3-2013-2151/magischer-positivismus
Das gesamte Genre rückte direkt nach Tolkien fast restlos in den Positivismus. Besonders deutlich zeigt sich dies beim Erfolgszyklus „Harry Potter“, in dem der Wunsch nach der Abschaffung des Todes als das radikale Böse gebrandmarkt wird.
[31] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45226214.html

Zurück zur Ausgabe: 
#115
7

»The Shores of Faery«: Illustration von J.R.R. Tolkien

& Drupal

Versorgerin 2011

rss