Der transhistorische Knüppel
Das Hamburger Gipfeltreffen des G20-Kartells – ohne UNO-Mandat oder völkerrechtliche Deckung – ist zwar vorbei, nicht aber sein schaler Nachgeschmack. Von Inhalten und Resultaten nicht die Spur. Dafür viel spießige Empörung über die Ausschreitungen auf der Straße, und dies (!) in einem dysfunktionalen Wirtschaftssystem, dessen große Kontinuität darin besteht, brutal über die Köpfe der es erhaltenden Menschen hinweg zu entscheiden. Die Gewalt in der Stadt ist bald in aller Munde. Regierung und Presse reagieren geradezu gleichgeschaltet. Kein gutes Zeichen! Ach ja, dann wäre da noch eine folgenlose Unterhaltung der beiden bonapartistischen Politbusinessmen Trump und Putin gewesen, samt entzückendem Gruppenfoto mit den anderen modischen Selbstinszenierern wie Macron und Erdoğan…
Wochenlang wird in Deutschland auf allen Kanälen unablässig nach Gesetzesverschärfungen gegenüber Demonstranten und deren Grundrechten gerufen und der Staatsschutz lapidar als Gegenstück zum Versammlungsrecht genannt, so als wären Freiheit und Gesellschaft längst Gegensätze geworden. Dabei zeugen Strafjustiz und Polizeiapparat, quasi als zivilisatorischer Hohlspiegel, vom jeweiligen Zustand eines Rechtssystems und dem entweder demokratischen oder diktatorischen Weg, den die Gesellschaft graduell einschlägt. Dessen ungeachtet sollen die Befugnisse der Exekutive abermals ausgeweitet und die soziale Kontrolle der Exekutivorgane wieder ein Stückchen verringert werden, etwa durch Abschaffung der Kennzeichnungspflicht im Polizeidienst. In so mancher Hinsicht erweist sich die letztlich sinnlose Zusammenkunft globaler Magnaten als symptomatisch für die Kluft zwischen der Masse der Lohnabhängigen und den Figuren der Macht, als repräsentativer Zeitstempel einer autoritären Wende und obendrein als tagespolitischer Flop. Nichts wird sich ändern, denn es geht um Handel, Profite, Kapitalisierungsraten.
Die ganze Gewaltdebatte seither ist müßig, wenn sie nur unter Denkverboten und ideologischen Scheuklappen geführt wird: auf der einen Seite von Linken, die sich entweder wundern, dass der Staat sein Gewaltmonopol durchaus ernst meint, oder, um ebendem entgegenzuwirken, sich argumentativ einen Blankoscheck ausstellen für programmatisches Ausfransen, strategische Ziellosigkeit und narzisstische Gewaltexzesse, für einen »Protest auf der Nullebene«, wie Žižek meint; und auf der anderen Seite von Staatsfetischisten aus Politik und Medien, die plötzlich der Polizei pauschal einen Heldenstatus zusprechen wollen und in bedeutungslosen Zusammenstößen weitab der Mächtigen sogleich revolutionären Terror vermuten, wo gar keiner ist – wohl, um den Rechtsstaat vom Innenministerium her nach und nach auszuhöhlen. Insgesamt haben die entscheidenden Problematiken in Hamburg 2017 eine untergeordnete Rolle beibehalten, während die spektakulären Bilder von Straßenschlachten, Brandsätzen, Wasserwerfern sowie autonomen und staatlichen Schlägertrupps prädominant geblieben sind.
Wenn man bedenkt, wie galant angesichts der 130 Millionen Euro an Sicherheitskosten und auch wie martialisch sich die deutschen Gastgeber schon im Vorfeld gebärdet haben, lässt sich die spätere Eskalation erklären: mit einer 38 km2 großen Sperrzone mitten im Stadtgebiet, mit eigens errichteten Haftbauten für Demonstranten, den »Gefangenensammelstellen«, mit gerichtlich genehmigten und nachträglich gekippten Camping- und Demonstrationsverboten, mit nahezu 20.000 Polizisten und militarisierten Spezialeinheiten in wechselhaft rechtsfreien Räumen, ganz zu schweigen vom legalistischen Scharfmacher und Gesamteinsatzführer der Polizei, Hartmut Dudde, der die »Hamburger Linie« weitgehend zum Synonym für eine autokratisch-drakonische Vorgehensweise der Staatsgewalt gegen linke Dissidenz gemacht hat. Kein Wunder, dass die einstige »Münchner Linie« von Georg Sieber zur Vermeidung polizeilicher Provokationen dem anrückenden Überwachungsstaat und seiner geschichtsvergessenen Öffentlichkeit nicht einmal mehr ein Begriff ist.
