Mythos Kunst (Teil 3): Im Blitzlicht der Ästhetik des Neuen
Im zweiten Teil von Mythos Kunst wurde eine Einführung in die Tradition jener Formen der Kunst gegeben, die sich konstruktiv auf Technologie und Wissenschaft eingelassen haben. In diesem Teil werden noch einmal zentrale Orte der Innovation aufgesucht – wie Konstruktivismus, die Initiativen für eine Neues Bauhaus wie das Design Institute, Chicago, und die Hochschule für Gestaltung Ulm und nicht zuletzt die »visuelle Forschung« der Neuen Tendenzen. Diese Künstler und Institute hatten ein positives, wenn auch kritisches Verhältnis zur Technologie. Ihre Problemstellungen, Rahmenbedingungen, Scheitern oder Gelingen liefern das Material, um sich theoretisch vertiefend mit dem Zusammenhang von Kunst und Technik, Kunst und Wissenschaft zu beschäftigen.
Mit der Entwicklung der Autonomie der Kunst im späten 18. Jahrhundert wurde die Trennung zwischen dem produktiven Sektor und der Kunst als Überbauphänomen institutionalisiert. Die Kunst koppelte sich von der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft ab, entwickelte ästhetische Parallelwelten. Diese konnten dem reinen Eskapismus dienen, oder auch ein Ort sein, an dem die Utopie überwintern kann. Eine immer größere Spannung entstand zwischen tradierten Vorstellungen von Kunst und einem technisch revolutionärem Kapitalismus, der durch die Entwicklung der Produktivkräfte die Bedingungen zu seiner eigenen Überwindung schuf; der diese transformierende Dynamik aber zugleich immer wieder einfangen musste, um die herrschenden sozialen Verhältnisse zu bewahren.
Diese historische Entwicklungstendenz, in der die Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft eine weitgehend affirmative Rolle einnahm, wurde von den historischen Avantgarden am Beginn des 20. Jahrhunderts gesprengt. Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus vollzogen einen Bruch mit der Kunst der Vergangenheit und wollten die Kunst mit dem Leben verbinden.
Der in der nachrevolutionären Sowjetunion entstandene Konstruktivismus, und innerhalb dessen der Produktivismus, versuchten diese Verbindung zwischen Kunst und Leben auf eine ganz besondere Weise herbeizuführen. Die künstlerische Produktion sollte nicht der Herstellung einzelner Kunstwerke dienen, sondern die gesamte materielle Lebenswelt durchdringen. Die Kunst sollte sich einmischen in die Gestaltung von Produkten, Häusern, Städten, öffentliche Einrichtungen. Um diese Aufgabe leisten zu können, musste sich die Kunst auf quasi wissenschaftlicher Basis mit den Elementen der Gestaltung beschäftigen, um so objektive Grundlagen für eine Ästhetik des neuen Maschinenzeitalters zu schaffen. Das bedeutete von der »Staffeleimalerei« Abstand zu nehmen und sich den verschiedensten technischen Medien zuzuwenden, der Fotografie, dem Film, dem Radio. Die Konstruktivisten hatten für die »gemachten« Dinge einen Sammelbegriff, nannten es »Faktura«, und betonten dadurch den Charakter des Kunstwerks als künstlich hergestelltes Ding und »Faktografie« die Serienherstellung von solchen (etwa durch fotografische Techniken).
