Neues vom geistigen Nadelstreif

Oder Herr Kehlmann rechnet mit Brecht ab. Von Erwin Riess.

Jahrelang galt er als der Vorzugsschüler der deutschsprachigen Literatur. Aufgeweckt, beflissen, mit guten Manieren und mittlerem Talent versehen, geriet er mancher Talkshow zur Zierde. Seine Beiträge zu Fragen der Literatur und Kultur zeugten von höherer Bildung und fleißiger Lesearbeit. Daß er, wenn er Stellung bezog, jene in tiefer Deckung bevorzugte, und sich in arrogierter Altersweisheit zwischen Vorsicht und Abwägung nicht entscheiden konnte, nahm man zuerst verwundert und später gelangweilt zur Kenntnis. Da sprach ein junger, gutaussehender Mann, der so gar nichts von einem jugendlichen Stürmer und Dränger hatte und statt dessen eine satte Zufriedenheit mit dem Bestehenden nicht nur ausstrahlte sondern recht eigentlich verkörperte. Mittlerweile hat Daniel Kehlmann nicht nur an Jahren und Reputation zugelegt, er hat auch an Statur gewonnen. Er nimmt jetzt Stellung. Und er hält sich dabei nicht mit unbedeutenden Zeitgenossen auf, sondern tritt mutig verstorbenen Größen entgegnen. Daniel Kehlmann bezieht Stellung zu Bertolt Brecht, dem Theatermann und er tut dies, indem er über Brecht herzieht.

»Er ist … der Autor eines in jeder Hinsicht gewaltigen Lebenswerks, ein Theoretiker, der die Welt in klar definierter Weise verändern wollte«, schreibt er in einem Text, den er zur Eröffnung des letztjährigen Brecht-Festivals in Augsburg vortrug1. Im Kleid eines Dutzendlobs einen plumpen Anwurf zu insinuieren – wenn einer ein Theoretiker ist, kann es mit seiner Kunst nicht weit her sein – ist zwar nicht sonderlich elegant, beim Augsburger Publikum verfehlte es aber seine Wirkung nicht. Der geschraubten Verbeugung folgt die Abrechnung mit dem politischen, dem asozialen Brecht, auf dem Fuße. Und siehe da: der ruhige und gelassene Kehlmann, der immer ein wenig blasiert und leicht versnobt wirkende Musterdichter, glüht auf einmal vor Leidenschaft. Angesichts eines toten Kommunisten redet sich der Mustergültige, dem man auch nicht die kleinste Verwaltungsübertretung zutrauen mag, in Rage. Vom Furor mitgerissen, vergißt er sogar seine gute literarische Kinderstube und wälzt sich in abgestandenen Phrasen.

»Und bevor wir uns wohlfeilen Phrasen überlassen, sollten wir einmal deutlich aussprechen, welches Glück wir haben, alle von uns, jeder Einzelne, daß die Welt nicht so geworden ist, wie er sie sich gewünscht hat, denn die seine würde keine freien Wahlen kennen, keine Meinungsfreiheit, keine Freiheit, dorthin zu gehen, wohin man will.«

Wenn der Spießbürger beim Herrenausstatter Kriegsbemalung anlegen läßt und sich in den alle paar Jahre abgehaltenen Kreuzzug für Freiheit und Democracy einreiht, trägt er stolz seinen Kriegstornister vor sich her. Der ist prall gefüllt: mit ranzigen Meinungen und schmierigen Tricks. Kehlmann spricht nicht für sich, er igelt sich in der Mehrzahl ein. Nicht erst seit Adorno ist bekannt, daß es ein untrügliches Kennzeichen der autoritären Persönlichkeit ist, in der Mehrzahl zu argumentieren. Der Anrufung an das imaginierte »wir« folgt die appellative Verknappung. »Alle von uns, jeder einzelne« steht in der Pflicht. Nach dem Griff an die Gurgel folgt schließlich als dritter Schritt das Geschenk der vielen Freiheiten. Die freien Wahlen, die freie Meinung, die freien Reisen. Freiheiten, wohin man schaut. Im Supermarkt der freien Welt mit seiner Profitgier, seiner Ausbeutung, seiner Existenznot. Zahl drei, nimm zwei, glaub eins, krieg keins.

Dem ersten Schlag läßt Kehlmann eine Breitseite folgen.

»In jedem großen Religionskrieg der Sowjetunion gegen ihr eigenes Volk, einem Krieg, in dem nur eine Seite bewaffnet war … stand er (Brecht, Anm.) zuverlässig bei denen, die die Religion hatten und die Maschinengewehre.«

Die frühen Talibans der zentralasiatischen Republiken in den zwanziger Jahren, die Frauenbildung für ein Verbrechen anschauten, aufklärerische und moderate Figuren allesamt, wurden von der bösen Sowjetgewalt dazu gezwungen, vom Erschlagen und Ertränken von Schulmädchen Abstand zu nehmen. Ähnliches spielte sich in wechselnden Konstellationen im Kampf gegen die weißen Faschisten der Ukraine und am Don, den Petljuras und Denikins, Atamanen und Großfürsten ab, die keinen Grund sahen, daß die Dorfarmen und Stadtproleten ihnen nicht weiterhin als Sklaven dienen sollten.

