Vor dem Weingut
Das Weingut Göttlicher lag an einer steil ansteigenden, engen Straße in Wien-Nußdorf. Sie war zu beiden Seiten von abstoßenden Biedermeier-häusern gesäumt. Hin und wieder unterbrach eine Villa aus den letzen Jahrzehnten die Ensembles, aber die Abweichungen vom Ortsbild eines reich gewordenen Winzerdorfs waren dezent und zeugten von Wohlstand. Wenn Bürger allzu lange im Reichtum schwimmen, werden ihre Bewegungen kraftlos, und die Kreise, die sie ziehen, immer kleiner, bis sie sich schließlich nur mehr um sich selbst bewegen. So auch hier. Die rekonstruierte Dorfstraße zeugte vom intellektuellen Niedergang der Anwohner: Die Asphaltstraße war in eine Gasse mit hohem Kopfsteinpflaster zurückgebaut worden. Mit dem Rollstuhl war hier kein Weiterkommen. Uns blieb nichts anderes übrig, als durch das geöffnete Tor in Göttlichers Weingut einzufahren. Das Fahrrad des Dozenten, welches auf der Rücksitzbank befestigt war, ragte aus dem geöffneten Dach hervor. Ich hätte es vorgezogen, den Wagen in der Nähe zu parken und mich ein wenig umzuschauen. Außerdem hatten wir in einer Sackgasse einen braunen Maserati gesehen, einen jener Sportwagen, die selbst in den bürgerlichen Bezirken Wiens nicht zum Alltag zählten. Der Primar mußte bei den Göttlichers sein, und der Umstand, daß er seinen Wagen nicht im Weingut parkte, ließ darauf schließen, daß er etwas zu verbergen hatte. Den asphaltierten Innenhof begrenzten Haselnußsträucher und Fliederbüsche, dazwischen führte ein ausgetretener Weg in den Rücken des schönbrunngelb gefärbelten Gebäudes. Ich holte Joseph aus dem Wagen, der Dozent stellte sich neben mir auf. Er hatte mein Sakko an, das für ihn viel zu weit war. In die innere Brusttasche hatte er Wintersocken von mir gestopft. Es sah aus, als führte er eine großkalibrige Feuerwaffe mit sich. Eine dunkle Sonnenbrille sowie ein Stecktüchlein komplettierten seine Erscheinung. Das Stecktüchlein war ein schwarzes Höschen von Anita. Wir standen einige Minuten und warteten. Als niemand erschien, schaltete ich die Zündung ein und drehte das Autoradio auf höchste Lautstärke. Nach schweren Unwettern in Westösterreich nähere sich der Stadt eine Flutwelle, sagte ein Sprecher, die Schleusen zum Entlastungsgerinne der ohnehin vom Schmelzwasser in den Bergen hohen Donau würden noch in der Nacht geöffnet. Ich dachte an Horst und Juri und tröstete mich mit dem Gedanken, daß ihre Hütte für ein fünfzigjähriges Hochwasser ausgelegt war. Der Lärm zeitigte keine Wirkung, das Weingut wirkte wie ausgestorben. Ich erinnerte mich eines Ratschlages von Wenzel Schebesta und wechselte den Radiokanal. Der sogenannte Kultursender bringe entweder Religionssendungen oder Wagner-Musik, hatte er gesagt. Und tatsächlich kündete ein vergeistigter Sprecher eben den dritten Akt einer Germanensaga an. Mit dem Namen Wagner verbinde ich entweder Turl Wagner, einen Stürmer des Wunderteams, oder Wagners Steinofenpizza. Die Musik war für mich einigermaßen ungewohnt. Es handelte sich um ein auf- und abschwellendes Geraune, das von einem röhrenden Hirsch überlagert wurde. Man erkenne österreichische Bildungsbürger daran, daß sie bei Wagner-Musik aus ihren Löchern gekrochen kommen, um gemeinsam geistig in die Knie zu gehen, hatte Schebesta erklärt. Tatsächlich erschien jetzt eine klein gewachsene, etwas füllige Frau. Ihr Haar war schwarz, wodurch der Erscheinung ein gewisses mediterranes Flair zuwuchs. Sie ging aber keineswegs in die Knie, weder körperlich noch geistig. Wer man sei und was man hier wolle, fragte sie mit einer resoluten Stimme, von der der Dozent später behauptete, es handle sich um einen brünnhildschen Alt. Das Weingut sei geschlossen, verkündete die Frau. Man möge sich telefonisch an die Marketingabteilung wenden. Man sei auf der Suche nach dem Besitzer, erwiderte ich höflich. Es gehe um eine geschäftliche Angelegenheit. Herr Göttlicher sei nicht im Haus, antwortete die Frau.