Der anwaltliche Notdienst vermerkt zum Beispiel, dass die Haltung der Justiz in Hamburg »politisch motiviert« gewesen sei, so Strafverteidiger Lino Peters. Verhaftete haben mitunter 10 Tage in derselben Unterhose ausharren müssen, oder sie sind überhaupt an der Rechtsbeihilfe und am Anwaltsanruf gehindert, physisch genötigt und sexuell belästigt worden. Die meisten Ermittlungsverfahren gegen Beamte in Uniform – vorerst nur 35 – betreffen den Vorwurf amtswidriger Körperverletzung, auch wenn Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz unbeirrt vor sich hin lügt, es habe »keine Polizeigewalt« gegeben. Falschaussage wird hier schnell zum Meineid, und dies bleibt dem Gesetz nach ein Verbrechen. Dem rechten »Sozialdemokraten« aus einer Textilunternehmerfamilie ist insofern eine Aussage vor dem Untersuchungsausschuss zu wünschen.
Die Polizei hat hart durchgegriffen und sichergestellt, dass Präsidenten und Bankiers in der Elbphilharmonie ungestört Beethoven lauschen können, während draußen »demokratische« Knüppel und Gummigeschosse auf die Demonstranten niederregnen. Als würden sie weniger wehtun, wenn sie im Namen der Demokratie verletzen! Den Linken selbst, denen der kapitalistische Staat laut Marx als Staat des Kapitals und der Kapitalisten gelten sollte, als »Ausschuss, der die gemeinsamen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet«, laut Lenin prompt als »Instrument zur Unterdrückung der Massen«, fehlt eine derartige Dimension der Politisierung – das Klassenbewusstsein von früher. Die Frage drängt sich auf, warum es den Linken so schwerfällt, die Staatlichkeit als das wahrzunehmen, was sie ist, als Gewaltmonopolistin in einer dezidiert kapitalistischen Gesellschaft?
Nach jener imposanten Zurschaustellung imperialer Selbstgefälligkeit beginnt in Nachrichtensendungen und Feuilletons alsbald die Suche nach den geschichtlichen Vorläufern linker Gewaltbereitschaft. Das ist interessant. Die Thematik organisierter Gewalt wird hier ziemlich einseitig eingeführt: Nicht nur wird man mittels medialer Wiederholungsschleifen ideologisch auf Kurs gebracht, indem man darin Maßnahmen zum Abbau demokratischer Fesseln schönfärbt und stattdessen auf Polizeirepression und Präventivjustiz setzt – natürlich, unter Berufung auf die bewusst vage Losung von »Sicherheit«, »Recht« und »Ordnung«. Zugleich ist man bemüht, die obige Büchse der Pandora möglichst geschlossen zu halten, da man weiß, dass auch die tendenziell oppressiven Elemente des Rechtsstaates, Justiz und Polizei, eine eigene Vergangenheit und Vorgeschichte haben. Und diese sieht angesichts ihrer geschichtlichen Neigung, jederlei Regime willig Pate zu stehen, beileibe nicht rosig aus.
Immerhin wirkt es doch auffällig, dass keine Diktatur, auch nicht die faschistische, jemals das Recht auf ihrer Seite gehabt hat, häufig hingegen die vorhandenen Institutionen des Rechtssystems. Jedes Unrecht ist irgendwann legal gewesen. Das autoritär-diktatorische Ideal von Staat und Recht, sein philosophischer Kern sozusagen, hat im deutschen Faschismus nur eine kranke Verwirklichung erlebt. Was die Entwicklung von Polizei und Justiz und die Veränderungen von der deutschen Kaiserzeit bis zur Bundesrepublik anbelangt, hat 1924 Otto Mayer bereits in der Aussage verdichtet: »Verfassungsrecht vergeht – Verwaltungsrecht besteht.« Der Rückfall vom Parlamentarismus in den Despotismus fällt meist um einiges leichter als umgekehrt, wenn, wie Lenin es formuliert, »die ganze Unterdrückungsmaschine: die Armee, die Polizei, die Beamtenschaft« unangetastet bleibt. Wer nachforscht und in einem Lexikon nachlesen will, stellt unter Umständen schockiert fest, dass es offiziell keine allgemeine Geschichte der Polizei gibt. Sie offenbart sich als Infopuzzle. Der linken Kritik am Staat als solchem oder an seinen exekutiven, bürokratisch-militärischen Einheiten fehlt mit einem Schlag der enzyklopädische Beleg. Der Hergang der Institution wird informatorisch zerkleinert, getrennt, verschleiert. Wessen »Freund und Helfer« ist die Polizei also aus geschichtlicher Perspektive? Wie urteilt die kollektive Erfahrung?
