Was ist Antiziganismus?
Am 23. Juni 1942 meldete der Kommandeur der 281. Sicherungsdivision die »Erschießung von 128 Zigeunern in Novorshev.« Das war ein keineswegs ungewöhnlicher Vorfall. »Zigeuner« sowie Juden wurden damals von Angehörigen der Einsatzgruppen in enger Kooperation mit denen der Wehrmacht in allen von den Deutschen eroberten Territorien der Sowjetunion ermordet. Die Soldaten der Sicherungsdivision, auf die Tucholskys Diktum »Soldaten sind Mörder« nun wirklich zutrifft, hatten die »Zigeuner« jedoch eigenmächtig und ohne Kooperation mit der zuständigen Einsatzgruppe erschossen. Dieses Verbrechen rechtfertigte der Kommandeur, in dem er auf die angebliche »Partisanentätigkeit« im Gebiete von Novorshev hinwies, an der angeblich auch »Zigeuner« beteiligt gewesen seien, was er in seinem Bericht folgendermaßen begründete:
»Zur selben Zeit trieben sich in den angeführten Räumen Zigeuner herum, die sich nicht gemeldet hatten, keiner geregelten Arbeit nachgingen, ihr Leben durch Betteln von Ort zu Ort fristeten, keinen festen Wohnsitz hatten und sich in jeder Weise als Belästigung darstellten. Die allgemeine, nicht nur auf Rußland beschränkte Erfahrung, das sich Zigeuner durch ihren herumziehenden Lebenswandel besonders als Agenten eignen und auch fast immer bereit sind, solche Dienste zu leisten, hat sich auch in Rußland wieder bestätigt. Da daher von vornherein die Möglichkeit bestand, daß die Zigeuner mit der verstärkten Partisanentätigkeit im Zusammenhang stehen, wurde ihre Festnahme und Überprüfung befohlen.«
Der Bericht enthält gleich mehrere zigeunerfeindliche Stereotype und
Vorurteile. Einmal, dass die »Zigeuner« ständig herum ziehen würden, weshalb sie auch so bezeichnet werden, was im Deutschen von Zieh-Gauner abgeleitet wird. Zweitens, dass sie nicht wie anständige Leute arbeiten, sondern faul seien und betteln und stehlen würden. Drittens, dass sie wegen dieser ihrer asozialen Lebensweise von der Gemeinschaft als fremd und als »Belastung« empfunden werden würden. Viertens, dass sie schon wegen ihrer fast angeborenen »herumziehenden Lebensweise« spionieren würden, was fünftens ihre sofortige Ermordung rechtfertige.
Diese und einige andere zigeunerfeindliche Vorurteile und Stereotypen werden in der Forschung als »antiziganistisch« charakterisiert. Die Feindschaft gegenüber den »Zigeunern« generell wird als »Antiziganismus« bezeichnet. Der Begriff ist aus mehreren Gründen problematisch. Einmal, weil es gar keinen »Ziganismus,« d.h. eine Einheit der »Zigeuner« gibt, die sich zweitens auch nicht so, sondern generell als »Roma« und in Deutschland als »Sinti und Roma« bezeichnen. Hinzu kommt drittens, dass die Fremdbezeichnung »Zigeuner« einen pejorativen Charakter hat und im Deutschen suggeriert, dass es sich bei den Roma um ‘herumziehende Gauner’ handelt. Aus diesen Gründen müsste man korrekterweise eigentlich von ‘anti-Romaismus’ oder ‘anti-Romanismus’ sprechen. Doch diese Begriffe sind erstens völlig ungewöhnlich und zweitens auch missverständlich, weil an Feindschaft gegenüber der Stadt Rom und der Sprachgemeinschaft der Romanen erinnernd.
In Ermangelung eines anderen und besseren hat sich der Begriff Antiziganismus in der Forschung auch deshalb durchgesetzt, weil Antiziganismus so weit verbreitet und allgemein anerkannt war, dass überhaupt keine Notwendigkeit bestand, einen besonderen Terminus für diese Feindschaft zu erfinden und zu gebrauchen. Warum war dies so?
Eine Antwort darauf findet man wiederum in dem Bericht des Kommandeurs der Sicherungsdivision. Heißt es hier doch, dass die negativen Eigenschaften der »Zigeuner« schon »immer« zu beobachten gewesen seien und auf einer allgemeinen »Lebenserfahrung« basierten. Tatsächlich sind antiziganistische Vorurteile bei den Angehörigen aller Klassen, Schichten und Generationen sowie in allen feudalen, kapitalistischen, sozialistischen etc. Gesellschaften und demokratischen, diktatorischen etc. Regierungssystemen anzutreffen. Antiziganismus ist daher als eine Ideologie zu begreifen, die tief in der Mentalitätsgeschichte wurzelt und so etwas wie ein »kultureller Code« der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft war und ist.