»Da Sie offensichtlich zu den leitenden Dienstboten in diesem Anwesen gehören, denn so benehmen Sie sich in Ihrer Gastfreundschaft«, fuhr ich fort, »frage ich Sie nochmals, ob Herr Göttlicher nicht vielleicht doch in irgendeinem Winkel dieses Schuppens aufzufinden ist. Und für den Fall, daß er tatsächlich nicht da ist, was mein Freund und ich nicht recht glauben können, weil da drüben der Wagen des Herrn Göttlicher steht, hätten wir gern gewußt, wann mit seiner Rückkehr zu rechnen ist.«
Der Dozent hatte mich mit einer knappen Handbewegung auf einen
anthrazitgrauen Benz aufmerksam gemacht, der halb von einem Weingartentraktor verdeckt wurde.
Sie sei kein Dienstbote, sondern Hermine Göttlicher, die Gattin des Hausherrn, erklärte das dunkelhaarige Geschöpf. Sie führe auch die Geschäfte. Ihr Gemahl sei mit dem Geländeauto im Gelände. »Dort gehört er auch hin«, fügte sie hinzu.
»Es geht um gewisse Vorkommnisse bei einem Herrenabend«, sagte ich. »Eine Routinesache. Sie kennen das ja.«
Sie kenne das mitnichten, hieß es. Und sie habe bereits erwähnt, daß der Mann nicht da sei. Des weiteren habe sie keine Ahnung von einem Herrenabend, sie führe nämlich eine glückliche Ehe und verbitte sich Störungen jeder Art. Außerdem spende sie für »Licht ins Dunkel«.
Den Tonfall kannte ich nur zu gut. Hin und wieder tauchen beim Binder-Heurigen hochgestellte Personen aus den vermögenden Kreisen der Stadt auf. Sie kämen nicht so sehr der exzellenten Backhühner, sondern der, wie sie sagen, unvergleichlichen Atmosphäre wegen. Nach dem dritten Viertel verbrüdern sich die näselnden Herrschaften dann mit dem Floridsdorfer Proletariat und sind von ihrer Volksnähe ganz besoffen. Hermine Göttlicher betrachtete den Dozenten eingehend.
»Könnte es sein, daß wir uns vor nicht allzu langer Zeit bei einem Vortrag im Rathaus gesehen haben? Es ging, wenn ich mich recht erinnere, um spirituelle Aspekte der Quantentheorie.«
Der Dozent reagierte nicht.
»Mein Assistent besucht keine Vorträge«, sagte ich. »Er ist vom Lago di Pergusa bei Enna in Kalabrien. Es gibt dort keine Vorträge.« Ich wußte sehr wohl, daß der See irgendwo zwischen Palermo und San Cipirello an der sizilianischen Autostrada lag. Ich wollte Frau Hermine nur auf ihre Weltläufigkeit testen. Sie fiel auf den Trick nicht herein und würdigte mich keiner Antwort.
»Arrivederci, die Herren«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Da antwortete der Dozent, und zwar in fließendem Italienisch, das von ihr wie selbstverständlich beantwortet wurde. Ich überlegte kurz, ob ich ein paar Brocken Polnisch einwerfen sollte, die ich von einem Tankstellengehilfen an der Brünner Straße aufgeschnappt hatte. Hermine Göttlicher hatte sich aber bereits zurückgezogen.