Die Grundidee des Produktivismus, sich direkt in die Gestaltung der Lebenswelt einzuschalten, hängt jedoch stark von dem jeweiligen Gesellschaftssystem ab, in dem diese Forderung erhoben wird. In der nachrevolutionären Sowjetunion argumentierte Boris Arvatov, dass es Aufgabe der Kunst sei, in Verleugnung ihrer Autonomiestellung pure Gebrauchswerte herzustellen. Während Produkte im Westen vor allem auf Grund einer Verbindung von Warenästhetik, Produktfetischismus und Tauschwert wahrgenommen werden, würde das Produkt im Sozialismus zum Angelpunkt neuer, nicht entfremdeter sozialer Beziehung werden, hoffte Arvatov.[1] Die Abschaffung des Geldes und des Systems der Ausbeutung würde es ermöglichen, eine neue sozialistische Objektwelt zu schaffen, aus welcher der Fetischcharakter der Konsumgüter verbannt werden würde. Die neue Verbindung von reinem Gebrauchswert und konstruktiver Ästhetik sollte völlig neue Rahmenbedingungen für das Alltagsleben der Menschen im Arbeiter- und Bauernstaat schaffen, und damit zentrale Forderungen des Sozialismus Wirklichkeit werden lassen.
Im Westen wurde daraus eine funktionalistische Design-Ästhetik. Diese Linie wurde vom ungarischen Bauhaus-Künstler László Moholy-Nagy konsequent an die Spitze getrieben, indem er reflektierte, welche neuen Wege Kunst in einer technologischen Gesellschaft gehen müsse. Telefonbild (1922) wurde auf der Basis von Anweisungen durchgeführt, die der Künstler einem Arbeiter in einer Keramik-Werkstatt gab. Moholy-Nagy beschäftigte sich intensiv mit Fotografie und fertigte häufig sogenannte Fotogramme – Belichtungen von Fotopapier ohne Verwendung einer Kamera. Diese Experimente standen im Kontext der Arbeitsuntersuchungen mit Lichtfotografie, die von den Gilberths als Teil des »wissenschaftlichen Managements« der Arbeitskraft eingesetzt wurde. Moholy-Nagy wollte diese Fortschritte der Wissenschaft, auch wenn sie im Dienst des Kapitals standen, für eine neue Design-Ethik für den zeitgenössischen Menschen fruchtbar machen, wie in seinem Buch Vision in Motion (1947) dokumentiert.
Das modernistische Denken assoziierte die minimalistische, auf wissenschaftlich-technischer Grundlage beruhende Ästhetik der »Funktionalisten« mit einem neuen Menschheitsbild, das nicht mehr durch ethnische Herkunft oder Geschlecht bestimmt war. Noch unter dem Schock des Ersten Weltkriegs stehend, und der zunehmenden Bedrohung durch den aufstrebenden Faschismus ausgesetzt, sollten die klaren Formen und reduzierten Gestaltungselemente auf ein universelles Menschheitsideal verweisen, frei vom Ballast der Vergangenheit, von Mythos und Irrationalität. Doch bereits in der Weimarer Republik ebenso wie in Frankreich zeichnete sich gegen Ende der 1920er Jahre ab, dass diese Ästhetik vom Markt absorbiert werden konnte, ohne die inhaltlichen Vorstellungen zu teilen.
Das humanistische Ideal universal geteilter ästhetischer und ethischer Normen in einem neuen Maschinenzeitalter ging in den Wirren von Faschismus und Krieg unter, um aber nach dem Krieg in neuen Formen wieder aufzuerstehen. Das von Moholy-Nagy gegründete Institute of Design in Chicago und die Hochschule für Gestaltung Ulm versuchten, das Bauhaus-Erbe in den Nachkriegsgesellschaften wieder aufleben zu lassen. Nach dem frühen Tod Moholy-Nagy‘s führte dessen jüngerer Freund und Kollege György Kepes diese Arbeit in Chicago, später auch am Center for Advanced Visual Studies des MIT fort. Kepes glaubte, dass durch die Entwicklungen des Industriekapitalismus die natürliche Balance zwischen Mensch und Umwelt gestört worden sei. Um diese Balance wieder herzustellen, seien traditionelle Medien unzureichend. In zahlreichen Publikationen dokumentierte Kepes strukturelle Analogien zwischen Bildern der Natur, die mit neuen Medien hergestellt wurden (z.B. Elektronenmikroskop, Luftaufnahmen) und Arbeiten zeitgenössischer abstrakter Künstler wie Max Bill und François Morellet.
