»Das neue Wörterbuch des Teufels«
In Versorgerin #100 rezensierte Lisa Bolyos Richard Schuberths dreibändige, bisweilen satirische Werksammlung »Rost und Säure« (Drava Verlag). Nun liegt sein neues Buch vor.
Seit ca. 2008 schrieb Schuberth am Neuen Wörterbuch des Teufels. Das Lexikon lehnt sich an Ambrose Bierces Aphorismensammlung Devil’s Dictionary an, weist aber auch andere Aphoristiker als Inspirationen aus: allen voran Jonathan Swift, Georg Christoph Lichtenberg, Friedrich Nietzsche, Oscar Wilde, Karl Kraus und Theodor W. Adorno. Ambrose Bierces Spur verlor sich Anfang 1914 in den Wirren der Mexikanischen Revolution. 100 Jahre später bringt der Klever Verlag Das neue Wörterbuch des Teufels heraus – »Miniaturgemeinheiten zum Andenken gegen die Gemeinheit der Welt«. Nicht nur ein lexikalischer Teil befindet sich darin, sondern auch Essays über Karl Kraus und Ambrose Bierce sowie ein etwa 30-seitiger zwischen Essay und Aphoristik changierender Text, in dem Schuberth auf eigenwillige Weise zur Verquickung von Sprachwitz und linker Praxis aufruft. Mit freundlicher Genehmigung des Autors drucken wir eine kurze Blütenlese seiner aphoristischen Paragraphen ab.
Aphorismus Physiotherapie zur Heilung von geistigen Haltungsschäden. Wie ein Schmetterling umflattert der Aphorismus den Erkenntnisapparat des Menschen und foppt dessen starre Haltungen, Standpunkte und Positionen. Diesem gelingt es zwar nicht, des Schmetterlings habhaft zu werden, beim Versuch aber wird er geistig flexibler.
Armutsbekämpfung Brot für die Armen, damit sie uns den Kuchen nicht wegessen.
Arschloch Tunnel, in den die Karriereleiter führt und an dessen Ende es kein Licht gibt.
Asylant Flüchtling auf der Suche nach einem lebenswerten Leben in reichen Ländern, das ihm nur gewährt wird, wenn er nachweisen kann, dass er auf deren Müllhalden, die er zuvor bewohnt hat, ermordet wurde.
ausgeglichen Eigenschaft, welche den Verlust der Eigenschaften anzeigt; das Glätten aller Verwerfungen, Widerstände und Buckel unseres Bewusstseins, damit sich der freie Verkehr der Waren und Meinungen ohne Reifenplatzer über uns wälzen kann. Du wirkst viel ausgeglichener als früher – so begrüßen unsere Freunde auch uns dereinst triumphierend im Reich der platten und geplätteten Seelen.
Außenseiter Jemand, der die Außenseiten unserer Gefängnisse kennt und den wir deshalb nie und nimmer reinlassen dürfen.
Cannabis Völlig überschätzte Droge, deren Bedenklichkeit allein darin liegt, dass ihre Harmlosigkeit auf ihre User abfärbt. Eine leichte Cannabisvergiftung zeigt sich in blödem Grinsen, eine mittelschwere in grundlosem Kichern, eine schwere jedoch – und ab dann sind bleibende Schäden nicht auszuschließen – im Absondern kalauernder Experimentallyrik.
Celebrity In buntes Zeitungspapier gewickeltes und blitzlichterhitztes Gammelfleisch, das den kleinen Würstchen die Illusion des unverwursteten Lebens vermitteln soll.
Chefredakteur Ein mit Verantwortung und Sitzfleisch ausgepolstertes Magengeschwür, das die tägliche Meinungsmakulatur, die es und seine Zeitung produzieren, mit gewichtigen Leitartikeln zum Weltenlauf parieren will. Diese monolithischen Eier, die der Chefredakteur unter dem Druck des Redaktionsschlusses täglich oder wöchentlich gebiert, um die Ewigkeit daran zu erinnern, dass auch er was abzudrücken hatte, geraten jedoch in der Regel mehr schwerfällig denn gewichtig, weshalb sie schneller im Sumpf des Vergessens versinken als die aktuelle Ausgabe selbst, die zumindest eine passable Sportseite haben kann.
Dalai Lama Sympathischer Schelm und Besitzer der weltweit größten Hotelaschenbechersammlung, der das erbliche Amt, die Tibeter zu knechten, vernünftigerweise den Chinesen überließ, um sich ganz seinen privaten Leidenschaften zu widmen: bezahlten Vortragsreisen und dem Sammeln von Hotelaschenbechern, die sich im Garten seiner Villa in Darjeeling schon pagodenweise stapeln sollen. Da er vom Dach der Welt kommt, verehrt ihn diese als Spezialisten für den größten Dachschaden der Welt: die Spiritualität.
Le dernier cri Das leerste aller Versprechen.
Ehe Die einzige gesellschaftlich akzeptierte Form der Asexualität.