Wir räumten das Feld. Weder hatte ich Göttlicher angetroffen, noch hatte ich die Nachricht von der angepaßten Erpressungssumme überbracht. Die Sache schien doch nicht so einfach zu sein, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Vielleicht waren meine Kenntnisse über die herrschende Klasse doch ein wenig schematisch. Für ein paar Momente dachte ich darüber nach, ob man die Göttlichers wohl zur Bourgeoisie rechnen mußte oder ob sie doch noch zur besitzenden Mittelschicht zählten. Das Weingut schien zwar nur wenig Angestellte zu beschäftigen, aber im Hof waren auch zwei Lieferwagen mit der Aufschrift »Göttlich guter Wein vom Weingut Göttlicher« gestanden. Das in Schreibschrift gehaltene Emblem war mit Weinreben umrankt und zeugte von der kreativen Brillanz einer Werbeagentur. Mit Hilfe der Lastwagen wurde wohl die österreichische Gastronomie versorgt. Wer sich eine Werbeagentur und Lastkraftwagen leisten konnte, mußte unter den kleinbürgerlichen Mittelschichten zu den oberen Rängen gehören. Ich erinnerte mich einer Bemerkung von Engels in einem Brief an Marx, derzufolge das Kleinbürgertum der verkommenste Haufen sei, der je in die Geschichte gespuckt habe. Der alte Schebesta zitierte den Satz immer wieder, wenn er reaktionäre Äußerungen von Heurigengästen hörte. Wenn die Arbeiterklasse sich auflöst und die Bourgeoisie zur Lumpenbourgeoisie verkommt, hat die Diktatur der Klein- und Spießbürger begonnen, sagt Schebesta. Es ist dies eine gesellschaftliche Formation, die sich durch Größenwahn, Fremdenfeindlichkeit und einen bis ins Religiöse gesteigerten Provinzialismus auszeichnet. Schebesta läßt keinen Zweifel daran, daß Österreich seit den späten achtziger Jahren in diesem Stadium der Fäulnis angelangt ist. Und zu all dem kommt noch eine hartnäckige Intellektuellenfeindlichkeit. Zwar hatte der alte Schebesta nicht einmal einen Hauptschulabschluß, infolge seiner jahrzehntelangen Privatstudien und der Schlußfolgerungen, die er daraus und aus der Kenntnis der Floridsdorfer Wirklichkeit zog, mußte er aber als Großintellektueller angesprochen werden. Schebesta zufolge sei der Status eines Intellektuellen an Universitäten nicht zu erwerben, ein abgeschlossenes Studium besage nichts. Mehr noch. In den meisten Fällen gingen von den Universitäten halbgebildete Fachidioten ab, die sich mit ihren beschränkten Fähigkeiten der herrschenden Klasse andienten. Nur in seltenen Glücksfällen geselle sich zu einem Universitätsstudium auch ein unabhängiger Geist, der offen für Neues sei. Die wenigen, die in diesem radikalen Sinne als wirkende Intellektuelle anzusprechen seien, kämen entweder, so wie er, aus illiteraten Verhältnissen, oder aber sie stammten aus der Großbourgeoisie und hatten, wie Engels, Brecht, Castro und Mandela, schon früh die Klasse gewechselt. Daß Schebesta sich so selbstverständlich in die Reihe der Großen einordnete, zeugte von scharfer Analyse und einer daraus resultierenden Unerschütterlichkeit seines Charakters. Man solle einen Gedanken nicht deswegen gering schätzen, weil man selber ihn hat, pflegt Schebesta zu sagen. Allerdings gelte das nur für jene Köpfe, die in der Weltgeschichte, der Philosophie und vor allem der politischen Ökonomie drei Studienjahrzehnte zugebracht hätten und nicht nur mit den Klassikern des Sozialismus, sondern auch mit den herausragenden Denkern der Moderne auf Duzfuß stünden. Einzig vor diesem Hintergrund kann Schebestas Verachtung für die Sozialdemokratie verstanden werden. Dieser unterstellte Schebesta eine perfide Strategie. Sie habe die revolutionäre Arbeiterschaft mit wiewohl notwendigen, so doch zeitlich längst überfälligen Sozialgesetzen abgespeist. Gleichzeitig habe sie aber ihren politischen Willen gebrochen, indem sie das Zu-Kreuze-Kriechen vor Kanzel, Kapital und Kronen Zeitung zur höchsten Tugend der niederen Stände erhob. Dieserart seit Jahrzehnten paralysiert, sehe die zerzauste Klasse sich nunmehr dem Wüten der Finanzmärkte schutzlos ausgeliefert. Zutiefst verunsichert werfe sie sich aus Trotz und Verzweiflung in die Arme von Totengräbern all dessen, was von ihr