Kehlmann aber weiß, auf welcher Seite er steht. Und fährt mit dem Scharfblick eines psychologisierenden Richters fort:

»Immer wieder sehen wir bei Brecht dieselben dialektischen Rechtfertigungsgebilde: Galilei, der eben nicht dorthin geht, wo alles zum Besten steht, sondern dorthin, wo er gebraucht zu werden meint; jener gute Mensch von Sezuan, der ein böser Mensch werden muß, weil die Dinge eben so sind und es anders nicht geht; der Richter vor dem Kreidekreis, der zwar bestechlich ist, aber hintenherum das Gute fördert. Immer jene brillant wendungsreichen Fabeln, in denen ein Autor sich mit sich selbst wie mit seinen Zuschauern ins Benehmen darüber zu setzen sucht, daß man sehr wohl auf der Seite der Täter stehen könne, ohne doch einer von ihnen zu sein, daß man in der Tat Loblieder auf den Diktator verfassen dürfe, ohne doch als vollgültiger Anhänger gelten zu müssen, kurz, daß es nicht unbedingt ein Widerspruch sei, die Sowjetunion zu unterstützen und Moskau doch so schnell wie möglich … zu verlassen.«
Die Dialektik ein fauler Zauber, Galilei ein verschlagener Unhold, Brecht ein zwielichtiger Dichter, dessen Texte gegen ihn gekehrt werden müssen. Der primitivste Ladenhüter der Rezeptionsgeschichte – die bösartige Vermengung von Leben und Kunstwerk – hier tritt er in reiner Form auf, gilt es doch, die bösen Linken jetzt, da die Nachfrage nach ihren Irrlehren wieder größer zu werden droht, ein für allemal auszulöschen.
»Denn sie meinten ja bloß, gegen die Macht zu stehen, in Wirklichkeit
– er meint: in Wahrheit
waren sie auf deren Seite und sicher unter ihrem Schirm: Brecht, der Stalin lobte, Neruda, … Sartre, … Aragon…« und wie die das Kommunistenpack so heißt
und hinter ihnen die Millionen Toten sowie all die Abertausenden gestohlenen, hinter Mauern und in Gefängnissen zugebrachten Leben«.
Kehlmann redet nicht von den deutschen Herrenmenschen und ihren Ausritten in den endlosen Osten, von ihnen redet der noble Herr nicht. Er redet vom hinterhältigen, vom asozialen Brecht. Der asoziale Brecht ist in Wahrheit ein antibürgerlicher Brecht. Der Bürger kann sich eine Sozietät nur als bürgerliche vorstellen, folglich gelten ihm all jene, die diesen flachen Horizont verlassen, als asozial. So wie Herr Kehlmann ein überzeugter Bürgerlicher ist, war Brecht ein leidenschaftlicher Antibürger. Der Bürger Brecht hat, sobald er denken und fühlen konnte, seine Klasse gewechselt. Herr Kehlmann wechselt höchstens sein Hemd.
»Nein, wir sind nicht klüger als sie …«
Sagt der Mann, den Klugscheißer zu nennen, die Sache verharmlosen würde
aber rückblickend sollten wir auch nicht den Schrecken leugnen und tun, als wären sie klüger gewesen, als sie waren.«
Selbstgerecht sitzt Herr Kehlmann zu Gericht über jene, die als Kämpfen-de in die großen Widersprüche der Zeit verstrickt waren. Er befleißigt sich einer im Eisler´schen Sinn dummen, weil ahistorischen Haltung. Er benimmt sich wie ein Tennisschiedsrichter, der weder die Regeln kennt, noch das Spielfeld überblickt und panische Angst davor hat, den Ball an die Birne zu kriegen. Er lebt den ewigen Phantomschmerz der deutschen Bourgeoisie. Nie wird sie darüber hinwegkommen, daß es die ungehobelten Proleten des Ostens waren, die den kunstbeflissenen Mordgesellen des deutschen Bürgertums Manieren beibrachten.
Daß Fragen zu den Stalin´schen Prozessen, den Verbrechen innerhalb der kommunistischen Welt, Fragen nach Verantwortung, nach Schuld und Scham zentrale Fragen sind, versteht sich von selbst. Nicht nur Peter Weiss hat versucht, sie in ihrer Entsetzlichkeit und in ihrer Historizität zu verstehen. Es braucht da keine Nachhilfe, schon gar nicht von Feinden all dessen, wofür Bertolt Brecht geliebt und gearbeitet hat.
»Wir können seiner gar nicht anders gedenken, als wie er es wollte und vorausswußte: mit Nachsicht«, sagt Kehlmann gnädig zum Abschied. Und hört die Antwort, die Hans Albers ihm gibt: »Doch wollt ihm einer irgend etwas/ und das gefiel ihm nicht sehr/ dann räumte er einfach die Bude aus/ und beendete den Verkehr.2«

Anmerkungen:

1 Süddeutsche Zeitung, 19./20. Juli 2008
2 Hans Albers, »Käpt’n Bay-Bay aus Shanghai«

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