Die HfG Ulm, gegründet 1953 von Otl Aicher und Inge Scholl mit Max Bill als Gründungsrektor nahm sich zum Ziel, gestalterische Eliten auszubilden, die sich an demokratischen Idealen orientieren würden. Inge Scholl war die ältere Schwester von Hans und Sophie Scholl von der Widerstandsbewegung Weiße Rose, die vom Hitler-Regime hingerichtet worden waren. Irrationalität, Mythos, Aberglaube wurden mit Nationalsozialismus assoziiert. Das Ulmer Institut nahm 1953 den Lehrbetrieb auf. Studenten und Professoren zogen 1956 in ein vom Gründungsdirektor Max Bill entworfenes Campus-Gebäude ein. Von den Einheimischen wurden sie als »Designer-Mönche im Betonkloster« tituliert. Max Bill, selbst Bauhauskünstler und Mitbegründer der »Konkreten Kunst« vertrat noch eine sehr idealistische Auffassung vom Künstler-Ingenieur-Designer. Dieser besaß Dank seines Genies den direkten Draht zu den Gestaltungsprinzipien der Natur, des Kosmos und der Technik und konnte – war Bill überzeugt – auf dieser Basis die Lebenswelt der Menschen so gestalten, dass die verschönerte Umwelt auch zu besseren sozialen Beziehungen führen würde.
Doch 1956 kam es zur Palastrevolte und ein neues Rektorenteam nahm die Arbeit auf, unter ihnen der argentinische Künstler und Designer Tomás Maldonado. Dieser betrieb einen »militanten Rationalismus im Dienst der kulturellen Innovation.« Die Ästhetik sollte mit Hilfe der Informationstheorie auf eine naturwissenschaftliche Basis gestellt werden. Ulm konnte mit der Entwicklung des Lufthansa-Logos und Entwürfen für das Elektronikunternehmen Braun einige bedeutende Design-Meilensteine realisieren. Doch Maldonado gab später selbst zu, dass die Wissenschaftlichkeit am Ulmer Institut etwas zu weit getrieben wurde. Über einige Jahre hinweg wurde kaum noch designt, sondern nur noch mathematisch-wissenschaftliche Grundlagenforschung zum Design betrieben.
Das Ulmer Modell war von entscheidendem Einfluss auf die von Zagreb ausgehende Bewegung der Neuen Tendenzen. Diese versuchten, unter Einbeziehung der Gestaltpsychologie die Kunst durch »visuelle Forschung« zu ersetzen. Für diese internationale, progressive Kunstbewegung waren die Einflüsse des Marktes auf die Kunst verheerend. Sie wollten nicht einzelne Kunstwerke für den Luxuskonsum reicher Sammler schaffen, sondern eine demokratische Kunst für alle, eine »planetarische Folklore« wie es einer ihrer Mentoren, Victor Vasarely, nannte.
Dazu griffen die Künstler der Neuen Tendenzen auf optische Illusionen zurück, die aus der Gestaltpsychologie bekannt sind. Die Gestaltpsychologie von Max Wertheimer, Georg Köhler und Kurt Koffka in Deutschland und Vittorio Benussi in Graz entwickelt, verstand die menschliche Wahrnehmung als Teil eines organischen Ganzen von Mensch und Umwelt.[2] Sie versuchten eine ganzheitliche Wahrnehmungstheorie zu entwickeln, ohne den Anspruch der Wissenschaftlichkeit aufzugeben. Durch experimentelle, im Labor durchgeführte Forschung sollten Grundlagen über die visuelle und akustische Wahrnehmung entdeckt werden. Berühmt ist der Satz, dass das Ganze – also die Gestalt - mehr als die Summe seiner Teile sei. Die Gestalttheorie vertrat den revolutionären Ansatz, dass die grundsätzlichen Objekte wissenschaftlichen Interesses nicht die einzelnen Sinnesempfindungen sein sollten, sondern etwas Größeres, Ganzes, die Gestalt.