Seit Anbeginn stellt die Polizei ihrer Funktion nach ein Herrschaftsorgan dar, das eingesetzt wird, um die leibliche Unversehrtheit eines Herrschers und seiner Privilegien gewaltsam zu garantieren. Stichwort: Abschirmung durch Waffengewalt. In ihrer Eigenschaft, Einrichtung zu sein zum Schutz vor der Gleichheit, ist die Polizei älter als der Staat selbst, mit der Rotte verwandt, dem Patriarchat verhaftet. Aufbau und Wirken der Polizei orientieren sich entsprechend und ungebrochen am Vorbild des Militärs, dessen Werte, Hierarchie und Korpsgeist sie teilt. Schriftlich erwähnt, taucht die polizeiliche Organisation zum ersten Mal als Schutztrupp von Pharaonengräbern im Jahre 1340 v. u. Z. auf. Die älteste überlieferte Leibgarde – Urform der Polizei – ist jedoch die im biblischen Buch Samuel und im Tanach erwähnte Leibwache des Königs David. Als weitere bekannte Gardetruppen der Antike zu nennen sind die Apfelträger des persischen Königs und die Schildträger Alexanders von Makedonien oder die Prätorianer von Rom als Leibwache des Kaisers.
1373 wird auf Weisung des französischen Königs die Maréchaussée formiert, eine Kampftruppe, die die Aufgabe hat, jederlei Aufstand und Unruhen mit Gewalt im Keim zu ersticken. Diesen Namen trägt die holländische Gendarmerie übrigens bis heute. Bei den Inka, am anderen Ende der mittelalterlichen Welt, ist der einzelne Polizeifunktionär von Staats wegen angestellt gewesen, zehn Familien Tag und Nacht zu bespitzeln. 1667 führt Louis XIV eine politische Polizei ein, deren Elitecharakter manifest wird in ihrem Schutzmechanismus gegen den ideellen Fortschritt und die Modernisierung sozialer Strukturen. Herrschaftssicherung ist ihr einziges Ziel. 1810 geht in Russland die Geheimpolizei des Zaren an die Arbeit, ohne vor Terror gegen Regimefeinde zurückzuscheuen. Auslöser der Gründung der österreichischen Gendarmerie wiederum sind die revolutionären Ereignisse von 1848, der Vormärz, gewesen.
In dieselbe staatstragende Kerbe schlägt die Vernichtung der Münchner Räterepublik durch die Exekutive und auch die Niederschlagung des Ruhrkampfs 1920 und der Aufstände in Sachsen, Thüringen und Hamburg 1923 sowie des Blutmais von Berlin 1929. Die Gestapo bleibt jedoch an Gräueln unübertroffen. Auch die Schwabinger Krawalle von 1962 oder die Pariser Studentenunruhen und Arbeiterstreiks von 1968 sind Aspekte einer besonderen Geschichte der Polizei: ihrer elitären Aufgabe, die Eigentumsverhältnisse zu sichern und ihre Profiteure zu schützen. Im operativen Sinne lässt sich schwerlich sagen, dass sie als Institution sich grundlegend gewandelt hätte. Niemals betreffen ihre internen Skandale das linke Spektrum, sondern stets den rechten Sumpf. Das ist kein Zufall. Ihr Hang zum Autoritarismus ist historisch bis zum Schluss. Ihre Tätigkeit ist durchwegs systemstabilisierend. Wird der Staat autoritärer, folgt sie ihm darin auf den Schritt.
Auf kaltem Wege – ohne ausdrückliche Gesetzesänderung, durch extensive Auslegung bestehender Rechtsvorschriften – wird der Polizei immer wieder zu einer gefährlichen Machtfülle verholfen. Dieser Rückschritt popularisiert ein falsches polizeiliches Prinzip: dass, was zweckmäßig ist, auch rechtmäßig sei. Die Beachtung des gesetzlichen und verfassungskonformen Gebots der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit lässt sich unter solchen Bedingungen nicht mehr ohne weiteres voraussetzen. Eine wahre Demokratie darf aber weder außerordentliche Rechtsbehelfe dulden, noch juristische Eilprozesse im Container, gleich neben einer Gefangenensammelstelle. Wie das schon klingt!
Leid durch Schönheit: Historische Edinburgh Police Truncheons aus dem 19. Jhdt. (Bild: Gemeinfrei)