Pogromstimmung
Wer sich in nächster Zeit auf das ungarische Land verirren sollte, könnte nachts seltsame Versammlungen von mit Keulen, Küchenmessern und Sensen ausgerüsteten Trupps begegnen. Angehörige der ungarischen Roma, welche nach einer Reihe mörderischer Angriffe das Vertrauen in die staatlichen Behörden verloren haben, sehen sich gezwungen, Maßnahmen zu ihrer Selbstverteidigung zu ergreifen.
Eine Studie des ungarischen Political Capital Institute vom Oktober 2008 über Antiziganismus und Antisemitismus weist auf den gesellschaftlichen Hintergrund der jüngsten Eskalation der Gewalt in Ungarn: Konzepte und Elemente der Weltanschauung der extremen Rechten seien in den letzten Jahren Teil des gesellschaftlichen Mainstream geworden. Öffentlichkeit, Medien, Polizei, Gerichte und Verwaltung würden wüste Hetze und Aufwiegelung gleichgültig zulassen. Es herrsche ein »vollständiger Mangel« an einer gemeinsamen Haltung der politischen Eliten gegen die Extremisten. Zunehmend würden Roma als »aggressive«, für die Gesamtgesellschaft »gefährliche, bedrohliche und kriminelle Minderheit« beschrieben, womit die »Rechtfertigung für Aktionen« der Extremisten gegeben sei. Die Medien seien unfähig dem Publikum eine sachliche Interpretation von Ereignissen und Informationen näher zu bringen. In Massenmedien würden Meinungen und Kommentare mit diskriminierenden und rassistischen Tönen zunehmend Allgemeingut.
In Artikeln der einst liberalen Tageszeitung Magyar Hirlap wird bspw. die Weltwirtschaftskrise auf die »unermessliche Geldgier, Unersättlichkeit und Verantwortungslosigkeit der jüdischen Finanzleute aus Brooklyn« zurückgeführt. Die linksliberale Regierung werde von »Mossad-Leuten« gesteuert. Ähnliche Töne finden sich im beliebten Sender Echo TV, in dem bspw. das Gründungsmitglied der Ungarischen Garde Sándor Pörzse eine Sendung mit dem Titel »Mélymagyar« (Wurzelecht, Rassenrein) produziert. Der Antiziganismus wurde in einer anderen Sendung von Echo TV als jüdische Verschwörung gegen das »Magyarentum« umgedeutet, die linksliberale Regierung würde ihre »Instruktionen […] direkt aus Tel Aviv bekommen«. Im Januar 2009 erklärte der Polizeichef von Miskolc, der drittgrößten ungarischen Stadt, auf einer Pressekonferenz, die Roma kurzerhand zu den alleinigen Schuldigen für die gesamten Einbrüche in Miskolc. »Ungarische und Roma-Kultur« könnten, so hieß es weiter, »nicht miteinander leben«. 24 Stunden nachdem der Polizeichef durch den Justizminister suspendiert wurde, musste dieser nach massiven Protesten von hochrangigen Beamten und Politikern und einer Solidaritätsdemo von 1.000 Skinheads und Rassisten wieder eingesetzt werden.
Die Mobilisierung der Ungarischen Garde, dem paramilitärischen Arm der rechtsextremistischen und antisemitischen Jobbik Partei, gewann erst vor diesem Hintergrund ihre Durchschlagskraft. Die Garde organisiert unzählige Aufmärsche in den ländlichen Regionen Ungarns. Dabei werden mit Unterstützung rassistischer Einwohner Hetzreden gegen die dort lebenden Roma gehalten und Propagandamaterial verteilt. Entgegen der Dementis von Jobbik und der Garde ist es auch zu Übergriffen der Garde gegen Roma gekommen. In Galgagyörk griff die Garde ein Haus mit Steinen an, trieb die Roma-Familie unter wüsten Drohungen aus dem Haus und verbrannte deren Hab und Gut im Garten. In Ózd wurde ein ganzes Haus von der Garde in Brand gesetzt.
2008 erreichte die Gewalt in Ungarn einen neuen Höhepunkt. Insgesamt wurden seit 2008 mindestens 6 Roma bei Attacken und Anschlägen ermordet und Dutzende verletzt. Dabei kam es zu zahlreichen Anschlägen mit Molotow-Cocktails, physischen Attacken und sogar Schussattentaten. Am 3. November 2008 warfen unbekannte Attentäter Molotow-Cocktails auf zwei Wohnhäuser in Nagycsécs. Als eine Familie das brennende Haus verlassen wollte, wurde sie mit einer Schrotflinte beschossen. Ein Mann und eine Frau starben, ein weiterer Mann wurde schwer verletzt. Am 18. November warfen in Pécs unbekannte Attentäter eine Granate in das Wohnhaus einer sechs-köpfigen Familie. Dabei kamen die Eltern ums leben, die vier Kinder überlebten den Anschlag.