Die Wahrnehmung sei kein passiver Apparat, argumentierten die Gestaltpsychologen. An jedem Moment, in dem Lichtreize auf den Sehnerv auftreten, produzieren wir in der Vorstellung unablässig Vermutungen über strukturierte Ganzheiten. Ein einfacher Strich auf weißem Papier kann als Horizont verstanden werden, ebenso wie als Umrisslinie eines Gesichts oder einer Hand. Das Gehirn produziert fortwährend solche Annahmen, bis es sich schließlich auf der Basis weiterer Informationen auf eine festlegt und das entsprechende »Bild« liefert. Daraus folgt, dass Rezeption und Kognition nicht getrennt, sondern eng miteinander verbunden sind; es folgt auch, dass, abhängig von diesen auf Erfahrungen beruhenden Vermutungen, bestimmte Informationen bereits im Sehnerv unterdrückt oder verstärkt werden. Daraus ergab sich für die Gestaltpsychologen, dass es Korrespondenzverhältnisse geben müsse zwischen visuellen Strukturen der Wirklichkeit, den Mustern menschlicher Erfahrung, und wie sich diese im Gehirn in Form von Gehirnwellen manifestieren.
Insbesondere Georg Köhler entwickelte daraus eine Theorie des visuellen Feldes. Laut Köhler bestehen zwar keine linearen Verbindungen zwischen sichtbarem Objekt und Abbildung im menschlichen Geist, aber es gäbe einen starken Isomorphismus – eine strukturelle Analogie der Formen/Gestalten – zwischen Lichtwellen im Wahrnehmungsfeld und Wellenmustern im wahrnehmenden Gehirn. Letzteres erwies sich zwar als unhaltbar im Licht neurologischer Forschung, bildete aber eine fruchtbare spekulative Arbeits-These in der Kunst. Es gab die Grundlage für die Annahme eines Beziehungsfeldes zwischen Künstler_in, Werk und Betrachter_in, welches den Charakter des Kunstwerkes tiefgreifend veränderte.
Die sich auf die Gestalttheorien beziehenden Künstler_innen der Neuen Tendenzen wollten die von ihnen geschaffenen optischen Illusionen und Effekte einsetzen, um die Menschen aus den Kreisläufen der von oben gesteuerten Industriegesellschaft zu befreien. Die Strukturen von Produktion und Konsum, von Sender und Empfänger sollten im Kunstwerk exemplarisch aufgebrochen werden, um neue, offene, partizipative und spielerische Situationen zwischen Werk und Betrachter_in zu schaffen. Die Anfangsjahre rund um 1961 standen noch relativ stark unter dem Einfluss von Max Bill und dessen Richtung der Konkreten Kunst. Bill glaubte an die mathematischen Grundlagen der abstrakten Kunst. Das bedeutete, dass die innere, mathematische Struktur des Kunstwerks Analogien zur Struktur des Kosmos aufwies – was schon die Pythagoräer glaubten. Diese innere Analogie war die Grundlage für die Wirksamkeit des Werks, das sich in der Wahrnehmung des/der Betrachter_in abbildete und dadurch von unmittelbarer Wirkung auf diese/n sein konnte. Indem ein Werk bestimmte Farb- und Formen-Harmonien kommunizierte, konnte es sich unmittelbar beruhigend, harmonisierend auf Mensch und Umwelt auswirken, dachte Bill.
Die radikaleren Künstler_innen und Gruppen innerhalb der Neuen Tendenzen distanzierten sich von dieser Form der Geistigkeit in der Kunst. Den Begriff der Kunst lehnten sie überhaupt ab und ersetzten diesen durch »visuelle Forschung«. Innerhalb der Neuen Tendenzen gab es eine Tendenz mit Gruppen wie den in Paris lebenden Groupe de Recherche d‘Art Visuel (GRAV), N aus Padua, T aus Mailand, Equipo 57 (in Paris lebende Spanier) und anderen, bei denen die visuelle Forschung im Kontext eines Marxismus der Neuen Linken zu verstehen ist. Zu diesem Typus neomarxistischen Denkens trug auch das jugoslawische Journal und die gleichnamige Gruppe Praxis (1963-1974) bei. Autoren wie Henri Lefebvre, Ernst Bloch, Herbert Marcuse und später Toni Negri verstanden Marxismus nicht als Doktrin, sondern als auf Prozesshaftigkeit ausgerichtetes, ergebnisoffenes Denken. Dieses Denken, obwohl es kritisch bleibt, beansprucht die Dimension der Unabgeschlossenheit des geschichtlichen Entwurfs.
