Novemberpogrom

Luis Liendo Espinoza über die Reichspogromnacht und den eskalierenden Antisemitismus 1938.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fanden in Nazideutschland die schwersten Pogrome im deutschsprachigen
Raum seit dem Mittelalter statt. Vorwand für diese Orgie der Gewalt war das Attentat des 17-jährigen deutsch-polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath in Paris am 7. November. Auf Weisung der NS-Führung, ausgeführt von SA, NS-Funktionären und Zivilisten, kam es im gesamten Dritten Reich zu Angriffen gegen Juden. Synagogen, Wohnungen und Geschäfte wurden demoliert und in Brand gesetzt. Nach aktuellen Forschungen kamen allein in der Reichspogromnacht mind. 400 Menschen ums Leben. Insgesamt forderte das Pogrom 1.300 – 1.500 Opfer. In Linz stürmten dutzende SA-Männer am 10. November um 3 in der Früh mit Hacken und Bezinkanister die Linzer Synagoge. Während der Tempel brannte, vollzog ein Zivilist mit dem geplünderten und hingeworfenen Inventar ein Schauspiel zur Belustigung des versammelten Pöbels. Die Feuerwehr griff vorsätzlich nicht ein und achtete allein darauf, eine Ausbreitung des Feuers zu verhindern. Bei einer Reihe von Überfällen am selben Tag, welche als Hausdurchsuchungen getarnt waren, wurden Juden in ihren Wohnungen misshandelt und eingeschüchtert.
In Wien kam es bereits vor dem Einzug der deutschen Nazis im März 1938 zu antisemitischen Ausschreitungen durch österreichische Nazis und ganz normalen Wienern. Parteimitglieder, österreichische SA, Hitlerjugend, Polizei und Zivilisten begannen Juden auf offener Straße, in Parks, in ihren Wohnungen und Geschäften, in Gefängnissen und auf Polizeirevieren zu überfallen, zu misshandeln, auszurauben und zu verschleppen. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zu Tausenden am helllichten Tag schamlos geplündert. Die wochenlangen Gewalttaten in Österreich fanden ohne Befehl von höheren Instanzen statt. Auch im »Altreich« war 1938 bereits vor dem Novemberpogrom die Gewalt eskaliert. Im Frühjahr wurden in ganz Berlin jüdische Geschäfte, Praxen und Kanzleien beschmiert, drei Synagogen geplündert und demoliert. Zu weiteren Gewaltakten kam es in Magdeburg und Frankfurt am Main. Im Mai und Juni wurden bei Großrazzien mind. 1.800 Juden verhaftet.

Unter dem Eindruck der sich radikalisierenden Situation gestaltete sich die Emigration der Juden aus dem Machtbereich des Dritten Reiches immer chaotischer. Die Nazis propagierten einerseits die Auswanderung der Juden und unterstrichen diese Forderung durch ihre Gewaltbereitschaft, andererseits wurden der Ausreise kaum zu überwältigende Hindernisse in den Weg gelegt. Das geforderte Verfahren bestand aus einem unüberschaubaren und oft improvisierten Instanzenweg, dazu kam die Willkür der lokalen Beamten, die sich vielerorts damit vergnügten, die auf den Ämtern Wartenden zu drangsalieren. Im März 1938 wurde auf Initiative der USA die Konferenz von Évian angekündigt, welche Wege finden sollte, die Auswanderung von Flüchtlingen aus Deutschland zu erleichtern. Schon im Einladungsschreiben wurde den teilnehmenden Staaten zugesichert, dass keine verbindlichen Erhöhungen der Einwanderungsquoten oder finanzielle Zuwendungen gefordert werden würden. Jede Diskussion über den europaweiten Antisemitismus wurde systematisch unterdrückt. Juden, welche nur als politische Flüchtlinge angeführt wurden, hatten keine offizielle, einheitliche Vertretung oder Mitsprache, sondern allein das Recht auf Anhörung. Unter fadenscheinigen Begründungen lehnten 31 Staaten eine Aufnahme jüdischer Flüchtlinge ab. Obwohl die europäischen Staaten zu diesem Zeitpunkt im Besitz von Ländereien auf allen Kontinenten waren, konnte sie sich nicht dazu durchringen, auch nur einigen Tausend Juden die Einreise in einen Winkel ihres Kolonialreichs zu erlauben. Der einzige Fleck auf Erden, auf dem Juden visafrei einreisen konnten, war Shanghai. Die Vertreter der jüdischen Hilfsorganisationen durften nur vor einem Subkomitee vorsprechen, wo sie an einem einzigen Nachmittag einzeln innerhalb von 3-4 Minuten die Situation der Juden in Europa darlegen mussten. Évian war der Beweis für die Machtlosigkeit der jüdischen Lobby. Wenige Monate vor der Reichspogromnacht hatte die internationale Staatengemeinschaft jede Unterstützung der bedrohten Juden abgelehnt.

