Die Klasse von 2009

Philip Hautmann über das Wiener Symposium »Creative Cities. Das Versprechen der kreativen Ökonomie«.

Wie man außerhalb von Linz selten weiß, hat sich die EU für diese Stadt in diesem Jahr etwas Besonderes ausgedacht. Auch nicht unbedingt allgemein bekannt ist die Tatsache, dass die EU im Jahr 2009 das »Jahr der Kreativität und Innovation« ausgerufen und sich »Die Förderung der Kreativität für alle« auf die Fahnen geschrieben hat, eingedenk dessen, dass der so genannte »kreative Sektor« der Ökonomie — der, grob gefasst, neben traditioneller Kunst- und Kulturproduktion auch Werbung, PR, Kommunikation, Rechts- und Finanzberufe, Software-Entwicklung und Teile des Wissenschaftsbetriebs umfasst — einen immer größeren Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung einnimmt, und unter dem Stichwort der »immateriellen Arbeit« möglicherweise die Rolle des Leitsektors der Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft einnehmen könnte. Radio Ö1 hat in diesem Zusammenhang am 31.3. in Wien ein Symposium mit dem Titel »Creative Cities. Das Versprechen der kreativen Ökonomie« veranstaltet. Als Redner und/ oder Diskutanten geladen waren unter anderem der englische Soziologe Richard Barbrook, der Sozialphilosoph und Neoliberalismuskritiker Maurizio Lazzarato, der niederländische »Kreativakademiker« Geert Lovink, die deutsche Künstlerin und Feministin Marion von Osten und der Hansdampf in allen entsprechenden Gassen Diedrich Diederichsen.

Kreativität, beinhaltend die Vorstellung der creatio ex nihilo, sei zum Zauberwort der neuen Wirtschaft geworden, eröffnet Diederichsen seine Ausführungen, und transponiere in dem Zusammenhang die Schaffung von Wert und Mehrwert gleichsam aus dem Nichts, welches obendrein unerschöpflich ist — eine für das Kapital herrliche, ja, letztendlich ultimative Vorstellung. Nun, etwas überspannt wirkende Phantasien im Zusammenhang mit »immaterieller«, »kreativer« Arbeit und ihrer Verheißungen für die Zukunft findet man bei linken Theoretikern wie Hardt und Negri auch. Tatsache ist aber, dass allen Unkenrufen oder Einwänden zum Trotz, wonach unter dem Titel »Kreativarbeit« zu einem guten Teil bloß alter Wein in neuen Schläuchen verkauft werden würde, sich dieser Sektor bereits materialisiert hat und Gestalt annimmt — in Form von Ausbildungseinrichtungen, Lehrplänen, Stadtentwicklungskonzepten, Projektvergaben, Förderungen und eben auch dem »Jahr der Kreativität«, das die EU ausgerufen hat. Vor allen Dingen aber dahin gehend, dass der kreative Sektor laut dem US-Ökonomen Richard Florida seit dreißig Jahren einen stetig wachsenden Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung einnimmt, seine Trägerklasse, die »Kreative Klasse«, also einen stetig wachsenden Anteil des Bruttoinlandsproduktes hervorbringt. Florida, in Bezug auf das allgemeine Thema ein Referenztheoretiker, glaubt daran, dass die »Creative Class« die treibende Klasse des Wirtschaftslebens der Zukunft sein wird, in einer dann tatsächlich »postindustriell« gewordenen Gesellschaft, ähnlich wie Marx das Industrieproletariat in seiner damaligen Keimform als Avantgarde des Kapitalismus identifiziert hat.
Avantgarde des Kapitalismus ist (oder war) jedoch nicht allein die Arbeiterklasse, sondern auch das Bürgertum, der Unternehmer, avantgardistisches Prinzip die Dialektik zwischen beiden Klassen. Das Komplizierte an der Kreativen Klasse ist jedoch, so stellen alle Redner und Diskutanten ausnahmslos fest, dass sich in ihr traditioneller Arbeiter/Lohnempfänger und traditioneller Unternehmer verwischen und die tatsächlichen Klassengrenzen unscharf werden. Von Ich-AGs ist sie vorrangig bestimmt, die sich in »Netzwerken« bewegen, auf Projektbasis arbeiten, einmal angestellt sind, einmal selbstständig und wieder ein anderes Mal selbst Leute anstellen, oftmals die, für die sie früher einmal gearbeitet haben. Gemeinsamer Nenner ist, dass sie in aller Regel schlecht verdienen, mangelhaft sozial abgesichert sind, in eine ungewisse Zukunft blicken, und dass die Jungen, die von unten nach oben drängen, immer mehr werden. Und dass den Rahm des Mehrwerts, den großen Profit, nur wenige abschöpfen, meistens die großen Unternehmen der Kulturindustrie. Wie Richard Barbrook meint, lässt sich anhand der modernen Kreativen ein weiterer epochaler Wandel in der Bestimmtheit von Arbeit und der Bestimmtheit von Arbeitsverhältnissen feststellen. So lebte das klassische Industrieproletariat von fremdbestimmter Arbeit in fremdbestimmten Arbeitsverhältnissen. Die Arbeit des fordistischen Industrieproletariats war zwar ebenfalls fremdbestimmt, die Arbeitsverhältnisse jedoch durch vergleichsweise hohe Löhne und materielle, soziale und ideelle Absicherung geprägt. Die Kreative Klasse scheint das Ideal der selbstbestimmten Arbeit für sich verwirklicht zu haben, die Arbeitsverhältnisse scheinen dem entgegen wiederum deprimierend und prekär.