Wegen seiner tiefen mentalitätsgeschichtlichen Verwurzelung und weiten gesellschaftlichen Verbreitung konnte der Antiziganismus auch zu einem exterminatorischen werden. Ihm sind neben den »128 Zigeunern in Novorshev« weitere tausende, ja hunderttausende von Roma während des Zweiten Weltkrieges zum Opfer gefallen. Ihre Gesamtzahl wird auf eine halbe Million geschätzt. Sowohl Umfang wie genozidaler Charakter des Mordes an den Roma werden aber von einigen vorgeblich objektiven Wissenschaftlern und offen antiziganistisch und rassistisch eingestellten Revisionisten bezweifelt und geleugnet. Hier haben wir es mit einer neuen und weiteren Variante des Antiziganismus zu tun. Es handelt sich um einen Antiziganismus nicht trotz, sondern gerade wegen des Genozids, der in der Sprache der Roma - Romanes - auch als »Porrajmos« (=wörtlich: das Verschlungene) bezeichnet wird. Man kann ihn analog zum »sekundären Antisemitismus« als ‘sekundären Antiziganismus’ bezeichnen. Er ist aber heute - noch - nicht so verbreitet wie der sekundäre Antisemitismus. Schließlich ist der Vorwurf, dass die Roma den Porrajmos für materielle und politische Zwecke instrumentalisieren würden, noch unglaubwürdiger und grotesker als der an die Adresse »der Juden« und des Staates Israel gerichtete und (sekundär) antisemitisch und antizionistisch motivierte.
In der heutigen Diskussion überwiegen dagegen die bereits erwähnten sozialen Varianten des Antiziganismus. Hinzu gekommen oder besser geblieben sind die religiös motivierten. Dies ist der immer wieder, bzw. immer noch zu hörende Vorwurf, dass die »Zigeuner« über ein besonders enges Verhältnis zum real natürlich nicht existierenden, sondern imaginierten Teufel verfügten. Mit ihm hätten sie ihre - angeblich - schwarze Gesichtsfarbe gemein, von ihm hätten sie ihre ebenso angeblichen magischen Fähigkeiten und für ihn und in seinem Auftrag würden sie wahrlich teuflische Verbrechen wie Kinderraub begehen. Ich rede hier nicht von einer weit zurück liegenden Vergangenheit, sondern von der unmittelbaren Gegenwart. Der Vorwurf des Kinderraubs ist jüngst in Neapel erhoben worden und hat zu pogromartigen Ausschreitungen geführt. Dass die »Zigeuner« über magische Fähigkeiten verfügen sollen, die man mit ebenso magischen Methoden bekämpfen könne, haben vor einigen Jahren einige emsländische Kaufleute geglaubt und unter Beweis gestellt, die Besen in die Türen und Fenster ihrer Geschäfte gestellt haben, um mit diesem teuflischen Symbol die ebenso teuflischen »Zigeuner« daran zu hindern, ihre Geschäfte zu betreten und ihre Waren zu stehlen. Dass die Roma teuflisch und schwarz oder beides zugleich sind oder sein sollen, habe ich bei meinen Forschungen über Antiziganismus und Begegnungen mit Antiziganisten immer wieder gelesen und gehört. Keineswegs nur in Deutschland und keineswegs nur bei älteren und ungebildeten, sondern auch jüngeren und vorgeblich gebildeten Menschen. Gerade bei letzteren, wozu ich auch einige meiner professoralen Kollegen zählen möchte, prallen alle Aufklärungsversuche wie Wasser an der Gans ab. Roma gelten nicht nur als notorisch diebische und ständig herumziehende »Zigeuner«, sie sind oder sollen irgendwie »fremd« und »unheimlich« in der ursprünglich religiösen Bedeutung des Wortes sein. Der religiös, vor allem diabolisch motivierte Antiziganismus gehört, um Ernst Bloch zu zitieren, zu den ideologischen »Überbauten«, die »umgewälzt« schienen, aber dennoch, ja deshalb noch vorhanden sind. Wirklich ein Beweis für die These Blochs von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«.
All dies macht die Erforschung und Bekämpfung des Antiziganismus so schwierig. Sie muss nämlich radikal im doppelten Sinne sein. Weit in die Mentalitätsgeschichte der Menschen zurück- und tief in ihre Mentalität und Psyche eingreifen. Und zwar der Mehrheitsgesellschaft. Denn die Roma selber sind für den sie bedrohenden Antiziganismus in keiner Weise verantwortlich. Daher kann die Erforschung und Bekämpfung des Antiziganismus auch niemals ohne oder gar gegen die Roma, sondern immer mit ihnen erfolgen, und muss sowohl eine aufklärerische wie eine politische Zielsetzung haben.
Prof. Dr. Wolfgang Wippermann ist Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin. Gastprofessuren in Innsbruck, Peking, Bloomington, Durham und Minneapolis. Zahlreiche Publikationen über Bonapartismus, Faschismus, Totalitarismus sowie Antisemitismus und Antiziganismus. Zuletzt: Autobahn zum Mutterkreuz. Historikerstreit der schweigenden Mehrheit, Berlin 2008; Der Wiedergänger. Die vier Leben des Karl Marx, Wien 2008.