Einfamilienhaus Postviktorianisches Spukschloss.
Emanzipation, falsche Solidarität mit den Hungernden durch Diäten, mit Sexarbeiterinnen durch Keuschheit und mit Mittellosen durch Sparsamkeit. Tritt dann ein, wenn gesellschaftliche Kämpfe von katholischen Büßern und protestantischen Asthenikern infiltriert werden, deren auffälligste revolutionäre Produktivkräfte Selbstbescheidung, Lustfeindlichkeit und Missgunst sind. Man erkennt sie schon in der Plenumsdiskussion daran, dass sie den Privilegierten Privilegien lieber wegnehmen als den Unprivilegierten geben wollen. Und verdächtig ist auch ihre Bereitschaft, bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Hungerstreik zu treten, auch und vor allem, wenn dafür kein Anlass besteht. In Revolutionen eignen sich diese düsteren Gesellen vorzüglich als Selbstmordattentäter und Märtyrer. Loswerden muss man sie aber auf jeden Fall, denn geraten sie nach gelungenem Umsturz in Machtpositionen, war alles umsonst.
Entwicklungshilfe Früher: Belieferung unterentwickelter Länder mit den Fischen, die man aus deren Gewässern gefischt hat.
Heute: Hilfe zur Selbsthilfe – die Animation unterentwickelter Länder zur Herstellung von Angelschnüren, damit sie uns irgendwann auch die restlichen Angeln abkaufen müssen.
Europa 1. In der Mythologie: eine asiatische Königstochter, die von einem griechischen Stier vergewaltigt wurde.
2. In der Realität: ein Ochse, der versucht, die nichteuropäische Welt zu vergewaltigen, und seinen Nachteil gegenüber den Stieren USA und China mit der Respektierung der Menschenrechte rechtfertigt, auf die er das Copyright beansprucht, weil er es war, an dem diese in Form seiner Kastration erstmals angewandt wurden.
Facebook Der letzte verzweifelte Versuch zweibeiniger Werbeträger, sich ihres Menschseins zu vergewissern, indem sie nicht nur Wunschbilder von sich auf elektronische Oberflächen pinseln, sondern einander mit dieser fiktiven Bedeutsamkeit multipel belästigen. Die von solch sozialem Spinnennetz Ausgeschlossenen indes freuen sich, endlich unter sich zu sein, sein zu dürfen statt repräsentieren zu müssen, und vereinbaren per kurzem Telefonat oder E-Mail Treffen mit Freunden in Lokalen, in denen es stiller geworden ist, seitdem die Friends zuhause vor dem Computer ihre elektronischen Oberflächen
aneinander reiben.
Feste Zweierbeziehung Die Flucht in ein warmes Nest, um das Fliegen zu verlernen.
ficken Eines der schönsten und kraftvollsten Wörter, die der deutschen Sprache zur Verfügung stehen: Seinen derben Charme erhält es vor allem dadurch, dass es den Bedeutungsspalt zwischen dem schönsten Vergnügen und der schlimmsten Erniedrigung des Menschen penetriert. Moralisten, die stets weniger das moralisch Schlechte als das moralisch Uneindeutige verabscheuen, bereitet es fortwährend Unbehagen. Gut so!
Freitod Ebenso verzweifelte wie mutige letzte Tat derer, die keinen Ausweg mehr fanden; und Beschämung all der Zufriedenen, die nie einen gesucht haben.
Fußgängerzone Für den Autoverkehr gesperrte Straße, damit weitsichtige Fußgänger die Schaufenster besser sehen.
Hauptbahnhof Ort, wo die Gleise zur Shopping Mall enden.
homophob Sich seiner eigenen latenten Homosexualität noch nicht bewusst, aber in Gesellschaft von Gleichgearteten bereits neugierig den Körperkontakt mit bekennenden Schwulen suchend, indem man diese zusammenschlägt.
Hypochonder Jemand, der sich anmaßt, an Krankheiten zu leiden, die sich nicht einmal die Medizin noch eingebildet hat.
Individualität Jene kurze, aber glückliche Mustang-Phase in der Geschichte der Menschen, als einige von ihnen aus
den Ställen von Religion und Kollektivzwang entwischt und noch nicht von den Zureitern der Unterhaltung und des Konsums eingefangen waren.
Israel Staat, mit dem die Juden endgültig bewiesen haben, dass sie aus ihrer leidvollen Geschichte nichts gelernt haben, angesichts der Diskrimi-nierung, welche die Minderheit der Selbstmordattentäter durch sie erfährt.
Kapitalismus Nach unzähligen Laborversuchen an Mäusen wissenschaftlich bestätigt erfolgreichste Wirtschafts- und Gesellschaftsform. Die Ratten, welche man in den Mäusekäfig setzte, setzten sich immer durch.