Entwickelt in zeitlicher und geistiger Nähe zu solchen Ideen, stand die visuelle Forschung für eine radikale Neuorientierung der Kunst. Anstatt Kunstwerke zu produzieren, wurden Arbeitshypothesen ausgestellt. Kein Werk war jemals vollendet, sondern immer nur ein Schritt in einer Serie von Forschungsexperimenten. Die Künstler_innen traten hinter dem Werk zurück, sie wurden so anonym wie die von ihnen verwendeten Gruppen-Namen. Das Hauptinteresse galt der Entwicklung einer dynamischen Beziehung zwischen Werk und Betrachter_in. Das Werk wurde nicht bewertet auf der Basis eines Korrespondenzverhältnisses zur Wahrheit, sondern auf der Basis seiner Fähigkeit, Werk-Betrachter_innen-Beziehungen zu mobilisieren. Indem sich die Betrachter_innen auf das Werk einlassen, um die optische Illusion zu erleben, fördern sie ihre eigenen kritischen Fähigkeiten in Bezug auf die Strukturen der Macht im technisch fortgeschrittenen Industriezeitalter. Die kybernetischen Kontrollschleifen in der Gesellschaft wurden in den spielerischen, instabilen und nicht vorher determinierten Beziehungen zwischen Werk und Betrachter_in exemplarisch durchbrochen.
Die Gestaltpsychologie lieferte dazu den passenden wissenschaftlichen Rahmen, der sich mit dem Neomarxismus der Neuen Linken unter einen Hut bringen ließ. Die der Gestaltpsychologie vorausgegangenen, positivistischen Wahrnehmungstheorien untersuchten diese auf der Basis von Reiz-Reaktionsmodellen im Rahmen einer behavioristischen Psychologie. Daraus entwickelte sich, unter Zuhilfenahme von Mathematik, Logik und Sprachphilosophie nach dem Zweiten Weltkrieg die »kognitive« Psychologie, die das Denken mit logischen Schlussfolgerungen gleichsetzte. Dabei wurde das Wissen über den menschlichen Geist zur Voraussetzung für dessen Manipulation und Kontrolle. Die Gestaltpsychologie hingegen, verstand sich als Grundlagenforschung, die ein wahrheitsgemäßes Verständnis vom Menschen in seiner Umwelt entwickeln wollte und dieses Beziehungsgefüge als ein geschichtliches auffasste. Die Künstlerinnen und Künstler der Neuen Tendenzen versuchten durch die optischen Illusionen als physiologischer Kurzschlussakt den Subjekten eine Anleitung zu ihrer eigenen Befreiung zu liefern. Im Blitzen und Zittern des Wahrnehmungseffekts steckt das dialektische Element der Möglichkeit von seiner Befreiung oder Aufhebung.