Als im Februar 2009 Angehörige der Roma-Minderheit in die Ermordung eines in Ungarn beliebten Handball-Spielers in einer serbischen Disco verwickelt waren, ertönte in Zeitungen und im Internet der Ruf nach Gewalt. In Magyar Hirlap wurden Roma als »mörderische Tiere« bezeichnet. Am 23. Februar kam es in Tatárszentgyörgy, die Garde hatte wenige Monate zuvor auch in diesem Ort demonstriert, wieder zu einem Brandanschlag. Als ein Vater mit seinem vierjährigen Sohn aus dem brennenden Haus fliehen wollte, wurden beide erschossen. Zwei weitere Kleinkinder erlitten Verbrennungen. Trotz der Schusswunden der Toten, Patronenhülsen am Tatort und anderen Hinweisen versuchte die Polizei, den Angriff zu vertuschen und gab einen Kurzschluss als Ursache des Feuers an. Die Opfer wären im Feuer gestorben.
Anfang März verübte eine Nazi-Zelle mit dem Namen Befreiungsarmee der Ungarischen Pfeile (eine Anspielung an die ungarischen nationalsozialistischen Pfeilkreuzler, welche maßgeblich an der Ermordung der ungarischen Juden beteiligt waren) einen Anschlag auf eine Busgesellschaft, welche angeblich Roma zu einer Demonstration befördert hatte. Die Gruppe wird auch für einen Überfall auf den jüdischen TV-Moderator und sozialistischen Politiker Sándor Csintalan im Dezember 2007 verantwortlich gemacht. Dieser wurde damals unter wüsten antisemitischen Schmähungen in einer Tiefgarage mit Eisenstangen krankenhausreif geschlagen.
Bereits vor diesen Morden und Anschlägen hatte der Vorsitzende der Roma-Selbstverwaltung Orban Kolompar über die Organisation einer Roma-Selbstverteidigung gesprochen. Anfang Februar wurde im Westen Ungarns unter Führung lokaler Vertreter der Roma eine offizielle lokale Selbstverteidigungsorganisation gegründet. Diese wird jedoch keine Uniform tragen oder Demonstrationen organisieren und soll lediglich im Falle von Aufmärschen der Ungarischen Garde und anderen Manifestationen des Volkszorns einen Beitrag zur Selbstverteidigung leisten. Dieser Schritt war nicht zuletzt aufgrund zahlreicher informeller Initiativen, wie die anfangs geschilderte Roma-Wache in Ózd, notwendig geworden.
Ein Blick auf die Situation der Roma in Europa macht deutlich, dass die Welle der Gewalt in Ungarn keine Ausnahmeerscheinung, sondern Ausdruck einer europaweiten Tendenz ist. Ungeachtet aller Appelle von Menschenrechtsgruppen und internationalen Organisationen droht im 21. Jahrhundert in Europa eine seit 1945 beispiellose Eskalation der Gewalt gegen Roma. Die Pogrome in Neapel im Mai 2008, als ein Mob aus Hunderten mit Eisenstangen, Knüppeln und Steinen bewaffneter Italiener ein Roma-Barackenviertel angriff, und der versuchte Angriff Hunderter zum Teil bewaffneter Neo-Nazis auf ein Roma Viertel in Litvinov in der Tschechischen Republik im November 2008, der nur durch massive Polizeigewalt verhindert werden konnte, sind düstere Ausblicke auf gesellschaftliche Zustände, in denen die prekären Vermittlungen bürgerlicher Gesellschaft in Auflösung begriffen sind und der Mob freie Bahn hat. Ähnlich explosiv ist die Lage in Serbien und Bulgarien. Der Hate Crime Survey 2008 weist eindringlich auf den institutionellen Rassismus als Nährboden der Gewalt hin: »In einer Situation in der lokale Verwaltung und Polizeibeamte willkürlich die Rechte der Roma verletzen dürfen, glauben andere [Zivilisten] dies ebenfalls straffrei tun zu können.« Jüngstes Beispiel dafür ist die auf einem Video festgehaltene Misshandlung und Demütigung von Romakinder auf einer slowakischen Polizeistation1.
Unter den Bedingungen der Krise und bei der Verfasstheit dieser Gesellschaft scheint die Eskalation unausweichlich. Der bellum omnia contra omnes erfährt hier seine Verwirklichung. Rumänen in Italien werden brutal verfolgt und attackiert. Rumänen in Rumänien greifen die Roma an. Rassisten und Nazis in Europa hetzen gegen Ausländer. Migranten mit islamischen Hintergrund in Belgien und Frankreich wiederum hassen »Zionisten« und greifen Juden und jüdische Einrichtungen an. Neo-Nazis im Osten Deutschlands schaffen »National Befreite Zonen«, welche Linke und Migranten mit guten Grund meiden. Gewalttätige Angriffe auf Homosexuelle in den multikulturellen Vierteln in Berlin und Hamburg heizen die Diskussion über Homophobie unter Migranten an. Auch die Gay-Parade in Budapest wurde wiederholt von ungarischen Nazis brutal angegriffen. Es ist zu befürchten, dass diese Welle der Gewalt uns noch länger beschäftigen wird.
1http://www.roma-service.at/dromablog/?p=1290
---------------------------------------------------------------------------------------------------------
European Roma Information Office: http://erionet.org
d/Rom/a blog: http://www.roma-service.at/dromablog/
EU Roma Policy Coalition: http://roma.wieni.be/home
Violence Against Roma. 2008 Hate Crime Survey: http://www.humanrightsfirst.org/pdf/fd/08/fd-080924-roma-web.pdf