Was macht diesen Lebensentwurf dennoch attraktiv? Ist es die Hoffnung, aus dem Hobby einen Beruf zu machen? Die Hoffnung auf Star-Ruhm? Das »Eigenblutdoping«, wie Diederichsen meint? Oder ist es schlicht und einfach ein Mangel an Alternativen innerhalb einer Gesellschaft, in der Arbeitsplätze rar geworden sind? Wenn ein ganzer Schwarm Menschen einem Lebensentwurf folgt, der am ehesten der des selbstbestimmten und eben auch für sich selbst verantwortlichen Künstlers gleicht, was wird dann aus der Kunst? Maurizio Lazzarato ist besorgt, und sieht an der Kreativen Klasse ein schlagendes Beispiel und eine schlagende Verdeutlichung für die Auswirkungen neoliberaler Regulation. Ein bisschen Entlohnung/Bezahlung und soziale Inklusion durch Apparate von oben (dazu zählt er auch die Staatsapparate), um sich die Subjekte verwertbar zu halten und den Wert ihrer Arbeitsleistung abzapfen zu können, ansonsten den Wettbewerbsdruck hoch halten und die Zeithorizonte verkürzen, was als Nebeneffekt längerfristige Anstrengungen aller möglichen Art unterminiert. »Im Wesentlichen ist der Neoliberalismus eine Regulation der Zeit«, so eine der Kernthesen von Lazzaratos Vortrag, und recht mag er haben, denn gefährlich und umstürzlerisch scheinen die Massen nicht allein zu werden, wenn sie von allem zu wenig haben, sondern wenn der Druck der Verhältnisse sich lockert, so hat man es zumindest in den sechziger und siebziger Jahren bemerken können. Innerhalb dieser Verkürzung der Zeithorizonte sieht Lazzarato auch den eigentlichen Kern der Kunst und überhaupt der wahren Selbstverwirklichung gefährdet und zunehmend prekarisiert, und so spricht er eben auch von »wirtschaftlicher und subjektiver Verarmung im Neoliberalismus«. Neu ist eine derartige Vermutung freilich nicht, vollinhaltlich richtig wohl auch nicht, aber eben wohl auch nicht falsch. Kunst, oder allgemeiner Information, ist allerdings immer zu einem Teil und inhärent eine Ware (und sobald man erfolgreicher Künstler ist, hat man ja selten was dagegen), und an subjektiver Verarmung ist nicht nur ein Neoliberalismus schuld.

Wenn wir, um den Gedanken von Barbrook fortzuführen, bei einem Leitbild selbstbestimmter Arbeit angekommen sind, gleichzeitig im Hinblick auf die Bestimmtheit der Arbeitsverhältnisse offenbar einen Rückschritt erlebt haben — wie, lautet die große Frage des Symposiums, können auch die Arbeitsverhältnisse selbstbestimmt gemacht werden? Eine Frage, die sich nicht allein vergleichsweise abstrakt stellen lässt, bezogen auf soziologische Konzepte eines »Post-Postfordismus«, sondern konkret im Hinblick auf die scheinbare Aussichtslosigkeit in unserer Gesellschaft, durch ein »Weiter so!« jetzt und in Zukunft wieder für vernünftige Arbeitsverhältnisse sorgen zu können, und dringend, nachdem der Neoliberalismus an der durch ihn selbst provozierten Krise als Leitideologie zerschellt ist. Auf jeden Fall scheint eine gehörige Anstrengung damit verbunden. Wird die Aufforderung und Durchsetzung dieser Selbstbestimmtheit selbstbestimmt passieren? Oder wird sie von oben verordnet werden? Ist das marxistische Leitbild revolutionärer gesellschaftlicher Veränderungen durch die Amalgamierung von Arbeiter und Unternehmer in der kreativen Ich-AG antiquiert und seines dialektischen Stachels beraubt? Oder leben wir, wie Marx vorausgesagt hat, tatsächlich in einer Epoche, wo die fortwährende Konzentration des Kapitals eine Prekarisierung immer weiterer Teile nicht nur der Arbeiter- sondern auch der Unternehmerschaft zur dialektischen Kehrseite hat, also in der Endstufe des Kapitalismus, der dann einer anderen Ordnung Platz macht? Bekannt ist immerhin, dass die Frage nach der gewerkschaftlichen Organisierung und der sozialen Inklusion der Kreativarbeiterschaft auch die EU beschäftigt. Ob sie die Avantgarde einer Wirtschaft der Zukunft ist, wird sich zeigen. Auf jeden Fall ist die Kreative Klasse ein schönes Sinnbild der guten und auch weniger guten Aspekte der Gegenwart.

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