In Polen führte die jüdische Bevölkerung auf der juristischen, politischen und ökonomischen Ebene einen verzweifelten Kampf gegen den Antisemitismus. Der polnischen antideutschen Boykottbewegung gelang es dabei sogar, den deutschen Export nach Polen empfindlich zu stören. Der jüdische sozialistische Bund führte einen aktiven Kampf unter Waffeneinsatz und Selbstverteidigung, zum Schutz der Händler auf den Märkten und der bedrohten jüdischen Bevölkerung. Dennoch konnten die Aktivitäten der polnischen Juden die zunehmende Verbreitung des Antisemitismus nicht verhindern. 1938 wurde die angebliche Notwendigkeit einer jüdischen Massenauswanderung von hochrangigen Vertretern des Regierungslagers aktiv propagiert. Im März 1938 beschloss das polnische Parlament ein Gesetz zur Ausbürgerung polnischer Staatsbürger, welche länger als fünf Jahre außerhalb Polens gelebt, gegen den polnischen Staat agitiert oder die Verbindung mit der polnischen Administration und dem »polnischen Volke« gebrochen hätten: Es ging um die Ausbürgerung Zehntausender polnisch-jüdischer Staatsbürger in Deutschland. Die Deutschen reagierten prompt. Auf Anordnung Himmlers wurden vom 17. bis 19. Oktober 17.000 polnische und staatenlose Juden polnischer Herkunft abgeschoben. Mangels vorgefertigter Regelungen vollzog sich die Verschleppung chaotisch und willkürlich.
In jedem Fall wurden die Betroffenen (40% der ausländischen Juden waren in Deutschland geboren) brutal aus ihrem Alltag gerissen. Oft wurden sie über Nacht verschleppt und anschließend mit Zügen an die Grenze gebracht. Nahe der Grenze wurden die Verhafteten schließlich unter Drohungen und Schlägen zu Fuß nach Polen getrieben. Zum Teil wurden die polnischen Juden von SS in den Grenzfluss getrieben und von polnischen Grenzwächtern zurück gehetzt. Nachdem Tausende tagelang im Niemandsland und lokalen Bahnhöfen ausharren mussten, wurden die Menschen in polnischen Grenzorten unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert. Unter den Flüchtlingen waren auch Sendel und Ryfka Grynszpan, Herschel Grynszpans Eltern. Seine Schwester schrieb ihm noch eine Postkarte, in der sie ihm die Verschleppung an die polnische Grenze schilderte. Grynszpans Tat war ein Akt der Rache gegen die Situation seiner Eltern und den eskalierenden Antisemitismus.

Das Novemberpogrom war letztlich nur ein weiterer, wenn auch markanter, Baustein einer umfassenden antisemitischen Mobilisierung, die zu jener Zeit halb Europa und selbst den arabischen Raum erfasst hatte. Ungarn beschloss 1938 eine umfassende antijüdische Gesetzgebung, welche u.a. die freie Berufswahl für Juden aufhob und den Erwerb von Grundbesitz verbot. Rumänien erließ im Januar 1938 ein Gesetz, das schlagartig ca. 250.000 (!) rumänischen Juden die Staatsbürgerschaft entzog. In Bulgarien kam es im September 1938 in Sofia zu antisemitischen Ausschreitungen. Selbst im Jischuw in Palästina war man vor dem Wahn nicht sicher. Die Politik der Briten bestand darin, den Forderungen der reaktionären und zum Teil antisemitischen arabischen Nationalbewegung nachzugeben. Ab 1936 wurde die Zuwanderung von Juden in das britische Mandatsgebiet weiter eingeschränkt. Mit der Veröffentlichung des MacDonald-Weißbuchs im Mai 1939 hatten die Briten entschieden, das Projekt eines jüdischen Staates endgültig fallen zu lassen. Die Juden sollten als Minderheit in einem arabischen Staat leben. Zu dieser Zeit intensivierten sich auch die Kontakte arabischer Organisationen und der frühen islamistischen Gruppen mit dem NS-Regime. Bereits in den 20er Jahren hatte eine Zentralfigur des palästinensischen Nationalismus, der Mufti von Jerusalem Amin el-Husseini, den palästinensischen Nationalismus im Sinne eines Befreiungskampfes gegen eine antiislamische, jüdische Weltverschwörung propagiert. Nun war diese Saat aufgegangen. Die ägyptische Muslimbruderschaft begann in den 30er Jahren eine intensive Kampagne zur Befreiung Palästinas. Dabei wurden die ideologischen Fundamente für den modernen Dschihad gelegt. Tod und Krieg wurden glorifiziert, das Selbstopfer als Pflicht im Dschihad propagiert. Abordnungen der faschistischen Bewegung Junges Ägypten oder der nach dem Vorbild der Hitlerjugend organisierten irakischen Futtuwah nahmen 1936 bzw. 1938 an den Reichsparteitagen der NSDAP teil. Die Syrische Nationalsozialistische Partei und die Phalanges Libanaises waren mit hakenkreuzartigen Fahnen und Faschistengruß auch äußerlich an der NSDAP angelehnt.

Der katastrophale Ausgang der Évian-Konferenz und die weltweiten, verschärften Einwanderungsregelungen kamen einem Todesurteil gleich. In der Tat vollzog sich 1938 jene fatale Entrechtung und Isolation der Juden, welche die Endlösung ermöglichte. Hunderte geflohene, glücklose Juden wurden unter Zwang nach Deutschland abgeschoben. Die zionistische Führung und jüdische Organisationen unternahmen große Anstrengungen, um den Opfern des Terrors zu helfen. Doch fehlte ihnen die Macht, den Kampf gegen das III. Reich auf eine solide Basis zu stellen. Sie waren auf Gedeih und Verderb dem guten Willen der westlichen Demokratien ausgeliefert. Die westlichen Staaten wollten den Krieg nicht riskieren und ernteten dafür den Weltkrieg. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war vielen Juden die objektive Bedeutung des Zionismus klar geworden: In einer Welt antisemitischer Staaten lag die einzige Möglichkeit, die eigene Haut zu retten darin, selbst die Geschicke eines Staates zu lenken. Einen im emanzipatorischen Sinne notwendigen Staat, weil nur dieser unter den gegebenen Bedingungen, die materiellen und militärischen Voraussetzungen schaffen konnte, um jüdische Autonomie auch praktisch gegen den Wahn zu verteidigen. Die organisierte und bewaffnete »Zufluchtsstätte« (Jean Amery) der Juden.

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