Herr Groll und die Drei-Kaiser-Schlacht

»Was in der Welt für Ekel und Abscheu sorgte, war in Österreich nichts als die vor sich hin köchelnde Ursuppe, das ewigbraune Politgulasch.«

Fünfzig Kilometer östlich von Brünn schlenderten der Dozent und Herr Groll durch einen Schlosspark. Den unbefestigten Weg säumten ausladende Eichen, morsche Eschen und einige alte Platanen. Gemessenen Schrittes näherten die beiden Freunde sich dem Schloß Slavkov u Brna, das auch unter dem Namen Austerlitz bekannt ist. Das Schloß sei die Heimstätte eines berühmten österreichischen Adelsgeschlechts, erzählte der Dozent. Wenzel Anton Graf Kaunitz sei einundvierzig Jahre lang Staatskanzler und engster Berater Maria Theresias gewesen; er habe gegen den Widerstand der Kirche und Teilen des Hochadels weitreichende Reformen im verzopften Habsburger-Staat durchgesetzt. Da Groll, der besorgt nach den Eschen blickte, nicht reagierte, wechselte der Dozent das Thema.
»Haben Sie gehört, daß es auf dem Jakobsweg in Spanien zu Prügeleien zwischen Pilgern und Einheimischen gekommen ist? Letztere beklagen den Massenandrang und als Folge davon gestiegene Mieten und Restaurantpreise.«
Groll schüttelte den Kopf. »Ich habe nur von den Protesten der Einheimischen in Städten wie Venedig, Barcelona und Salzburg gehört. Deswegen sind wir ja nach Mähren aufgebrochen. Touristen sind hier so selten wie Nashörner.«
Sie bogen um den Seitentrakt und fanden sich vor der Gartenfront des sattgelben Schlosses wieder. »Ihre Hoffnung hat sich erfüllt.« Der Dozent wies auf vier leere Tischchen vor der Schloßrestauration. Nach zwei Espressi, die italienische Qualität aufwiesen, gingen die beiden zum mährischen Landwein über. Auch über diesen waren sie voll des Lobes. Groll nahm einen Folder vom Tisch und las laut:
»Am 2. Dezember 1905 wurde auf den schneebedeckten Feldern von Austerlitz die berühmte Drei-Kaiser Schlacht geschlagen. Napoleon drängte zur Schlacht, bevor die österreichischen und russischen Truppen sich zur Schlacht-ordnung vereinigt hatten. Fünfzehntausend Soldaten blieben tot auf dem Schnee zurück, davon waren ‚nur‘ zwölfhundert Franzosen.« Er legte den Prospekt zur Seite.
»Verehrter Dozent, Sie können dies und die Vorgeschichte der Schlacht bei Tolstois ‚Krieg und Frieden‘ nachlesen; vom Rückzug der russischen Truppen am Inn bei Braunau über Linz, Stadt Haag, die Wachau, Hollabrunn und Schöngrabern – bis eben nach Austerlitz.«
Der Dozent hatte sich erhoben und ging vor Groll auf und ab, die Hände hatte er auf dem Rücken gefaltet. Auch am 15. Oktober werde es zu einer Drei-Kaiser Schlacht kommen, sagte er im Tonfall einer amtlichen Verlautbarung. Schauplatz sei das Bundeskanzleramt zu Wien, er sehe Sebastian Kurz in der Rolle Napoleons, Christian Kern und seine bröckelnde Sozialdemokratie stünden für den zögerlichen österreichischen Kaiser Franz II. und das marode Reich und die FPÖ mit Heinz Christian Strache für den russischen Kaiser Alexander I. und dessen greisen Heerführer Feldmarschall Kutusow, der am Vorabend von Schlachten während der Strategiebesprechungen gern einzuschlafen pflegte.