einst als würdevolles und solidarisches Leben erstrebt worden war. Von Selbsthaß, Xenophobie und Rechtsextremismus infiziert, sei die österreichische Arbeiterschaft zum Spielball der besitzenden Klassen verkommen. Daß ihre Partei immer noch Kanzler und Minister stelle, sei nur Ausdruck des Elends. Müßig zu sagen, daß Schebesta in diesen Befund auch die umtriebigen Dienstleister der kulturellen Industrien einschloß. Für diese Schicht hatte Schebesta nur Spott und Häme übrig. War er gut gelaunt, nannte er diese Herrschaften »akademisches Kulturgesindel«, war seine Stirn vom extensiven Studium der Klassiker zerfurcht, nannte er sie »Wesen, die fortwährend auf ihren eigenen Schleimspuren ausrutschen.« Die Lage ist schlimmer, als sie sich uns derzeit zu erkennen gibt, sagt Schebesta. Wir tun folglich gut daran, optimistisch in die Zukunft zu schauen. So widerwärtig die Renegaten der Arbeiterklasse in Sozialdemokratie und Gewerkschaft auch seien, politische Hüllen, die sich dem Abzocken und Intrigieren verschrieben hätten, so wertvoll seien die wenigen seriösen Überläufer der herrschenden Klasse für den gesellschaftlichen Progreß. Ihnen sei es zu danken, daß kommende Lokführer der Geschichte ihr Neuerungswerk nicht im Zustand der Bewußtlosigkeit beginnen müßten. Schebesta liebte dieses antiquierte Bild von der Revolution, vor allem deshalb, weil Züge über die Fähigkeit verfügen, sich auf derselben Schiene vor und zurück zu bewegen. Außerdem war Schebestas Vater einst Schlosser in der Floridsdorfer Lokomotivfabrik gewesen, deren Belegschaft die Geschichte Österreichs in den Jahren vor dem und während des Ersten Weltkriegs sowie in den dreißiger Jahren und in den Wochen des Oktoberstreiks im Jahr 1950 maßgeblich prägte. Schebesta liebte die Revolution, er war aber nicht blind für ihre Irrwege. Die Dialektik lehre nämlich, daß so manches, was als Revolution beginne, in finsterer Rückschrittlichkeit ende. Über diese Katastrophen, die sowjetischen Lager, den Terror der Kulturrevolutionäre in China und die Todesfelder Kambodschas, konnte Wenzel Schebesta ganze Abende ohne Unterbrechung dozieren, bis er erschöpft in ein unendlich trauriges Schweigen verfiel. Und doch komme die Geschichte ohne Revolutionen nicht aus, sagte der alte Schebesta dann ein paar Tage später mit Leidenschaft. Im gesellschaftlichen Prozeß würden Neuerungen sich letztlich immer nur durch Umstürze vollziehen. Die Vorstellung einer gedeihlichen und stetigen Entwicklung der Menschheit zum Höheren gab Schebesta der Lächerlichkeit preis. Wer als Ziel das Fortwursteln des Immergleichen propagiere, bereite künftigen Eruptionen den Weg. Je unbeweglicher die Verwalter des Status Quo sich gebärdeten, desto mächtiger die folgenden Massenerhebungen. Zwar könne dieser Kreislauf zwischenzeitlich auch faschistische Ausprägungen umfassen, in the long run – Schebesta flocht gern englische Wendungen in seine Betrachtungen ein, weil die Korrespondenz zwischen Marx und Engels ihn mit Haut und Haar erfaßt hatte – seien aber auch diese nur ein Durchgangsstadium zur nächsten Umwälzung. Ob diese Lokomotive dann vor oder zurück fahre, bleibe offen. Wenzel Schebesta war ein brillanter Kopf, über die Großbourgeoisie hatte er aber keine praktischen Kenntnisse. Durch meinen aktuellen Fall war ich dabei, ihn auf diesem Gebiet zu überholen. Dennoch galt: ein Intellektueller wird erst dann zu einem Großintellektuellen, wenn er Schüler heranzieht. Der große Schebesta hat nur einen Schüler, der aber ist von exemplarischem Talent, vereint er doch rasche Auffassungsgabe und Prinzipienfestigkeit mit der Kühnheit des Handelns. Es wird Zeit, daß die Menschheit dies zur Kenntnis nimmt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stand fest: Der Dozent war ein Bourgeois, aber er fungierte nicht als solcher. Viel Schaden erwuchs der Menschheit aus seiner Existenz nicht. Vielleicht würde es mir möglich sein, den Dozenten über die soziale Frage aufzuklären. Vielleicht könnte ich ihn zu meinem Schüler machen.
Erwin Riess liest aus seinem neuen Roman am 16.April, 20.00 Uhr in der Stadtwerkstatt