Katholik Christlicher Hedonist, der die Idee der Sünde kultiviert hat, um den Reiz ihrer Übertretung genießen zu können, im Gegensatz zum Protestanten, der das alles ernst nimmt. Der Katholik hat Spaß an Sex, Mord und Verschwendung, nicht obwohl, sondern weil es ihm seine Religion verbietet, während der Protestant, füchsisch schlau und ochsisch leidenschaftslos, seine Lieblingssünde, das Geldscheffeln, zur Haupttugend gemacht hat und mangels Interesse nichts riskiert bei der Vermeidung der restlichen Sünden.
Kulturhauptstadt Ein weiteres trauriges Indiz dafür, dass die Menschheit nicht dazulernt: ein Titel, der jedes Jahr einer anderen europäischen Stadt aberkannt wird.
Kurator Pilzbefall der Kunst.
Kurzweil Langeweile auf meiner Wellenlänge.
Lebensabschnittspartner Mensch, der einem ein Stück vom Leben abgeschnitten hat.
Lebensadern Beim Pilz das Mycel, beim Baum die Wurzeln, beim Embryo die Nabelschnur und beim ausgewachsenen Menschen die Marionettenfäden, die ihn an Anerkennung, Macht und Subvention binden.
Meinungsträger Schnäppchenjäger beim saisonalen Abverkauf des Bildungsramschs.
Mordsspaß Wesensmerkmal und einziges Beispiel deutschen Humors.
Nachwelt Verehrer verblichener Außenseiter und Missachter der verbleichenden.
Nationalität Tierärztliche Marke, an der sich erkennen lässt, in welchem Stall man gehalten wird.
Neoliberalismus Vorherrschende Wirtschafts-, Denk- und Bewusstseins-form, die auf einer klitzekleinen Modifikation der christlichen Eschatotogie beruht: Die Ersten werden die Ersten sein, die Letzten das Letzte.
Princip, Gavrilo Früher Märtyrer der Ökobewegung, der dem Tiermörder Franz Ferdinand das Handwerk legte, ehe
der auch das 274.512. Wildtier seiner Jägerlaufbahn massakrieren konnte.
Satellitenbild Utopisch verfälschtes Bild der Erdoberfläche, weil es diese ohne politische Grenzen darstellt.
Selbstkritik Eine Nadel, mittels welcher der Eindruck erweckt werden soll, man setze sie seinem Selbst an, sobald es sich zu sehr bläht. In Wirklichkeit: die Brosche, welche die hohe Meinung von sich kleidsam macht.
Schuberth, Richard Ein fideles Kerlchen, das sich die fiesesten Beleidigungen erlauben darf, ohne Lynchung oder gar Streichung von der Gästeliste fürchten zu müssen, weil sie die Menschen, die damit gemeint sind, nie auf sich, sondern immer auf ihre Nachbarn beziehen.
Tabubruch Künstlerisches Mittel von lachhafter Harmlosigkeit. Die Tabubrecher von heute klopfen an den offenen Türen, die sie einrennen, sogar an.
Tradition ... ist nicht die Anbetung der Asche, sondern des künstlichen Feuers im Elektrokamin.
Treue Übereinkunft zweier Beziehungspartner, auch mit anderen Menschen nicht zu schlafen.
Twitter Gradueller Fortschritt in der Evolution sozialer Netzwerke, der sich der Einsicht, einander nichts zu sagen zu haben, mit der Beschränkung auf 140 Zeichen schon vielversprechend nähert.
Unreif Das vernichtende Urteil des Fallobstes über die Früchte, die hoch oben am Baum noch der Sonne entgegenlachen.
Urban Gardening Widerstandsbewegung der reichen Städte des Nordens, deren gesamtes Selbstverständnis auf der falschen Wiedergabe eines Zitats Martin Luthers beruht: Und könnte ich verhindern, dass morgen die Welt untergeht, würde ich stattdessen heute noch ein Bäumchen pflanzen.
Veganismus Spielart des Vegetarismus, die völlig auf den Verzehr tierischer Produkte verzichtet. Besonders ermutigt wurden ihre Anhänger durch den grauenvollen Märtyrertod von deren Begründer Donald Watson, den dieser im brasilianischen Urwald fand, als er ein Papageienei aus dem Rachen einer fleischfressenden Pflanze retten wollte.
Wahlbetrug Der Betrug deiner Wahl.
Wellness Menschen das ihnen geklaute Behagen als Ware wieder andrehen.
Weltschmerz Leiden an seelischer Obdachlosigkeit, das sofort verfliegt, sobald man sich die Miete nicht mehr leisten kann.
Zölibat Widernatürliche Drosselung priesterlicher Brunst, die sich meistens als Kuttenflecksuppe entlädt.
Zypressen Bewohner der Republik Zypern, die bis zum Rettungspaket der EU im Jahr 2013 Zyprioten hießen.
Zyste Altgriechische Bezeichnung fürs menschliche Hirn.
Richard Schuberth
Das neue Wörterbuch des Teufels
Klever Verlag, 240 Seiten, 19,90 Euro