»Wenn wir davon ausgehen, daß der ehrgeizige Außenminister wie von den Auguren vorausgesagt einen landslide victory einfährt und die anderen Parteien abgeschlagen landen, ist der Weg zur zweiten Schwarz-Blauen Koalition ebenso vorgezeichnet wie der Vorstoß des auf diesen Feldern siegreichen Napoleons ins Herz des russischen Kernlands.«
Das möge sein, sagte Groll und wiegte nachdenklich den Kopf. »Was, bitte, ist ein …«
»Ich bitte um Verzeihung, ein landslide victory ist ein Erdrutschsieg.«
»Natürlich«, gab Groll zurück. »Wie konnte ich das vergessen!«
»Die Freiheitlichen werden sich mit Norbert Hofer als Sozialminister und H. C. Strache als Innenminister zufriedengeben«, fuhr der Dozent fort. »Und die SPÖ-Abgeordneten werden sich gemeinsam mit einer stark geschwächten grünen Truppe auf den Oppositionsbänken niederlassen. Auf den Verbleib von Christian Kern setze ich keinen löchrigen Heller, aber auf Kerns Nachfolger Doskozil wette ich einen Maria-Theresien-Taler.«
»Die korrekte Phrase heißt laut Österreichischem Wörterbuch ‚keinen lukerten Heller‘. Löchrig ist allenfalls ihr Sprachgedächtnis«, erwiderte Groll.
»Im Übrigen wäre ich Ihnen sehr verbunden, könnten Sie mit dem Dauerlauf aufhören!«
»Natürlich!« rief der Dozent. »Wie konnte ich das vergessen. Und das mir, der ich Germanizismen verabscheue.« Er nahm am Tischchen Platz, Groll nickte ihm zu. »Sie könnten aber mit Ihrem Drei-Kaiser-Vergleich recht haben«, fuhr er fort. »Ein triumphierender Napoleon überstrahlt eine müde und zerstrittene Sozialdemokratie und die Burschenschafter-Riege der FPÖ. Und die Verlierer werden von ihrem Troß an Glücksrittern, Intriganten und Sesselklebern bestürmt, so weiterzumachen wie bisher, weil dies als Garantie für Posten und Pfründe erscheint.« Er nahm einen ordentlichen Schluck vom Rotwein. »Die kommende Schmierenkomödie lässt sich an einer Schlüsselfigur trefflich veranschaulichen.«
»Fahren Sie bitte fort.« Der Dozent setzte sich zurecht.
»Ich nenne Ihnen jetzt drei Aussprüche, getätigt innerhalb weniger Sekunden, von ein und demselben Mann bei der Vorstellung als Sebastian Kurz die Nummer drei auf der ÖVP-Bundesliste präsentierte. Das erste Zitat lautet: ‚Sebastian Kurz ist ein großer Umsetzer‘. Dies über jenen Mann, der in seiner siebenjährigen Regierungszeit als Integrationsstaatssekretär und Außenminister keine einzige Reform durchgeführt hat; auch die Schließung der Westbalkan-Route für Flüchtlinge, die er so gern für sich reklamiert, ist bekanntlich nicht auf seinem Mist gewachsen. Und nun das folgende Doppelzitat: ‚Wir müssen Österreich enkelfit machen, daher ist es Zeit, daß wir ins Tun kommen‘.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte der Dozent, nachdem auch er dem Wein zugesprochen hatte. »So spricht ein pickelübersäter Jugendlicher, dem die Hormone das Hirn vernebeln.«
»Das, verehrter Kollege, ist leider falsch. Der Mann, der sich in der beschriebenen Art äußert, wird Anfang Oktober dreiundsechzig Jahre alt. In den neunziger Jahren war er Bürochef des Kärntner Landeshauptmanns und Direktor des freiheitlichen Parlamentsklubs, als Jörg Haider die erste xenophobe Welle auf die Bevölkerung losließ. Jeder Tag ein brauner Spruch wurde zu seinem Markenzeichen. Er zermürbte damit seine Landsleute, die seit jeher für braunes Gedankengut anfällig sind. Bald nahm kaum jemand mehr daran Anstoß. Die Medien kamen mit der Auflistung