Die Gestaltpsychologie, ebenso wie die Kybernetik, hatte forschungspolitisch das Nachsehen gegenüber der kognitiven, neopositivistischen Orientierung der Künstlichen Intelligenz. Die Konzeption von Wahrnehmung als rein physiologischem Akt lieferte zugleich die wissenschaftlich technischen Voraussetzungen für die Maschinenwahrnehmung und -Steuerung in der automatisierten Fabrik. Die Technik wurde einmal mehr als Mittel gegen Arbeitnehmer_innen eingesetzt. Im 19. Jahrhundert hatten die Maschinen vor allem die Muskelkraft ersetzt. Im 20. Jahrhundert entstand die Fließbandproduktion, der Fordismus, und ab 1948 – zeitgleich mit der Begründung der Kybernetik durch Norbert Wiener – die »Detroit-Automation.« Dabei wurden zunehmend auch mentale Fähigkeiten der Arbeitnehmer_innen durch technische Feedback-Mechanismen wie z.B. Lichtschranken, Kameras, Sensoren ersetzt. Diese Tendenzen verstärkten sich seither noch durch die Entwicklung der Informatik und die Automatisierung der Büroarbeit. Diese Entwicklungen sind jedoch nicht linear und eindimensional zu verstehen, sondern erzeugen mit jedem Entwicklungsschritt Gegenbewegungen und alternative Zukunftsentwürfe.
Wie schon im zweiten Teil dieser Serie erwähnt, trugen die Neuen Tendenzen zur gesellschaftlichen Dynamik bei, die zu den Revolten von 1968 führten, wurden aber nicht als die Kunst von 1968 wahrgenommen.[3] Die Neuen Tendenzen erreichten ihren künstlerischen Höhepunkt bereits um 1963, ohne dass ihnen das bewusst gewesen wäre. 1965 wurde die Teilnahme einer Reihe von Künstler_innen der Neuen Tendenzen an der Ausstellung The Responsive Eye im MoMA, New York, als Begräbnis erster Klasse gewertet. Ihre Kunst wurde dort als Op Art verkauft, ohne Rücksicht darauf, dass diese Arbeiten dazu beitragen sollten, die kritische, politische Subjektposition der Menschen im Verhältnis zur Umwelt zu stärken.
Die Revolten von 1968 richteten sich gegen die technokratischen Strukturen, Subjekt- und Raumkonzepte des fortgeschrittenen Industriekapitalismus auch bekannt als Fordismus. Die Kunst der Neuen Tendenzen war ein (vorerst) letzter Versuch, eine linke Programmatik, die auf Emanzipation und Empowerment ausgerichtet war, mit einem positiven Technik- und Wissenschaftsverständnis zu verbinden. Die Grundidee des Konstruktivismus, dass eine rationale, auf Wissenschaft und Technik zurückgreifende Kunst, die sich gestalterisch in die Umwelt einmischt, zu einer besseren Welt führen würde, traf bei einer neuen Generation von Künstlerinnen und Künstlern auf Skepsis. Diese Umwelt war zunehmend von der Konsumkultur durchdrungen und von funktionalistischer Architektur und Stadtentwicklungsplänen geprägt. Die neuen Kunstformen, die ab ca. 1966 entstanden, beruhten auf ganz anderen Voraussetzungen. Ihre Kernaufgabe sahen sie darin, gleichzeitig die Bedeutung stiftenden Mechanismen der modernen Kunst, und die hinter dieser stehenden und sie stützenden große Narration der Moderne zu hinterfragen. Mit diesen »neuen künstlerischen Praxen« – der Kunst und den Veränderungen des Zeitgeists nach 68 – beschäftigt sich der nächste Teil.
Teil 1: Der Mythos des Künstlers
Teil 2: Kunst und Technik
Teil 4: Feminismus, Semiotik, Anti-Kunst, Befreiung
Teil 5: Die Computerkunst ist tot, es lebe die Medienkunst!
Teil 6: Post-Art oder in der Endlosschleife des Zeitgenössischen
[1] Arvatov, Boris, and Christina Kiaer. »Everyday Life and the Culture of the Thing (Toward the Formulation of the Question).« October 81 (Summer 1997): 119–28. http://www.jstor.org/stable/779022.
[2] Ash, Mitchell G. Gestalt Psychology in German Culture, 1890-1967: Holism and the Quest for Objectivity. Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1995.
[3] Siehe auch Medosch, Armin. New Tendencies - Art at the Threshold of the Information Society. Leonardo Series. Cambridge Mass.; London: MIT Press, 2016 (voraussichtliches Erscheinungsdatum Mai 2016).