der verbalen Attacken durch freiheitliche Würdenträger nicht mehr nach, was zur Folge hatte, daß die Empörung im selben Maß sank wie die Gewöhnung zunahm. Mit Unverständnis und Wut reagierte daher die Volksgemeinschaft auf die Bezeichnung der FPÖ in ausländischen Medien als rechtsextrem oder NS-affin. Was in der Welt für Ekel und Abscheu sorgte, war in Österreich nichts als die vor sich hin köchelnde Ursuppe, das ewigbraune Politgulasch. Bekanntlich wird jedes Gulasch durch neue Zutaten von Tag zu Tag kräftiger, so auch in diesem Fall. Angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise wird der übelriechende Brodem, welcher der heimischen Politleibspeise entweicht, mit jedem Tag ekelerregender und giftiger. Der Lienzer Jurist Josef Moser, denn von diesem Mann spreche ich, war im engsten Kreis der Haiderianer und galt als einer der Architekten der ersten Schwarz-Blauen Regierung. Diese hievte Moser zuerst in den Vorstand der Bundesbahnen und beförderte ihn zwei Jahre später zum Präsidenten des Rechnungshofes. Sein Nuscheln im Verein mit seiner originellen Ausdrucksweise wird durch den hyperventilierenden Vortrag nur verstärkt. Seine Ratschläge wurden von den Adressaten in Ministerien und Behörden mit freundlichem Unverständnis aufgenommen. Der Mann hat ein Anliegen, aber wir wissen nicht welches, sagten sich die hohen Beamten, was für ein Glück, wir können ungestört im alten Trott weitermachen.«
»Geschätzter Groll, gerade Sie sollten behinderte Zeitgenossen nicht dem billigen Spott der Öffentlichkeit aussetzen.«
»Nicht alles, was das Leben auszeichnet, ist eine Behinderung, verehrter Freund« versetzte Groll. »Man kann den menschlichen Haupttriebkräften Dummheit, Gier und Unterwürfigkeit ihren Platz belassen ohne gesundheitliche Kriterien zu bemühen.«
»Sie gehen also davon aus, daß Moser Finanzminister der neuen Koalition wird«, sagte der Dozent. »Was aber geschieht mit Herrn Schelling?«
»Er hat mehrfach erklärt, bei einer Regierungsbeteiligung der FPÖ nicht zur Verfügung zu stehen. Man sollte ihm Glauben schenken. Nicht erst seit dem Hypo-Debakel hat er von blauen Wirtschaftskalibern die Nase voll. Aus den Kalibern wurden rasch Empfänger von Kassibern. Immerhin hat er die Folgen des Kärntner Debakels für die Republik verhandelt. Außerdem ist er ein unabhängiger Kopf, so etwas ist in der neuen ÖVP-Bewegung nicht besonders gefragt, die Loyalität zu Sebastian Kurz geht da vor.«
»Wir müssen also damit rechnen, daß der rot-grüne Block bei der Wahl scheitert. Er wird zu einer qualifizierten Minderheit verkommen.«
»Das Adjektiv ‚qualifiziert‘ würde ich streichen«, erwiderte Groll.
»Es war im Sinne, von ‚starker Minderheit‘ gemeint.«
»Sage ich doch, ich würde es streichen«, beharrte Groll.
Einige Reiher näherten sich im Formationsflug. Der Dozent sah den Vögeln nach, die über dem Schloß verschwanden. »Es soll hier Fischteiche geben«, sagte er.
»Während der Schlacht brachen hunderte Soldaten durch das Eis und ertranken, niemand wollte die Fische mehr essen. Also wurden die Teiche zugeschüttet.«
Woher er das wisse, fragte der Dozent. Groll reichte ihm den Prospekt.

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Vor kurzem erschien von Erwin Riess der sechste Groll-Roman »Herr Groll und die Stromschnellen des Tiber« im Otto Müller Verlag. Eine Rezension folgt im nächsten Heft.

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